Verbrechen und Wahrheit (eBook). Alex Marzano-Lesnevich

Verbrechen und Wahrheit (eBook) - Alex Marzano-Lesnevich


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dass er alleine war, das erste Mal, seit Jeremy am Nachmittag an der Tür geklingelt hatte. Er konnte nicht schlafen – er war viel zu aufgeregt –, und er dachte die ganze Zeit an Jeremy. Dachte daran, dass seine Augen offen gewesen waren, als Ricky ihn gepackt hatte, und dass sie sich wie von selbst geschlossen hatten. Er wusste, dass es nicht sein konnte, aber wie er da in seinem Schlafzimmer saß und wusste, dass der Junge in dem Schrank war, hatte er das Gefühl, ihn atmen zu hören. Er bildete sich ein, dass sich diese Augen wieder öffneten. Jemand beobachtete ihn.

      Hinter seinem Schlafzimmer gab es eine Treppe, sieben Meter lang, die direkt in den Wald führte und sich angeboten hätte, wenn Ricky die Leiche hätte loswerden wollen. Stattdessen schlich Ricky mitten in der Nacht hinunter in die Küche und nahm eine Rolle Alufolie. Er bedeckte die beiden Fenster seines Schlafzimmers mit Folie und klebte sie fest, sodass kein Licht mehr hereinfallen oder hinausdringen konnte.

      Er hätte nicht sagen können, wer ihn nicht beobachten durfte und warum es so wichtig war, dass diese Fenster nicht mehr da waren. Er wusste nur, dass er eine kleinere Welt brauchte, eng um ihn herum, verschlossen.

      Dieses Gefühl muss Ricky jetzt wieder haben, im Polizeiauto, wo die klare, helle Wintersonne durch die Scheiben scheint und das Wageninnere aufheizt. Wenn nur die Welt so klein bleiben könnte, nach außen abgeriegelt. Er hüllt sich in das Gefühl, eine Zeit lang, er weiß nicht, wie lange.

      Bis Dixon zurückkommt und sagt: »Wir fahren zum Haus.«

      Tagelang war die Straße voll mit Menschen, Hunden, Polizeikräften und Schleppern für die Suchboote. Aber als Dixon und Lucky jetzt mit dem Streifenwagen vorfahren, ist die Straße verlassen. Ricky sitzt, noch immer mit gesenktem Kopf, in Handschellen auf der Rückbank.

      »Das ist das Haus«, sagt Lucky. Dixon hält sich zurück. Nun bleibt es doch weiterhin Luckys Fall. »Der Junge ist da drin«, sagt Lucky. Es ist keine Frage, aber er sieht Ricky trotzdem dabei an.

      Ricky hebt fast unmerklich den Kopf und nickt.

      »Also schön«, sagt Lucky. »Gehen wir.«

      Lucky ruft keinen Krankenwagen. Er beeilt sich nicht. Später wird er sich diesen Augenblick im Zeugenstand vergegenwärtigen und den Geschworenen sagen, dass er sich natürlich nicht beeilt hat, weil er ja wusste, dass der Junge tot war. Zweimal wird er das wiederholen, wie um seine Entscheidung vor sich selbst zu rechtfertigen. Es ist eigenartig, dass ihn gerade dieser Moment quält, dass er gerade darauf zurückkommt. Es hätte schließlich nichts geändert, wenn er sich beeilt hätte. Lucky hätte den Notarzt rufen oder sofort ins Haus rennen können, ja, er hätte sogar den Jagdausflug am Vortag sein lassen können – es hätte keine Rolle gespielt. Jeremy war tot. Eigenartig, an welchen Details die Gedanken manchmal hängen bleiben. Eigenartig, an welchen Stellen sie uns suggerieren, es würde irgendetwas ändern.

      Lucky steigt aus dem Wagen.

      Der Deputy, der mit der Videokamera auftaucht, hat Pickel im Gesicht, so jung ist er. Oder zumindest stelle ich ihn mir so vor, während ich das Transkript lese. In den nächsten paar Stunden wird dieser Mann alles, was gefilmt wird, von der Kameralinse umrahmt sehen. Er ist die einzige Person, die auf dem Band nicht zu hören ist, die nichts sagt, nicht reagiert, sondern nur aufzeichnet. Er bleibt in dem Material ein Unbekannter, aber überlegen wir, was er alles sieht. Womit er konfrontiert wird. Ich stelle mir vor, dass diese Situation neu für ihn ist; stelle mir vor, dass seine Augen sich weiten. Ich sehe die kleine Wunde in der Haut, wo er sich beim Rasieren geschnitten hat, sehe seinen dürren Hals.

      Dixon taxiert ihn und schüttelt den Kopf. Er und die Polizei­fotografen sind bereits oben im Schlafzimmer gewesen und haben Bilder vom Tatort gemacht. Schön und gut, dass die Polizeidienststelle begonnen hat, mit Videoaufnahmen zu arbeiten, aber sie betrachten es eher als niedere Aufgabe, die man auf die Neulinge abschiebt.

