Nie wieder Fußball!. Stefan Tillmann
und immer wieder von vorne, Scheißdreck. Und dabei habe ich mir noch viel Ärger eingefangen. Mein Sohn soll es mal besser haben und sich sein Glück selber suchen. Ich meine, ich bin einmal mit ihm ins Rheinstadion gefahren oder wie das Ding hier heißt. Fortuna gegen Union.“
„Warum gibst du denn Geld für ein Spiel gegen Union aus?“, fragte Karl. „Die kannst du doch als Herthaner auch nicht leiden.“
„Eben“, sagte Ralf, „ich kaufte uns zwei Karten für die Plätze hinter der Union-Bank und beschimpfte die Ersatzspieler 90 Minuten lang. Als mein Sohn mir auf der Rückfahrt erzählte, dass es ihm großen Spaß gemacht hätte, mich aber fragte, wie denn das Spiel ausgegangen sei, da kam es mir, dass es das ja nun auch nicht unbedingt gewesen sein kann.“
Ich notierte in Gedanken: okay, Vaterkomplex – aber die Lage war etwas komplizierter.
„Ihr müsst vielleicht wissen: Ich war früher hart drauf. Hooligan, einer aus der ersten Reihe, einer, der nicht fiel. Ein Guter, wie wir sagten. Zwischen 16 und 30 war ich bei denen. Ihr habt ja selbst mitbekommen, was da damals los war“, erzählte Ralf.
Die Therapie lief jetzt anders als gedacht. Sven trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte, wurde immer nervöser, während Ralf redete und redete. Fast jeden Samstag hatte Ralf früher seine Faust in das Gesicht eines Fremden gedroschen und genauso oft eine abgekriegt. Zigmal die Nase gebrochen, Schulter, Oberarm. Alles freiwillig. Immer wieder Polizeigewahrsam, Verhandlungen, Sozialstunden. Irgendwie hatte er das damals geil gefunden. Mit den Jungs in die Bahn, das Warten auf die Gegner, das Gerenne, die Kloppe und die Heldengeschichten auf der Rückfahrt. „Heute hört sich das bescheuert an, aber ich wusste mich nicht anders zu beschäftigen“, meinte er.
Wieder peinlich: Ich war immer fasziniert gewesen von dieser Gewalt. Habe rübergelinst, wenn sich der Mob drüben am Bahnsteig, drüben im Block sammelte. Habe gewartet, bis es knallte. Und ganz ehrlich: Wenn dort unten auf dem Rasen die Jungs wieder einmal verloren, wenn es regnete, die Sachen klitschnass waren und eine lange Heimfahrt drohte, dachte ich manchmal: Wenn ich Hooligan wäre, dann könnte ich zumindest auf eine dritte Halbzeit hoffen, anstatt mit gesenktem Kopf in der Bahn nach Hause zu fahren. Aber dann schaute ich an mir hinunter und dachte, dass das so oder so vermutlich kein kluger Gedanke war.
Viele Jahre ging Ralf mit seinem Vater ins Olympiastadion, Gegentribüne. Stadionheft, Wurst in der Pause und Einzelkritik auf der Rückfahrt – das volle Programm. Ralf erzählte von einem 6:0-Sieg beim OSV Hannover, einem 8:0 gegen Wattenscheid. Dann kam er in die Pubertät, und andere Sachen wurden interessanter. Keine Mädels, klar, die gab es auch, aber Orientierung suchte er bei Mario Hauf, der wohnte in derselben Straße in Reinickendorf. Der war drei Jahre älter, ging auf dieselbe Realschule und grüßte immer mit „Na, Kleiner!“.
Der Tisch war jetzt ruhig. Sven verdrehte die Augen, schaute mich direkt an. Hatte er meine Faszination gespürt? Dass unser Linker Gewalt ablehnte, war ja klar. Aber dass er so böse gucken konnte, irritierte mich von Beginn an.
Ralf machte weiter: „Irgendwann war ich drin und dachte gar nicht daran aufzuhören. Vielmehr ging’s für mich ja erst los. Du fängst immer klein an, auch bei den Hools, vor allem da. Du musst ganz schön was einstecken und vor allem verteilen, bis sie dich akzeptieren. Es dauerte ein paar Saisons, bis ich vorne dabei war, bis die ersten Matches kamen, bis die ersten Jungen nachrückten, die ich piesacken konnte. Ich war voll drin und voll beschäftigt. Die ganze Woche war doch reine Scheiße. Der Blick ging immer nur in Richtung Wochenende.“
„Seid ihr Herthaner nicht alle verdammte Nazis?“ Sven reichte es jetzt.
