Verbrechen und Wahrheit (eBook). Alex Marzano-Lesnevich
Stimmen der Suchenden, die einander zurufen, hört sie das Tuckern eines Lastwagenmotors. Sie weiß, dass sie in der Nähe sind, aber dennoch scheinen die Geräusche weit fort zu sein, klingen seltsam gedämpft.
So wie das feuchte, verrottende Laub auf dem Boden der kleinen Schlucht, in der Jeremy immer spielt, alles dämpft. Dieses Laub macht ihn jedes Mal fürchterlich schmutzig, aber heute Nacht ist sie froh darüber, dass es so weich ist. Sie muss an ihn denken, wie er dort liegt – seine Wange gemustert von den kleinen Zweigen, wie sonst von den Falten in seinem Kopfkissen. Sie denkt daran, wie ihm seine Haare in die Stirn fallen, wenn er zu müde ist, um sie zurückzustreichen. Jeremy schläft auf der Seite wie ein junger Hund, die Arme und Beine weit von sich gestreckt. Sein rosa Mund steht offen, und sein Atem geht in kleinen Stößen. Sie hat ihn so oft beim Atmen beobachtet, als er noch ein Baby war. Alle Mütter tun das, denkt sie, aber es fühlte sich trotzdem wie ein Wunder an, wie er einfach immer weiteratmete.
Sie schüttelt den Gedanken ab. Über den Baumkronen verbindet sich das Licht der Scheinwerfer zu bewegten Mustern, und sie sieht zu, wie sie sich verändern. Richard sagt, am Morgen werden sie Helikopter einsetzen, um die Suche fortzuführen. Warum setzen sie die nicht jetzt schon ein, wo ihr Junge alleine und frierend in der Dunkelheit da draußen ist, fragt sie sich.
»Wollen Sie was trinken?« Sie blickt auf, und der Mann vom Nachmittag steht am Rand der Veranda. Es dauert einen Moment, bis sie ihn erkennt; der Nachmittag liegt so weit zurück. Das war damals, vor alldem hier.
»Ricky, oder?«, fragt sie.
»Ja, Ma’am«, sagt er. Er hält eine Flasche in der Hand und streckt sie ihr einladend hin. Hinter ihm wabert die Dunkelheit des Waldes wie Nebel. Es ist, als wäre er aus dem Nichts an sie herangetreten.
Lorilei trinkt keinen Alkohol. Sie hat seit Jahren keinen getrunken. Früher hat sie öfter über die Stränge geschlagen, und die Verhaftungen brachten ihr eine Erwähnung in der Lokalzeitung ein. Ihr Name stand mit einem knappen »L. Guillory« im Polizeibericht. Aber als Jeremy geboren wurde, hörte sie auf. Sie wollte für ihn das Richtige tun. Jetzt hat sie ein neues Baby in ihrem Bauch, auf das sie achten sollte; sie ist im dritten Monat.
Doch sie hat so viel Angst um Jeremy, und die bernsteinfarbene Flüssigkeit in der Flasche glänzt so verlockend im Licht. Jeremys Vorschulklasse hat heute einen Ausflug ins Wissenschaftsmuseum in Lake Charles gemacht. Es war die gleiche Exkursion, an der sie in seinem Alter teilgenommen hat, und vielleicht lässt der warme Glanz des Getränks sie an die Fossilien denken, die sie damals gesehen hat. Es ist eine seltsame Nacht, Jeremy ist weg, alle Nachbarn suchen nach ihm, eine Nacht, die aus der Zeit gefallen ist. Eine Nacht, die für immer andauern könnte, aufgehoben wie ein Insekt im Bernstein. Jeremy für immer irgendwo da draußen, sie für immer auf der Veranda, wartend. Sie muss nur diese eine Nacht überstehen.
Sie nimmt die Flasche. Es stehen noch ein paar Zentimeter Flüssigkeit darin. »Danke«, sagt sie.
Der erste Schluck ist scharf und glatt wie Glas. Er rinnt durch ihre Kehle und rollt sich warm in ihrem Magen zusammen.
Der zweite Schluck ist süß. Sie nimmt einen dritten.
»Tut mir leid, dass sie Ihren Jungen nicht gefunden haben«, sagt Ricky. Im Licht auf der Terrasse sind seine Brillengläser trüb.
Sie sagt nichts.
»Es klingt, als ob die Leute richtig intensiv suchen«, sagt er.
Lorilei ist müde. Sie will nicht reden, also schweigt sie. Sie lehnt sich nur gegen die Brüstung, lange, mal mit geschlossenen Augen, wenn sie die Stille nicht ertragen kann, mal mit offenen, wenn sie die Schwärze nicht aushält. Der Schnaps ist ausgetrunken, ehe sie sich’s versieht. Der Mann bleibt am Rand der Wiese, die Hände in den Taschen seiner khakifarbenen Hose, und schweigt. Es ist ein gemeinsames Schweigen. Fast könnten sie Freunde sein.