      »Bereit?«, fragt Dixon. Ich sehe ihn Latexhandschuhe überstreifen und eine durchsichtige Tüte mit der Aufschrift »Beweismaterial« entfalten. Er kann nur hoffen, dass der Junge hier schon mal eine Leiche gesehen hat. Das fehlt ihnen gerade noch, dass der Kameramann sich übergeben muss.

      »Ja«, sagt der Junge. Er klingt nicht so, als ob er wirklich bereit dafür ist.

      »Ich hole jetzt den Verdächtigen«, sagt Lucky, und seine Worte sind nun, da sie gleich aufgenommen werden sollen, viel förmlicher.

      Er kommt mit Ricky zurück, der in Handschellen neben ihm herschlurft und nicht aufblicken will. Ehe er über die Türschwelle tritt, bleibt er abrupt stehen.

      »Aufnahme an«, sagt Lucky.

      Die Aufnahme läuft.

      »Ich möchte, dass Sie jetzt …«, setzt Lucky an, dann hält er inne. »Was ich jetzt von Ihnen will, Jeremy, ist …«

      (Dieser kleine Versprecher, die Tatsache, dass er Ricky mit dem Namen seines Opfers anspricht, ist das einzige Anzeichen dafür, dass Lucky nervös ist. Der einzige Anhaltspunkt, wie wichtig dieser Augenblick für ihn ist. Später steht an dieser Stelle im Transkript der Vermerk »[sic]«.)

      »Der Kameramann wird Ihnen ins Haus folgen, und ich möchte, dass Sie mich zu dem Zimmer führen, wo es passiert ist, und ich will, dass Sie ihm den Raum zeigen und nichts anfassen, okay? Ich weiß, dass es hier drin Waffen gibt, und wie gesagt, ich will, dass Sie nichts anfassen.«

      Lucky sieht Ricky erwartungsvoll an.

      »Hm«, macht Ricky.

      Sie gehen los.

      Mit drei Leuten und dem Kameramann, der direkt hinter Ricky herläuft, ist es eng auf der Treppe. Auf dem Fernsehbildschirm wird der Film dunkel wirken – die Körper kaum mehr als Schatten, Rickys schwarzes T-Shirt ein Fleckchen Nacht in der Düsternis. Der Winkel der Kamera lässt die Decke niedriger erscheinen, die Wände enger beisammen. Die Männer steigen wortlos die Treppe hinauf, ein rascher Schritt nach dem anderen, bis sie vor der Tür des Schlafzimmers stehen.

      »Hier drin?«, fragt Lucky.

      Ricky nickt und erinnert sich dann, dass er laut antworten soll. »Ja.«

      »Wollen Sie noch etwas ergänzen, bevor wir reingehen?«, will Lucky von Dixon wissen.

      »Ja, einen Moment noch«, erwidert der. Vielleicht kommen ihm jetzt, da es so weit ist, Zweifel daran, ob es klug war, Lucky die Angelegenheit zu überlassen. Schließlich ist das hier sein Fund. Hat nicht er Lucky überhaupt erst dazu bewogen, endlich etwas zu unternehmen? Er hat Ricky dazu gebracht, die Tat zu gestehen. Oder vielleicht will er auch nur noch einmal sichergehen, dass die Verhaftung absolut wasserdicht ist. Aus welchem Grund auch immer, er geht alles noch einmal durch. »Ricky, als wir Sie an der Tankstelle festgenommen haben und Sie mit mir im Auto saßen, habe ich Sie da in irgendeiner Weise bedroht?«

      Ricky schüttelt den Kopf. »Nein.«

      »War ich höflich zu Ihnen?«

      »Ja.«

      »Und ich habe nur gesagt: ›Ricky, sehen Sie mir in die Augen, von Mann zu Mann‹, und ich habe Sie über Ihre Rechte aufgeklärt. Und alles, was Sie mir gesagt haben, haben Sie freiwillig gesagt.«

      »Ja, Sir.«

      »Also gut.« Dixon nickt Lucky zu. Sie sind bereit.

      Die Männer betreten den Raum. »Schnitt«, sagt Lucky, und der Junge mit der Kamera stellt die Aufnahme ab. Dann zu Ricky: »Zeigen Sie mir den Schrank.« Ricky setzt sich in Bewegung. »Nein, gehen Sie nicht hin. Deuten Sie einfach darauf.«

      Ricky gehorcht.

      »Das Kind ist da drin?«, fragt Dixon wieder. Er kennt die Antwort. Er war schon hier oben, während Lucky Ricky aus dem Wagen geholt hat. Aber er beobachtet Ricky jetzt. Sieht die kleinen Anzeichen von Unbehagen und Furcht, die durch seinen Körper zucken.

      »Ja«, sagt Ricky.

      »Ist er einfach nur so da drin oder …«

      »Ich hab ihn in ein paar Decken gewickelt.«

      Lucky tritt nach vorn und bedeutet


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