Verbrechen und Wahrheit (eBook). Alex Marzano-Lesnevich

Verbrechen und Wahrheit (eBook) - Alex Marzano-Lesnevich


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auf meinen Brustkorb.

      Dann überschreitet der Sommer seinen Zenit und beginnt seinen langsamen Abstieg in Richtung Herbst. Im Gemüsegarten, den mein Vater angelegt hat, schießt das Basilikum in die Höhe. Die Rankgitter biegen sich unter dem Gewicht der Bohnen, deren Samen schwer herabhängen, und die Salatköpfe in ihren ordentlich angepflanzten Reihen werden fett und rund. Der Mais steht aufrecht, während die Sonnenblumen die Köpfe hängen lassen. Eine nach der anderen schneiden wir sie ab, und meine Mutter röstet die Blüten im Ofen, bis die Sonnenblumenkerne die Küche mit ihrem nussigen Duft erfüllen. Jeden Abend kommt jetzt das, was wir gemeinsam essen, aus dem Garten; es ist wie ein Wettrennen, bei dem wir versuchen, der Überfülle Herr zu werden, ehe alles verdirbt.

      An einem dieser Abende sitzt meine Mutter in einem ärmel­losen weißen Sweatshirt am Ende des Campingtischs. Ihre Arme sind braun von der Sonne. Ich bekomme als Kind immer Sonnenbrand, aber als ich etwa dreißig bin, werde auch ich auf einmal braun, egal, wie oft am Tag ich mich mit Sonnencreme einreibe – als ob sich meine Haut plötzlich zu meiner Mutter bekennen wollte. Mein Vater hat ihr gegenüber auf einem Stuhl Platz genommen, den wir herangezogen haben. Meine Geschwister und ich sitzen auf den Bänken, zwei auf jeder Seite. Mir fällt auf, dass das immer so ist, dass wir perfekt um unsere Besitztümer passen, dass da niemals mehr Platz ist, als wir sechs brauchen. Meine Mutter tischt Nudeln auf, Pesto, Zucchini mit Parmesan und Oregano. Der Geschmack – süß und klar und würzig – bleibt sich immer treu: Es ist der Geschmack des vergangenen Sommers und des Sommers davor und der Sommer, die kommen werden.

      Aber diesmal legt sie den Servierlöffel plötzlich fort und sieht in die Runde.

      Wie sie anfängt, welche Worte sie genau benutzt, weiß ich nicht mehr. In unserem Haushalt ist mein Vater sowohl der tragende Balken als auch die Axt, sowohl der zerklüftete Felsen als auch die Brandung, die sich dagegenwirft, und als Kind sind meine Antennen immer auf ihn eingestellt, auf seine Worte und seinen Gemütszustand, niemals auf meine besonnene Mutter. Der Abendbrottisch untersteht seinem Kommando, hier hält er Hof, erklärt er uns die Welt, redet er über Politik und fremde Länder und die Werte, die er uns vermitteln will. Meine Mutter ist ruhig. Jahre werden vergehen, ehe mir klar wird – mit einem Ruck, als ob mein Blick auf die eigene Welt plötzlich einen neuen, scharfen Fokus bekommt –, wie klug sie ist.

      »Hörst du mir zu?«, fragt sie mich an diesem Abend. »Dein Vater und ich haben euch etwas zu sagen.«

      Was für ein gewichtiger Satz. Seine Ernsthaftigkeit ist wie ein Warnschild. Etwas in ihrer Stimme sagt mir ganz deutlich: Was immer sie zu sagen hat, ich will es nicht hören. Die Luft schwirrt ohnehin schon von so viel Ungesagtem, und ich bin bis zum Rand angefüllt mit meinem eigenen Geheimnis. Etwas schnürt mir die Kehle zu. Kann sie nicht sehen, dass diese Nacht licht ist, mit einer sanften Brise und dem Widerschein der untergehenden Sonne? Geigenmusik von Vivaldi strömt aus den Lautsprechern, die mein Vater in den Zweigen der Bäume angebracht hat. Niemand streitet, mein Vater schreit nicht, und meine Großeltern sind weit weg, jenseits der Brücke in New York.

      Mach es nicht kaputt, denke ich.

      »Ich brauche einen Pullover«, sage ich. Ich stürze mich mit triumphierender Stimme in diese Erwiderung, die mir wie ein Erfolg vorkommt.

      »Muss das gerade jetzt sein?«, fragt sie.

      »Mir ist kalt.«

      Sie seufzt. »Beeil dich.«

      »Mir ist auch kalt«, sagt meine kleine Schwester Elize.

      »Dann bring deiner Schwester auch einen Pullover mit«, fordert meine Mutter mich auf. »Nimm einfach den erstbesten, den du finden kannst, es ist nicht so wichtig.« Ihre Stimme ist abgehackt und barsch – es ist die Spannung, denke ich später, der Versuch, noch eine Minute lang zurückzuhalten, was schon viel zu lange unterdrückt worden ist.