Später kann sie nicht mehr sagen, wie viel Zeit vergangen ist, als er hüstelt, ein höflicher Laut, als wollte er vermeiden, sie aufzuschrecken. »Also«, sagt er dann, »ich geh besser wieder rein. Ich hoffe wirklich, sie finden ihn.«
4
New Jersey, 1983
Sobald wir uns in unserem neuen Haus eingerichtet haben, kündigt mein Vater den Job als Anwalt im Staatsdienst und eröffnet eine eigene Kanzlei. In der nahe gelegenen Stadt Teaneck mietet er im ersten Stock eines anderen grauen viktorianischen Hauses ein Büro. Er kauft ein schwarzes Metallschild, vierzig Zentimeter lang, zwanzig breit, und lässt die Worte »Andrew Robert Lesnevich« eingravieren, gefolgt von dem Wort, für das er so hart gearbeitet hat: Esquire. Das Schild ist das erste von vielen, die noch folgen werden. Er bringt es an der Tür an und wartet darauf, dass jemand mit einem Fall zu ihm kommt.
Und schließlich kommen Klienten, eine Parade der Glücklosen und Törichten, die in der Kanzlei jedes Kleinstadtanwalts für Arbeit sorgen: die Hausfrau mit dem heimlichen Hang zum Alkohol, die sich ans Steuer setzt und nicht zugeben will, dass sie nicht nur aus Erschöpfung einnickt. Der alte Mann, der auf dem vereisten Gehweg des Ladeninhabers in der Innenstadt ausrutscht, und die jugendliche Ladendiebin, deren gierige Hände, die sonst so flink sind, sie schließlich verraten. Mein Vater ist keine Klatschtante; er ist vertrauenswürdig, und es gefällt ihm, diese Position einzunehmen, mit einem Fuß in dem Gewebe, das all diese Leben verbindet. Er wird gebraucht, aber nicht zu sehr. Vor allem wird er bewundert. Die Jahre, die er bei der Air Force verbracht hat, haben ihm einen aufrechten Gang und eine Autorität verliehen, die es ihm erlauben, sich scheinbar mühelos der Geschichten anderer anzunehmen.
Jura war nicht seine erste Wahl. Mein Vater träumte als Junge davon, Kampfflugzeuge zu steuern. Sein eigener Vater war während des Zweiten Weltkriegs auf See umgekommen. Seine Mutter traf sich niemals wieder mit einem anderen Mann, und durch das Vermächtnis seines Vaters schien eine Karriere beim Militär geradezu sein Geburtsrecht zu sein. Doch er hatte Plattfüße, war eins fünfundneunzig groß und farbenblind – keine Chance, ein Kampfflieger zu werden. Immerhin konnte er Tennis spielen. Er ging zur Air Force und saß den Vietnamkrieg an einem Schreibtisch in den Tropen aus, wo er Dokumente stempelte, immer und immer wieder, und in dreifacher Ausführung unterschrieb, wie um sein Handgelenk für die Tennisplätze zu trainieren, auf denen er seine Gegner von der Marine und der Armee schlug. Nachdem seine aktive Zeit beim Militär vorüber war, stellte sich die Frage nach seiner Zukunft. Er hatte Geologie studiert, im Masterstudiengang Psychologie. Er konnte sein Studium wieder aufnehmen. Womöglich konnte er Wissenschaftler werden. Vielleicht auch Lehrer.
Aber er wollte ebenso wenig an einem Labortisch stehen wie an einem Schreibtisch sitzen. Wenn er schon kein Pilot sein konnte, dann wollte er eine öffentliche Bühne. Er wollte vor Publikum stehen und allen zeigen, dass der kleine vaterlose Andrew aus Cliffside Park, New Jersey, es geschafft hatte.
Wann immer mein Vater an dieser Stelle seiner Erzählung anlangt – einer Erzählung, der ich oft zuhöre –, wird seine tiefe Stimme eindringlicher, sein Tonfall gemessener. Mein Vater ist ein Geschichtenerzähler. Er bestreitet seinen Lebensunterhalt damit, einer Jury Geschichten zu erzählen, und er erzählt sie uns, wenn wir um den massiven weißen Kunststofftisch sitzen, der so groß ist, dass er ihn zu einem Sonderpreis bekommen hat; keine andere Familie wollte ihn haben, sagt er. Für uns ist er perfekt. Mein Vater sitzt auf der einen Seite, flankiert von zweien von uns Geschwistern, meine Mutter auf der gegenüberliegenden zwischen den anderen beiden. Die Kanten des Tisches sind abgerundet, sodass Elize, die Jüngste, die gerade erst richtig laufen lernt, sich nicht verletzen kann, wenn sie dagegenstößt. Um diesen Tisch sitzend sind wir sein Publikum, und sein Leben liefert den Text des Dramas. Während ich ihm als Kind lausche, stelle ich mir immer vor, dass die Weggabelung, die er beschreibt, wirklich eine ist: eine einspurige Straße irgendwo im östlichen Missouri, kein Auto außer dem seinen, dessen gelbe Scheinwerfer die einzige Orientierung in der Nacht bieten. Von seinem Platz hinter dem Steuer aus sieht mein Vater, wie sich die Straße vor ihm gabelt. Zu seiner Linken der Westen. Wenn er links abbiegt, wird ihn das aus den Klauen seiner Mutter befreien. Es wird ihn vor der Depression retten, die begonnen hat, ihn ebenso heimzusuchen wie sie; vor dem Gefühl, dass seine enge Verbindung zu ihr nach dem Tod seines Vaters sein Schicksal ist, dass sein Leben seit frühester Kindheit