Verbrechen und Wahrheit (eBook). Alex Marzano-Lesnevich

Verbrechen und Wahrheit (eBook) - Alex Marzano-Lesnevich


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befindet sich ein Bündel Decken, die gar nicht danach aussehen, als würden sie einen Körper verbergen. Einfach nur nach einem Bündel. Er wartet, bis er den Kameramann hinter sich weiß, dann nickt er. Der Kameramann startet die Aufnahme wieder. Lucky spricht langsam und deutlich. »Es ist 15.35 Uhr. Wir sind wieder in dem Raum. Es ist der 10. Februar 1992. Wir sind wieder im südöstlich gelegenen Schlafzimmer von Ricky Langley, unsere Fotografen sind mit ihren Aufnahmen fertig, und wir werden jetzt die Decke oder Überdecke entfernen oder was auch immer Ricky Langley benutzt hat, um die Leiche zu verbergen.«

      Er leuchtet mit der Taschenlampe ins Innere des Schrankes. Der Lichtkegel lässt das Bündel gelb aufleuchten, ehe er weiterwandert, damit die Kamera den Umriss aufnehmen kann. Lucky tritt zurück ins Bild und fasst in den Schrank. »Wir nehmen das – ich lege hier einen Vorhang oder eine Tagesdecke in diese Tüte.«

      Die Aufnahme ist von diesem Punkt an umständlich. Lucky kommentiert jeden Handgriff. Er will es offensichtlich um jeden Preis richtig machen. Lage um Lage entfernt er und zeigt der Kamera jedes Mal die entsprechende Decke, ehe er sie in die Plastiktüte packt.

      Aber sehen Sie diesen ersten Sack, der dort in der Ecke darauf wartet, versiegelt zu werden, den Plastiksack mit der Aufschrift »Beweismaterial«, der keinen Zweifel daran lässt, was in der Tüte ist? Diese Tüte wird falsch beschriftet und mit einer anderen verwechselt werden, in der sich Kleidungsstücke befinden, die später sorgfältig von Jeremys Körper heruntergeschnitten werden. Sehen Sie den Sack, den Lucky als Nächstes füllt? Auch er wird falsch beschriftet und zusammen mit einer Tüte aufbewahrt werden, in der sich nichts von Bedeutung befindet.

      Ich habe eine Kopie dieser Aufzeichnung gesehen. Ich habe zugesehen, wie Ricky und Lucky die Stufen zum Haus der Lawsons hinaufgegangen sind, habe Ricky in Handschellen zu derselben Haustür gehen sehen, vor der Jeremy ein paar Tage zuvor stand. Das Geständnis, das man mir in der Anwaltspraxis zeigte, das Band, das mich überhaupt erst auf diese Geschichte aufmerksam gemacht hat, wurde unmittelbar danach aufgenommen, nachdem Dixon und Lucky Ricky zurück zur Polizeiwache gebracht hatten. Ricky sah aus wie ein Kaninchen, seine Augen schossen unruhig hin und her, und er hielt seine gefesselten Hände unbeweglich im Schoß. Der Rest seiner Worte erreicht mich in einzelnen Erinnerungsfetzen, als könnte mein Körper das alles nur in geringen Dosen ertragen, immer nur ein kleiner Schluck, gefolgt von Schwärze.

      Nur das Transkript – wenn ich es mir jetzt ansehe – bringt die Erinnerung dazu, sich zu setzen.

      Die blaue Decke ist die letzte Lage, die Lucky entfernt und in die Kamera hält. »Um den unteren Teil der Leiche ist eine blaue Decke gewickelt, mit irgendeiner bunten Figur darauf, vielleicht Dick Tracy, die ein Gewehr in der Hand hat. Jetzt entfernen wir die Decke, um das Opfer ganz sehen zu können.«

      Die Kamera hält sich nicht mit diesem Anblick auf. Sie streift das blonde Haar und strauchelt dann im Angesicht des Jungen. Aber in diesem Augenblick befindet sich auf Jeremys Lippe – zu klein, als dass die Kamera es erfassen würde, und überhaupt schaut niemand so genau hin, keiner will die Leiche so genau anschauen –, in diesem Moment befindet sich auf Jeremys Lippe ein einzelnes dunkles Schamhaar.

      Später werden Proben aus Jeremys weißem T-Shirt geschnitten, Beweisstücke, an die sich Calton Pitre noch nach Jahrzehnten erinnern wird, und ihre Untersuchung ergibt, dass sich Spermaspuren auf dem T-Shirt befinden. Das Sperma wird als Rickys identifiziert. Aber dieses Haar auf der Lippe? Es stammt nicht von Ricky. Sie testen es zweimal, und zweimal kommt dasselbe Ergebnis zurück: nicht Rickys.

      Ricky hat Jeremy getötet; daran gibt es keinen Zweifel. Und das Schamhaar könnte einfach von einer Decke abgefallen sein. Aber diese Decken gehören nicht alle Ricky, dazu sind es zu viele. Sie müssen auch von Joeys und Junes Bett stammen. Vielleicht ist das Haar in der Wäsche darauf gekommen.