      Das Haus versinkt um mich herum in formlosen Schatten. Im Halbdunkel ist das einzige Geräusch, das ich hören kann, das immer gleiche geisterhafte Knarren in den Wänden, die sich setzen, und das ständige Schwirren des Deckenventilators, dessen metallene Rillen sich oben über dem Treppenabsatz öffnen und schließen. Ich gehe diese Treppe im Dunkeln niemals alleine hinauf. Es ist undenkbar. An den Abenden, an denen wir unten in der Küche essen und eines meiner Geschwister das untere Bad benutzt, sagt mir meine Mutter manchmal, ich solle nach oben gehen. Dann verlasse ich die Küche und warte still in der Dunkelheit des Esszimmers, zähle langsam bis vierzig und gehe dann wieder hinein. Manchmal trete ich mit den Füßen fester und dann weniger stark auf, dann wieder stärker, damit es klingt, als ob ich mich entferne und wieder näher komme. Manchmal sagt sie, wenn ich mich wieder an den weißen Küchentisch setze: »Das ging ja schnell«, und dann warte ich beim nächsten Mal länger. Ich kann ihr nicht erzählen, warum ich einfach nicht nach oben gehen kann.

      Ein paar Jahre später, wenn ich in der fünften Klasse bin, werde ich im Zimmer der Schulpsychologin sitzen. Es ist eine Routine­angelegenheit, eine Besprechung mit jeweils zwei Kindern, die nach dem Alphabet ausgewählt wurden. Der Junge, der mit mir im Raum ist, gehört zu den beliebten Schülern: hochgewachsen, agil und braun gebrannt, einer, der den Fußball genau so trifft, dass er hoch und weit durch die Luft fliegt.

      »Und, seid ihr aufgeregt, dass ihr nächstes Jahr in die Mittelschule kommt?«, will die Psychologin wissen.

      Der Junge sieht sie an, als wäre sie verrückt. Er weiß schon jetzt, dass er nie wieder so beliebt sein wird wie jetzt.

      »Ich freue mich«, platze ich heraus. »Da werden so viele Kinder sein.«

      Sie lächelt mich an.

      »Da kann ich mich unsichtbar machen«, sage ich.

      Mich unsichtbar machen können, das ist es, was ich mir jedes Mal wünsche, wenn mein Großvater sich auf meine Bettkante setzt. Seine braunen Augen blicken in meine, dann verzieht er das Gesicht und spuckt seine Zähne auf seine Handfläche. Er hält sie mir hin. Die Prothese glänzt wie eine Kreatur aus dem Meer. Er grinst. Sein Mund ist plötzlich ein feuchter, pinkfarbener Rand um ein schwarzes, leeres Loch herum. »Siehst du«, sagt er, obwohl er mir das schon oft gezeigt hat. »Ich bin eine Hexe. Vergiss das nicht. Wenn du irgend­jemandem etwas verrätst, werde ich kommen und dich holen. Immer. Sogar, wenn ich tot bin.«

      Ich drehe meinen Kopf weg und richte meine Augen auf den gelben Rock einer Puppe, die gleichzeitig eine Lampe ist. Ihr Körper erhellt den Rock, lässt ihn zu einem formlosen, hellen Gelb verschwimmen. Es brennt im Dunkel des Raumes, und während er seine falschen Zähne auf den Nachttisch legt und seine Hände nach dem Saum meines Nachthemds tasten und dann den Stoff von meinen plötzlich ganz kalten Beinen heben, starre ich in das Gelb und versuche, in der Flamme aufzugehen, mich aufzulösen. Seine Hand wandert auf meinem Bein nach oben. Mit der anderen zieht er den Reißverschluss seiner Hose herunter. Ich blicke das Licht so starr an, dass die Luft um mich herum in Stücke bricht, zerbirst. Ich fühle, wie er meine Unterhose herunterzieht. Ich fühle seine Finger. Die Luft zersplittert in einzelne Moleküle. Es ist wieder kalt zwischen meinen Beinen, seine Hand hat sich bewegt – und dann ist sie zurück, umklammert einen dicken Teil von ihm. Er hält meine Beine auseinander. Er reibt sich an mir.

      Um mich herum drehen sich die Moleküle in einem wilden Strudel. Ich fühle, wie ich mit ihnen zerbreche.

      Noch heute hasse ich die Farbe Gelb.

      Aber als das Kind, das barfuß in dem dunklen Esszimmer steht, während draußen der Sommerabend langsam sein Licht verliert, habe ich mehr Angst vor dem, was meine Mutter sagen wird. Und deshalb gehe ich.

      Ich haste die Treppe hinauf und versuche, das Knarren der Stufen nicht zu hören. Stattdessen zwinge ich mich, mich auf das Surren des Ventilators zu konzentrieren. Seine Rillen öffnen und schließen sich in einem langsamen Brüllen, sein Atem ist ein kaltes Nichts da­runter. Das Schlafzimmer meiner kleinen Schwester erinnert an einen Dachboden; es hat eine schräge Wand und ist eigentlich ein Korridor. Ich muss durch ihr Zimmer hindurchgehen, um in meines zu kommen. Es ist derselbe Weg, den mein Großvater nimmt, wenn er nachts nach oben kommt. Auf ihrer Kommode liegt ein flauschiger Pullover von der Farbe eines Kükens; seine Ärmel sind nach hinten gefaltet wie Flügel. Ich bleibe stehen. Das


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