Verbrechen und Wahrheit (eBook). Alex Marzano-Lesnevich
gefunden.«
»Er ist bestimmt ertrunken. Viele Kinder ertrinken dort in der Gegend.«
»Dann hätten sie ihn auch schon gefunden.«
»Vielleicht«, antwortete Lucky. Mehr schien er nicht sagen zu wollen.
Dixon wartete eine Weile und wählte seine Worte dann mit Bedacht: »Wenn ihr die Leiche bis morgen früh nicht findet, wird das FBI sich intensiver mit der Sache befassen müssen.«
Nach dem Mord an Charles Lindberghs Baby war das Bundesgesetz zum Kidnapping in Kraft getreten, demzufolge nach vierundzwanzig Stunden von der Vermutung auszugehen ist, dass ein vermisstes Kind über die Grenze in einen anderen Bundesstaat gebracht wurde. Jeremy wurde bereits seit sechsunddreißig Stunden vermisst.
Sehr bald würde es nicht mehr Luckys Fall sein.
»Das weiß ich«, sagte Lucky.
»Sie werden die Sache an sich ziehen.«
»Ich weiß.« Lucky spielte an seinem Gewehr herum, entsicherte es und legte an. Keine Spur von den Gänsen. Er nahm die Jagdbeute ins Visier, die sich noch nicht blicken ließ. »Okay, morgen vernehme ich die Mutter.«
An diesem Abend, nachdem Lucky und Dixon zusammengepackt hatten, ohne dass die langen Stunden in den Gräben ihnen irgendeinen Erfolg beschert hätten, machte Lucky auf dem Weg nach Hause bei der Polizeiwache halt. Er wollte noch ein wenig Papierkram erledigen und alles für das Gespräch mit der Mutter am nächsten Tag vorbereiten. Er saß am Schreibtisch, und die einsame Schreibtischlampe warf ein warmes gelbes Licht auf die Akten vor ihm, als das Telefon klingelte. Am anderen Ende der Leitung war eine Bewährungshelferin. »Ich hab von dem vermissten Jungen bei Ihnen gehört«, sagte sie mit einer stark näselnden Stimme. »Es gibt da einen Mann, über den Sie Bescheid wissen sollten, er ist auf Bewährung draußen; saß in Georgia wegen Kindesmissbrauch. Nicht mein Fall, eigentlich – die haben von Georgia niemals irgendwelche Unterlagen geschickt; das letzte Mal habe ich ihn im Dezember gesehen. Danach ist er verschwunden.«
Viele Männer entzogen sich dem Bewährungsprozess. Sie meinte es sicher gut, aber wahrscheinlich hatte es nichts mit der Sache zu tun.
»Was ist die letzte Adresse, die Sie von ihm haben?«
»Lassen Sie mich nachschauen«, sagte sie. Lucky hörte das Rascheln von Papier. »Er hat bei seinen Eltern in Iowa gelebt. Iowa«, wiederholte sie. »Sie sprechen das komisch aus da drüben, nicht? Hier steht, er hat eine Vorliebe für Jungen im Alter von ungefähr sechs Jahren. Wie alt ist der Junge, den Sie suchen?«
Luckys Herz begann schneller zu schlagen. »Sechs.«
»Vielleicht sollten Sie versuchen, ihn zu finden«, riet sie ihm. »Er heißt Ricky Langley.«
Es ist kurz nach zehn Uhr am Montagmorgen, als Lucky und Dixon auf den Parkplatz der Tankstelle fahren. Der Himmel ist von klarem, leichtem Blau. Sie haben einen Haftbefehl bei sich, auf dem die Tinte der richterlichen Unterschrift noch kaum getrocknet ist – gegen Ricky Langley, wegen seines Verstoßes gegen die Bewährungsauflagen in Georgia. Dixon steigt aus dem Auto. Er sieht einen jungen Mann mit Segelohren, der auf einem Traktor sitzt und damit Muschelkalk auf dem Boden verteilt. Dixon bedeutet ihm, den Traktor abzustellen.
»Steigen Sie ab«, sagt er. Er mustert den Mann. Braune Haare, ziemlich dürr, Brille. »Ich bin Agent Dixon, und das ist Detective DeLouche. Sind Sie Ricky Langley?«
»Ja, Sir.«
Lucky hat bisher nichts gesagt, aber jetzt kommt er direkt auf Ricky zu. »Sie haben das Recht zu schweigen«, sagt er. Staub wirbelt von den zerstoßenen Muscheln auf, als er darüberläuft. »Sie haben das Recht auf einen Anwalt. Wenn Sie sich keinen Anwalt leisten können, wird Ihnen einer gestellt.« Ricky antwortet nicht, und Lucky hört nicht auf zu reden. »Verstehen Sie diese Rechte, die ich Ihnen gerade erklärt habe?« Er steht jetzt vor Ricky.
