Nie wieder Fußball!. Stefan Tillmann
gucken wollte, dem antwortete ich erst gar nicht mehr. Mit solchen halbherzigen Menschen wollte ich keinen Kontakt. Dann lieber dabeibleiben, dachte ich, aber das war für mich auch längst keine Option mehr.
Zudem wollte ich, dass die Leute Fans unterschiedlicher Vereine waren. Sonst endete das nur im Aufwärmen alter Geschichten von irgendwelchen Auswärtsfahrten. Aber dieser Mythos musste gebrochen und Fußball verteufelt werden.
Den Interessenten hatte ich einen Fragebogen geschickt. Alter, Verein, erstes Spiel, schönstes Erlebnis, schlimmster Moment – und ganz wichtig: Grund für den Ausstieg. All das war vielleicht etwas pingelig, aber ich hatte keine Lust, dass irgendwelche Spaßvögel den Plan durchkreuzten. Meinen Plan. Letztlich sagten drei zu. Aber jede Bewegung fängt mal klein an.
Die drei Typen, die ich erwartete, kamen bis auf einen ursprünglich nicht aus Düsseldorf. Versprengte Seelen, die es wie mich irgendwie an den Rhein verschlagen hatte und deren vermutlich einzige Gemeinsamkeit die unerklärliche Liebe zu einer populären Ballsportart war. Aber irgendwie passte das. Denn je mobiler die Menschen in den vergangenen Jahren geworden waren, je häufiger sie umzogen, den Jobs oder ihren Träumen hinterher, desto wichtiger wurde die Heimat. Und dieser Heimatkram war vielleicht der beste Ansatz, wie man die Liebe zu einem Fußballverein erklären konnte. Andere Hobbys wie Vögelbeobachtung unterliegen zumindest noch einem gesunden Menschenverstand. Beim Fußball geht es dagegen schlicht darum, Menschen auf dem Feld anzubrüllen, damit sie in 90 Minuten die eigenen Unzulänglichkeiten ausbügeln und gewissermaßen auch den Ruf der Heimat verteidigen, wenn das eigene kleine Wirken schon nicht dafür ausreicht. Vermutlich hat der Fußball als Ventil für männliche Allmachtfantasien mehr für den Weltfrieden getan als diese ganzen Blauhelmheinis.
Die Kellnerin im Lot Jonn hatte dunkelbraune Locken, blaue Augen, eine Mischung aus Fräulein Würkl und der Hippie-Tusse aus dem Abteil. Mir war es doch etwas unangenehm, am helllichten Tag alleine in einer leeren Kneipe an einem Tisch zu sitzen, den ich blöderweise auch noch reserviert hatte. Dass gleich drei wildfremde Männer auftauchen würden, machte die Sache auch nicht unbedingt besser. Ich wusste nicht, was besser ankäme: ein junger Kerl, der alleine in der Kneipe rumsaß, oder vier Männer, die – seien wir ehrlich – nicht gelernt hatten, mit ihrer Zeit etwas Vernünftiges anzufangen.
Kurz bevor die Jungs kamen, zog mein Fußballleben an mir vorbei. Das erste Spiel: gegen Stuttgart, im Winter, verloren, Männer, die in meinen Nacken brüllten. Später war ich jedes Wochenende unterwegs, immer auf der Suche nach dem perfekten Spiel, dem perfekten Tag. Der Geruch der Tribüne, den wir besser kannten als den des Rasens. Heimat, dachte ich manchmal, ist nicht unbedingt ein Ort, Heimat ist aber auch nicht nur ein Gefühl, wie der olle Grönemeyer einem glauben machen wollte. Heimat ist oft einfach ein Geruch. Und in meinem Fall war es der Geruch der Tribüne.
Früher hatte jedes Stadion seinen eigenen Geruch. Mit meinem alten Freund Holger wettete ich einmal, ich würde jedes Stadion am Geruch erkennen. Holger reichte die Wette schließlich bei Wetten, dass..? ein. Aber von denen hat er nie etwas gehört. Und in der Zwischenzeit waren aus Stadien Multifunktionsarenen geworden, und die rochen alle gleich: nach Plastikbechern und alkoholfreiem Bier.
Das Nürnberger Stadion war noch eines der letzten mit Laufbahn. Und so sahen wir viele Spiele auf Höhe der Hochsprungmatte, die irgendwo im Innenraum liegengeblieben war. Und wenn sich dann noch ein dicker Ordner vor das Sichtfeld stellte, sahen wir oft nicht mehr als die Flankenläufe unserer Helden, die im Nichts endeten. Dass Fußballspieler fünf Tage die Woche trainierten und dennoch nicht ordentlich flanken konnten, war eines der letzten Rätsel, die bei all dem Theoriegewese der Herren Rangnick & Co. immer noch ungelöst war. Vermutlich war genau das der Grund, warum sie irgendwann das System umstellten und nur noch von halben Neunen und kleinen Stürmern redeten. Einfach weil Menschen von Natur aus nicht richtig flanken können, und wenn sie noch so viel trainieren.