„Klar haben wir viele Rechte, aber ich finde, Politik hat auf dem Platz nix verloren“, entgegnete Ralf. „Das hat für mich nie ’ne Rolle gespielt.“
„Scheißdreck“, sagte Sven, der Bremer. Ein Hertha-Hooligan, ein linker Bremer und eine Düsseldorfer Laberbacke, das könnte noch witzig werden. „Und jetzt haste kein’ Bock mehr auf die Assis“, blaffte Sven. „Kein Wunder! Ich erinnere mich noch: Ihr Hertha-Frösche habt doch regelmäßig auf Auswärtsfahrten die Interzonenzüge abgefackelt.“
„Mal ganz, ganz langsam, Alter. Die Zeiten sind vorbei. Ich möchte einfach meine Ruhe haben“, sagte er. „Ich habe mich jahrelang im Kreis bewegt, und seit ich in Düsseldorf wohne, ist eben nur der Radius etwas größer geworden. Ich will raus und was Neues erleben. Ich habe genug Ärger gehabt wegen der Bullen, ich kann mir nicht mehr viel erlauben, dann buchten die mich ein. Wisst ihr, ich habe jetzt eine Verantwortung. Auch wegen meinem Sohn.“
Wegen meines Sohnes, dachte ich, aber ich hielt lieber die Klappe. Das mit dem System war auch schon nicht so gut angekommen. Ich wollte mich auf keinen Fall als akademischer Kotzbrocken aufspielen. War ja so schon nicht einfach: Banker in Düsseldorf, das klang entweder langweilig oder arrogant. Langweilig war mir auf jeden Fall lieber.
Karl dagegen schien unbesorgt. „Also, ich kann mit einem Alt-Hool leben“, sagte er und hob sein Glas, „besser als Kölsch-Hool.“ Er wartete auf einen Lacher, doch der kam nicht, und er nippte schnell an seinem Bier.
Sven fuhr eher so die Antikommerzialisierungsschiene. Beim Fußball ging es ihm inzwischen um zu viel Geld, echten Sport witterte er eher auf Ascheplätzen im Flutlicht im Schatten stillgelegter Zechen im Ruhrgebiet oder auf irgendwelchen Nebenplätzen des Weserstadions.
„Hör mir auf mit Nebenplatz 11“, rief Karl dazwischen.
Fortuna Düsseldorf hatte es auf ihrem Weg durch die Ligen auch mehrmals auf einen Nebenplatz des Weserstadions verschlagen. Die Bilanz dort: In sieben Spielen verlor die Fortuna fünfmal 0:2, holte insgesamt nur einen Punkt und machte gerade mal zwei Tore. Klar, dass das bei Karl Spuren hinterlassen hatte. Aber so sehr ich mitfühlte, so sehr musste ich aufpassen: „Nebenplatz 11“, das klang schon wieder sehr nach einer Veteranengeschichte, das gehörte hier nicht her. Wir hatten etwas zu erledigen. Wir mussten arbeiten.
Sven redete unbeirrt weiter. „Ich weiß, dass sich das bescheuert anhört. Und dieser ganze Fußballhype mit Champions League und Länderspielen geht mir ohnehin auf die Eier. Ich meine: Die Menschen, die Fußball nur aus den Zusammenfassungen der Sportschau und den Live-Übertragungen kennen, die haben doch keine Ahnung, was es bedeutet, Woche für Woche ins Stadion zu gehen. Mal ehrlich, wenn man die meisten Bundesligaspiele in voller Länge sieht, fragt man sich doch, wie so etwas Volkssport werden konnte. Und es reicht ja nicht, dass jeder Fahrlehrer sein Fähnchen raushängt und jeder Bäcker Kuchen in Vereins- oder Landesfarben backt. Nein, sie müssen ja alle auch noch bei den Radiostationen anrufen und das haarklein erzählen. Ich sag’s euch: Ich bin an einem Länderspieltag mal von Bremen nach Düsseldorf gefahren und habe Radio gehört. Das war die Hölle.“
„Schlimmer als Platz 11 wird es nicht gewesen sein“, sagte Karl ganz leise.
Sven erzählte seine Geschichte. Er kam aus Bremen und hatte viel erlebt, keine Frage. Die 14 Jahre mit Rehhagel, Meister, Pokalsieger, Europapokalsieger der Pokalsieger ’92.
„Mit unserem Klaus Allofs“, sagte Karl.
Sven verdrehte die Augen.
So wankelmütig Werder auch war in all den Jahren danach, Fußball war immer Svens Konstante gewesen. Sven redete sich warm. Er erzählte von den Fahrten mit dem Vater ins Weserstadion, den ersten Spielen auf den Stehrängen, von Kutzop und dem eckigen Pfosten.
„Langweilig war das nie“, sagte Sven, „das könnt ihr euch vorstellen.“ Jahrelang musste er nicht viel machen – die Gefühle brachte Werder. Er hatte sich immer mehr reingesteigert. „Viele Saisons bin ich alleine ins Stadion gefahren, um alleine meine Wut oder meinen Jubel ausleben zu können“, sagte Sven.
Mit seiner Fußballleidenschaft war er immer der Außenseiter gewesen, seine linken Freunde fanden das früher alles viel zu prollig, erst später änderte sich das. Sie hätten’s einfach nicht gerafft, wie man sich stundenlang neben ein paar Asoziale um einen Rasen stellen konnte, um andere Asoziale anzubrüllen. Svens Frauen verstanden das noch weniger.
„Weiber kommen und gehen, Werder bleibt“, sagte Sven. „So erfolgreich Werder