      Vielleicht aber auch nicht. Gehört das Haar zu Terry, der in diesem Moment noch am Leben ist, seinen Sohn noch nicht auf einen Motorradausflug mitgenommen hat und sich nicht im Haus, sondern an einem unbekannten Ort aufhält, während die Polizei ihre Suche vornimmt? Gehört das Haar also nicht dem verurteilten Sexualstraftäter, dem, von dem man weiß, wie gefährlich er ist, sondern dem Vater, der im Geheimen vielleicht ebenfalls ein Raubtier ist?

      Lucky redet weiter. »Sie können hier eine einzelne Socke erkennen, die offensichtlich im Mund des Opfers ist. Unser Opfer trägt ein weißes T-Shirt, hellblaue oder türkise kurze Hosen mit einem gelben Streifen am Saum, weiße Socken, und die Stiefel, von denen die Mutter ausgesagt hat, dass er sie trug, waren auch hier drin.«

      Aquamarin. Lorilei beschreibt die Farbe der Hose als aquamarin. Vier Tage zuvor hat sie sie aus dem Wäschetrockner genommen und zusammengelegt, sodass die beiden Seiten des Bundes sauber übereinanderlagen, hat die kleinen Hosenbeine sorgfältig zu einem Päckchen gefaltet und mit dem T-Shirt zusammen verräumt. Sie trug die Kleidungsstücke zu der Kommode, die sie und Jeremy sich in Melissas Haus teilten, und legte die Hose in die unterste Schublade, das T-Shirt in die darüber. Behutsam, als ob sie ein Kind ablegte.

      All diese Kleidungsstücke, die Jeremy trägt – diese Beweis­stücke –, haben eine Geschichte. Die Beweisstücke tragen etwas von ihrem gemeinsamen Leben in sich. Sie enthalten ihre Liebe.

      »Außerdem kann man in der Ecke des Schrankes das Luft­gewehr sehen«, fährt Dixon fort, »das laut der Mutter dem Opfer Jeremy gehörte.«

      In der Polizeistation verbirgt Lorilei das Gesicht in ihren Händen und beginnt zu schluchzen.

      10

      New Jersey, 1986

      Für diesen nächsten Teil der Geschichte muss ich auf einen einzigen knappen Bericht meiner Mutter zurückgreifen, den sie Jahre später erzählte und niemals wiederholte; ich selbst kann kaum mit eigenen Erinnerungen daran aufwarten. Lassen Sie mich die Geschichte also aus diesen Hinweisen rekonstruieren. Es ist das Jahr, nachdem meine Mutter uns von Jaqueline erzählt hat. Wir befinden uns aktuell auf der zu Massachusetts gehörenden Insel Nantucket, wo wir für den Sommer ein Haus gemietet haben. Unsere Großeltern haben wir ebenfalls mitgenommen. Elize ist vier Jahre alt, ein Püppchen mit langen blonden Haaren und einer Stupsnase. Seit einiger Zeit steht sie Modell für eine britische Kleidungsmarke, die Freunden meiner Eltern gehört, und gerade trägt sie eines ihrer typischen weißen Spitzenkleidchen. Vielleicht ist es das Kleid mit der grünen Schärpe, die zu ihrer Augenfarbe passt. Es ist früh am Abend, und das Haus ist voller Geschäftigkeit, da sich die Erwachsenen fürs Abendessen umziehen. Meine Schwester ist davongewandert, ein seltener Moment, in dem sie alleine ist, und klettert auf einen der mächtigen Polsterstühle im offiziellen Esszimmer des Hauses. Das Haus gehörte in den Walfang-Zeiten der Insel einem Seekapitän, und an den Wänden hängen dunkle Ölbilder lange verstorbener Töchter mit finsteren Mienen und goldenen Schildern darunter, auf denen ihre Namen stehen: Prudence, Virtue, Chastity – Klugheit, Tugend und Keuschheit. Meine Schwester dreht sich zu den komischen Gesichtern um und schneidet einem davon eine Grimasse. Sie versucht sich vorzustellen, was man ihr erzählt hat: dass jede dieser Frauen einst ein kleines Kind war, nicht anders als sie selbst.

      Mit ihrer kleinen Faust umklammert sie eine Belohnung, die sie erst kurz zuvor bekommen hat: einen Fünfdollarschein.

      Meine Mutter kommt aus der Küche herein, ein Glas Rotwein in der Hand, die Haare noch auf die weißen Plastiklockenwickler gedreht, ihr schwarzes Kleid am Rücken noch offen. »Ach, hier bist du!«, sagt sie und nippt abwesend an dem Wein. Dann bemerkt sie den Schein und fragt: »Liebling, wo hast du denn das Geld her?« Sie glaubt sicher, dass meine Schwester es aus ihrer offenen Geldbörse oder von der Kommode genommen hat. Ein kleiner Fehltritt, Anlass für kaum mehr als einen freundlichen Hinweis.

      Aber die Antwort meiner Schwester ist: »Opa hat es mir gegeben.«

      »Wirklich?«, fragt meine Mutter. Sie denkt immer noch, dass das hier eine harmlose Kindergeschichte ist. Es gibt auf der Insel einen Süßwarenladen, in dem man für einen Cent einen einzelnen zuckrigen Gummifisch oder einen Gummibären bekommen kann. Unser Großvater hat uns schon einmal dorthin mitgenommen, und für einen Vierteldollar durften wir eine weiße Papiertüte mit Süßkram füllen. Er verwöhnt uns, ebenso wie damals unsere Mutter und ihre Brüder, als sie klein waren. Er hatte immer


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