Meinen Freund Holger hatte ich das letzte Mal auf seiner Hochzeit gesehen. Die fand am Tag des Pokalendspiels statt, wie eigentlich alle Hochzeiten am Tag eines vermeintlich großen Fußballspiels stattfinden. Holger hatte mit dem Termin so lange gewartet, bis der Club aus dem Pokal geflogen war. Lange musste er da nicht warten. Daher spielten wir an jenem Tag im Mai Fußball auf kleine Tore. Jetzt war Holgers Frau schwanger. Holger arbeitete in einer Ventilatorenfirma in Nürnberg und würde weiter zu jedem Heimspiel gehen. Er wollte warten, bis das Kind ins fußballreife Alter kam, und es dann beidfüßig erziehen. Das war natürlich eine konsequente Form eines Lebensentwurfs und vielleicht die ehrlichste, die es auf diesem Planeten gab. Aber bevor ich Christiane Würkl oder sonst wen heiraten und schwängern würde, um einen kleinen Glubberer auf die Welt zu bringen, wollte ich vorher lieber abbiegen und mich nach Alternativen umschauen.
Die Kneipe lag in einem hohen Eckhaus an einer dicht befahrenen Kreuzung. Sie hatte was von einer Bierhalle, hohe Decken, große Biertische und dunkle Sitzecken. Als ich den Kickertisch sah, biss ich mir auf die Lippen.
Um halb vier öffnete sich der muffige Vorhang vor der Ecktür, und der erste Vogel kam herein: kräftig, Jeans, Jeansjacke, kurze graue Haare, Schnauzer. Das musste Karl sein, der Fortuna-Fan. Typ: Teddybär, treue Seele, so einer, der im Block viele Freunde hat, auch bei Niederlagenserien immer positiv bleibt und zum Trainer steht. 54 Jahre alt. Im Fragebogen hatte er als Grund für den Ausstieg angegeben, „irgendwie Lust auf einen neuen Lebensabschnitt“ zu haben.
Der Mann kam langsam auf meinen Tisch zu: „Bist du Daniel?“ Ich winkte ihn wortlos heran. Der Typ streckte mir seine Hand entgegen, und ich wusste nicht, ob ich sie ganz normal schütteln sollte – oder doch eher sportlich einschlagen wie in der Kurve.
„Hallo, ich bin der Karl“, sagte Karl. „Aber alle nennen mich Pommes. Das war …“
„Ich schlage vor, wir haben hier keine Spitznamen. Ich bin Daniel.“
„Schöne Kneipe hier“, sagte Karl, und ich hörte den rheinischen Akzent. Eine 54 Jahre alte Frohnatur, das konnte ja heiter werden. „Hast du dir den Schritt gut überlegt?“, fragte ich leise und beugte mich vor.
„Ja“, sagte Karl. „Sehr gut.“ Mist, dachte ich. Irgendwie war ich so verbohrt, dass ich schon gehofft hatte, er wäre sich nicht so sicher. Ich wollte unbedingt der Konsequenteste sein, der, der vorweggeht. Aber wer weiß, wer weiß, dachte ich – vielleicht war sich Karl ja doch nicht sicher.
„Was ist denn dein Verein?“, fragte Karl.
„Der Club.“
„Da hätte ich auch keinen Bock mehr.“ Karl grinste.
Ich hätte ihm am liebsten eine reingehauen, aber ich wollte diplomatisch sein, Käpt’n eben, anfangs zumindest. „Es geht nicht um den Club und auch nicht um die Fortuna“, sagte ich.
„Sondern?“
„Irgendwie ist es doch der ganze Fußball, das ganze System, was uns krank macht. Was uns davon abhält, wirklich zu leben.“
„Du bist Student, oder?“, fragte Karl. „Ich meine, System und so.“
„Nee, nicht mehr, ich bin fertig. Zum Glück“, sagte ich und wusste, dass das eine Lüge war. Aber immerhin stand jetzt für mich fest: ein Wackelkandidat.
Nur wenige Minuten später kamen die anderen beiden und schienen weniger anstrengend zu sein. Beide um die 40. Sven, ein alternativer Lockenkopf, Typ: Motzki im Block, einer, der viel leidet und meckert, der aber trotzdem mit dem Herzen dabei ist, und Ralf, Bürstenhaarschnitt, Jeans, T-Shirt, ein echter Kraftprotz, Typ: Sturkopf, einer, der immer kommt, aber wenig redet.
„Ralf, Hertha.“
„Sven, Werder Bremen.“
„Ich bin der Karl, eigentlich Pommes, aber wir sollen ja keine Spitznamen haben. Ach ja, ich bin Fortune.“
Endlich hatten sich alle gesetzt. Auf diesen Moment hatte ich lange gewartet. Ich hatte keine Lust mehr, über die Kneipe zu reden oder über die Anfahrtswege. Die Namen waren klar. Die Vereine. Das Ziel. Es konnte losgehen, unsere Reifeprüfung. Ich guckte rüber zur Theke, die Kellnerin war ums Eck, ein guter Moment. Ich kniff mir unter dem Tisch mit den Händen