»Ja, Sir.«
»Wir werden Ihnen jetzt einige Fragen stellen«, sagt Lucky. »Sie kommen mit uns.«
Ricky wird plötzlich so still wie ein gejagtes Tier, das in die Falle gegangen ist. Dann senkt er den Blick – und das, wird Dixon später sagen, überzeugt ihn davon, dass sie den richtigen Mann gefunden haben. Wenn einer schuldig ist und bereit ist, zu gestehen, senkt er den Blick.
Schließlich sagt Ricky: »Ich hab meine Jacke da drin.«
»In der Tankstelle?«
»Ja.«
»In Ordnung, wir holen sie.«
Lucky geht zum Tankstellengebäude, um Rickys Jacke zu holen und die Stempelkarten zu untersuchen, die ihnen zeigen werden, wann Ricky an dem Tag, an dem Jeremy verschwand, in der Arbeit war. Dixon führt Ricky zum Streifenwagen. Er hätte ihm, wenn nötig, Handschellen angelegt, aber Ricky geht freiwillig mit, ein paar Schritte vor Dixon. Beide Männer gehen steifbeinig, ihre Körper sind wachsam und unter Hochspannung, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Die Februarluft ist so kalt und trocken wie ein leerer Raum. Als sie am Auto ankommen, beugt sich Dixon vor, öffnet die hintere Tür und bedeutet Ricky einzusteigen. Er gehorcht. Dixon schließt den Sicherheitsgurt und sagt noch einmal: »Sie haben das Recht zu schweigen.« Seine Stimme klingt hart. Ricky lässt den Kopf wieder sinken. »Sie haben das Recht auf einen Anwalt.« Dixon sagt das alles zum zweiten Mal. Die Verhaftung muss absolut wasserdicht sein. »Verstehen Sie diese Rechte, wie ich sie Ihnen erklärt habe?«
»Ja«, antwortet Ricky. Er klingt elend.
Dixon setzt sich ans Steuer. Im Rückspiegel betrachtet er Ricky. Er registriert – dafür wurde er geschult –, dass Rickys Halsschlagader unter dem gesenkten Kinn heftig und schnell pulsiert. Registriert die Spannung in seinen Halsmuskeln und die zu Fäusten geballten Hände. Ricky sieht aus wie ein Mann, der sich verzweifelt wünscht, dass der gegenwärtige Augenblick nicht wahr ist.
Das ist der geeignete Moment, beschließt Dixon.
Er wendet sich zu ihm um. »Also, Ricky«, sagt er. Er kann Rickys Gesicht nicht sehen, nur seinen Scheitel, sein dunkles Haar. »Ich will, dass du mir in die Augen siehst, von Mann zu Mann.«
Ricky rührt sich nicht.
»Von Mann zu Mann, Ricky.« Dixon lässt seine Stimme ruhig und unbewegt klingen. Bei jemandem wie Ricky, der sein ganzes Leben als seltsam galt, einem Außenseiter, einem, den niemand respektiert, muss man ruhig klingen, das weiß Dixon. Als würde man ihn ernst nehmen. »Sieh mich an, Ricky.«
Einen kurzen Moment blickt Ricky auf, und als er seine Augen sieht, weiß Dixon Bescheid. Die Pupillen sind geweitet. Dixon hat ihn.
»Ich will, dass du mir in die Augen siehst« – Ricky schaut weg – »nein, ich will, dass du mir in die Augen siehst, Ricky, und mir sagst, ob du irgendetwas über das Verschwinden von Jeremy Guillory weißt.«
Ein Schauer rieselt über Rickys Schultern. Wie das Zittern, das durch einen Körper geht, der den Kampf aufgibt.
Dann, plötzlich: »Ich war es.« Ricky atmet aus. »Ich hab’s getan, ich hab’s getan, ich weiß nicht, warum, aber ich hab’s getan.« Er verbirgt das Gesicht in den Händen. Einfach so. So einfach. Drei Tage, und dann ist es plötzlich vorbei. Schluss.
»Wo ist die Leiche?«, fragt Dixon.
»Im Schrank. In meinem Schlafzimmer.«
Ohne ein weiteres Wort dreht sich Dixon nach vorn und steigt aus dem Wagen. Steigt aus und verriegelt die Tür hinter sich.
Ricky, der gerade einen Mord gestanden hat, bleibt allein im Auto zurück.
Woran denkt er? In jener Nacht, in der Nacht nach dem Mord an Jeremy, ging Ricky alleine im Dunkeln hinauf in sein Schlafzimmer. Nachdem all die Eltern ihre Kinder abgeholt hatten und mit ihnen nach Hause gegangen waren, und nachdem Pearl ihm gesagt hatte, er solle besser die Stadt verlassen, und ihr Gesicht abgewandt hatte, als könne sie es nicht ertragen, ihn anzusehen, und nachdem sie sich neben ihrem Ehemann auf der Matratze im Wohnzimmer schlafen gelegt hatte. June