Verbrechen und Wahrheit (eBook). Alex Marzano-Lesnevich

Verbrechen und Wahrheit (eBook) - Alex Marzano-Lesnevich


Скачать книгу
eine Entscheidung: Ich werde meiner Mutter sagen, dass ich nicht gleich einen Pullover finden konnte. Ich werde ihr sagen, dass ich erst danach suchen musste. Hinter mir ist Elizes Kinderbett. In meiner Vorstellung presst sich dieses Bett gegen meinen Rücken, ich kann es spüren. Das Wissen, dass auch er hier steht. All die Male, die ich ins Zimmer meiner Schwester gekommen bin und gesehen habe, wie er sich über sie beugte. Ich kämpfe gegen die Gedanken, will ganz leer sein.

      Dann muss ich wegrennen.

      Ich schnappe mir in meinem Zimmer einen blauen Pullover – meine Lieblingsfarbe. Zurück durch das Zimmer meiner Schwester, unter dem Ventilator durch, die Treppe hinunter. Ich fliehe. In dem dunklen Esszimmer halte ich an, fühle den Holzboden kühl und glatt unter meinen Füßen. Mein Körper ist reglos. In der Stille ist das Schlagen meines Herzens so laut wie der Ventilator.

      Zaudern. Ich zaudere immer noch.

      Dann gehe ich nach draußen.

      Als ich auf die Veranda hinaustrete, bemerkt mich meine Mutter und winkt mich zu sich.

      »Warum hat das so lange gedauert?«, ruft sie. »Komm, setz dich.« Nach dem glatten Boden im Haus fühlt sich das Gras uneben an und sticht in meine Fußsohlen; das helle Licht hier draußen trifft mich wie aus weiter Ferne. Ich rutsche auf die Bank mit ihrem abgesplitterten Holz und reiche meiner Schwester den flauschigen Pullover. Mein Körper sitzt da, aber eigentlich bin ich nicht hier, nicht wirklich.

      »Euer Vater und ich müssen euch allen etwas sagen«, sagt sie.

      Es kann nicht um meinen Großvater gehen. Sie kann nichts davon wissen. Kann es noch ein anderes Geheimnis geben?

      »Ihr alle hattet eine Schwester«, sagt sie. »Ihr Name war Jaqueline. Sie war Andrews und Alexandrias Drillingsschwester.«

      Meine Mutter benutzt niemals unsere vollen Namen. Mein Bruder ist Andy und ich, auch wenn ich es hasse, bin Ali. Dass sie diese Worte benutzt, zeigt mir mindestens ebenso sehr wie das, was sie sagt, wie gravierend das Ganze ist. »Erinnert ihr euch, wie wir euch gesagt haben, dass Andrew und Alexandria krank waren, als sie geboren wurden?« Nicola sitzt mit großen Augen da wie eine Schülerin im Unterricht und nickt. Das ist es, was sie uns erzählen, wenn mein Bruder ohnmächtig wird: dass er krank war, als er ganz klein war, und dass das nur die Spätfolgen davon sind. Das ist es, was sie uns erzählen, wenn plötzlich die Nachbarin auftaucht, um auf uns aufzupassen, und meine Mutter die Reisetasche aus dem Schrank zerrt. »Nun, Jaqueline war auch krank, aber bei ihr war es zu schlimm. Sie war zu klein. Sie starb, als sie fünf Monate alt war.«

      Und ein höchst eigenartiges Gefühl ergreift mich: Ich wusste es bereits.

      Später am Abend, nachdem unsere Eltern uns ins Bett gebracht haben, liege ich in dem Zimmer, das ich mir mit Nicola teile, wach.

      »Ali?«, sagt sie. Heute Nacht lasse ich zu, dass sie mich so nennt. »Werden wir auch sterben?«

      »Nein«, sage ich. »Psst. Schlaf jetzt. Wir werden nicht sterben.«

      »Aber sie ist gestorben.«

      Ich denke darüber nach. »Ja, aber wir nicht. An dieser Sache stirbt man nur, wenn man klein ist. Wir sind jetzt groß.« Ich bin sieben und sie fünf. »Wir sterben nicht.«

      Als ich das sage, wird mir plötzlich bewusst, dass ich lüge. Dass wir alle eines Tages sterben werden. Ich hoffe, dass sie das nicht weiß. Ich hoffe, dass sie das niemals wissen wird.

      »Versprochen?«, fragt sie.

      »Versprochen«, antworte ich. Danach ist meine Schwester still. Aber ich liege in der Dunkelheit noch lange wach. Woher wusste ich von dem Mädchen?

      9

      Louisiana, 1992

      Lorilei ist diejenige, die zu guter Letzt die Polizei auf Ricky Langleys Spur führt. Früh am Montagmorgen, ihr Sohn ist noch immer nicht gefunden, sucht der Sheriff sie in Melissas Haus auf und bittet sie, zur Polizeistation zu kommen, um dort einige Fragen zu beantworten. Er ist freundlich, aber entschieden. Sie muss sich einem Lügendetektortest unterziehen.

      Platzieren wir sie dafür in einem kleinen Raum in der Polizeidienststelle. Von der Decke hängt eine kegelförmige Lampe, genau wie in der Küche meiner Eltern, als ich ein Kind war, die Art Lampe, die in jedem Krimi zu sehen ist, wenn ein Verdächtiger verhört wird, und die deshalb zweifellos auch über Ricky Langleys Kopf hängen muss, wenn er schließlich vor laufender Kamera sein Geständnis ablegt. Lorilei ist nicht verdächtig – »Nein, Ma’am, wir wollen nichts andeuten«, sagt der größere, stämmige Polizist mehrmals zu ihr. Die Wahrheit ist, dass es keine Verdächtigen gibt. Noch nicht.

      Die Männer stellen sich ihr als Don Dixon vom FBI-Außendienst und Donald DeLouche von der Polizeiwache des Calcasieu Parish vor. »Aber Sie können mich Lucky nennen«, meint der hochgewachsene Mann. »Das tun alle.«

      Lucky?, denkt sie sich bestimmt. Schönes Glück! Wo ist ihr Junge?

      In den Stimmen der beiden Männer am Tisch mischen sich Freundlichkeit und Anspannung. Sie kann nicht ausmachen, ob sie glauben, dass sie etwas mit Jeremys Verschwinden zu tun hat. Wahrscheinlich ist sie auch zu müde, um sich darum zu kümmern, was sie glauben. Sie will nur ihren Jungen zurückhaben.

      »Nun, Ma’am, ich muss Sie bitten, sich so genau wie möglich an alles zu erinnern.«

      Sie seufzt. »Ich habe den Ermittlern doch schon alles gesagt. Ich bin nach nebenan gegangen und danach zum Haus der Lawsons. Sie haben einen Jungen und ein Mädchen; Jeremy spielt dort manchmal mit ihnen. Ein Mann hat mir die Tür geöffnet und mir angeboten, das Telefon zu benutzen, damit ich meinen Bruder anrufen konnte.«

      »Wissen Sie seinen Namen?«

      Es ist das erste Mal, dass ihr jemand diese Frage stellt. Zu dem Zeitpunkt, als ihr Sohn verschwand, kannte sie seinen Namen noch nicht, inzwischen aber schon. »Ricky Langley«, sagt sie.

      Lucky steht auf, nimmt seinen Hut vom Tisch und verlässt den Raum. Dixon folgt ihm.

      Etwa eine Minute später kommt ein anderer Polizist herein. Er ist jünger als die beiden anderen und glatt rasiert. Er nimmt den Stuhl, auf dem Lucky gesessen hat, und zieht ihn zum Tisch. »Keine Sorge«, sagt er. »Die beiden müssen nur etwas überprüfen. Mein Name ist Roberts. Also dann: Sie wollten über den Mann reden, der Ihnen die Tür geöffnet hat?«

      Stundenlang behält Roberts sie da, geht den Tag in allen Details mit ihr durch. Manchmal kommt ein anderer Polizist dazu. Gemeinsam spüren sie jedem einzelnen Schritt nach, den sie getan hat. Schließlich bringen sie sie ins Büro des Sheriffs.

      Dort erzählen sie ihr, dass sie ihren Sohn gefunden haben. Er ist tot.

      Vierundzwanzig Stunden zuvor hätte Lucky und Dixon der Name Ricky Langley nichts gesagt. Aber am Morgen des 9. Februar, während die Suche weiterlief, waren die beiden zusammen in den Wald gegangen, um Gänse zu jagen. Später würde man ihnen vielleicht die Hölle heiß machen, weil sie jagen gegangen waren, obwohl ein Kind vermisst wurde. Später würde die ganze Sache vielleicht einen komischen Beigeschmack haben. Aber die Blässgänse kamen nur zweimal im Jahr durch diesen Landstrich, und überhaupt war der Junge höchstwahrscheinlich ertrunken und längst tot.

      In aller Frühe hatten sie flache Boote mit Lockvögeln bestückt und langsam flussabwärts treiben lassen, bis sie das leise Schnattern des Schwarms hörten, mit dem die Vögel auf die Köder reagierten. Dort hatten sie die Boote festgemacht und in dem weichen Schlamm in Ufernähe zwei brusthohe Gruben ausgehoben. Nun, als sie Seite an Seite in ihren Löchern hockten, die Hände schussbereit an den Gewehren, eine Thermoskanne mit Kaffee zwischen sich, schaute Dixon in den leeren blaugrauen Himmel und sagte zu Lucky: »Was hältst du von der Sache mit dem Jungen, der immer noch vermisst wird? Macht ihr weiter mit der Suche?«

      Die Gruben waren eiskalt, die Luft zu still. »Heute auf jeden Fall noch«, meinte Lucky. »Aber die brauchen mich da nicht.« Er goss Kaffee in den Plastikdeckel der Thermoskanne und nahm einen Schluck. »Sie suchen heute mit Baggern im Kanal. Die Leute von der Wache haben die Sache im Griff.«


Скачать книгу