Nie wieder Fußball!. Stefan Tillmann

Nie wieder Fußball! - Stefan Tillmann


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ich fange mal an. Warum ich hier stehe, warum ihr da sitzt, ist einfach: Ich will den Fußball besiegen. Und ich hoffe, ihr auch.“

      Der Anfang war gemacht. Sven und Ralf Männer nickten, nur Karl suchte den Blick von Ralf. Scheiß Wackelkandidat!

      „Der Fußball ist in uns, zumindest in mir, seit wir denken können, und ich will ihn nicht mehr. Ich könnte auch sagen, ich will den Teufel besiegen, aber das haben andere schon versucht und geschafft. Den Fußball hat noch keiner totgekriegt. Im Gegenteil: Woche für Woche kommen mehr Pilger hinzu, mehr Talkshows, bei denen frühere Vizeeuropameister palavern, noch mehr Monitoranalysen, die die Laufwege der Co-Trainer untersuchen. Versteht mich nicht falsch: Ich will den Fußball nicht abschaffen. Die Leute sollen hingehen dürfen, meinetwegen auch mein Sohn, der noch nicht lebt, aber diese Details, schlage ich vor, klären wir später. Ich will einfach nicht mehr Fußball gucken, nicht mehr wollen und nicht mehr müssen, nicht im Stadion, nicht im Fernsehen – und schon gar nicht auf der Großbildleinwand.“

      Ich hatte den Text am Abend geübt. Erst Stichworte, dann drauflosgeredet. Dann noch mal Notizen und alles zweimal vor dem Küchentisch aufgesagt. Dem Zufall hatte ich viel zu viel überlassen, zu viel Raum gegeben, würde ein Trainer sagen. Zwischendurch war auch mal das Albert-Camus-Zitat in der Rede drin, aber das war zu riskant. Das hatte ich schon kapiert.

      Weiter, weiter, weiter: „Jeder Zweite hat mit dem Rauchen aufgehört. Oder tut so. Jeder hat schon mal ein Hobby aufgegeben, ich habe früher gerne Badminton gespielt. Irgendwann bin ich umgezogen, von Nürnberg nach Düsseldorf, und die neue Freundin wollte abends lieber in Ausstellungen gehen, dann bin ich da eben mit. Na ja, nach zwei, drei Wochen war dieser Spuk dann auch vorbei.“

      Das mit der neuen Freundin und den Ausstellungen war sehr verkürzt dargestellt. Eigentlich hatte ich mich für eine Praktikantin interessiert, die mich mal auf eine Ausstellung mitnahm. Kunst war eigentlich nicht so mein Ding. Na ja, es lief natürlich nichts, aber immerhin so viel, dass es mittags in der Kantine zu ein paar ungelenken Begegnungen kam.

      Sven, der Bremen-Fan, schaute auf den Tisch, kniff die Lippen zusammen und nickte. Mit dem könnte es klappen.

      „Aber wer hat je den Fußball besiegt?“, fuhr ich fort. „Von uns hier offenbar keiner. Aber ich will unbedingt. Nur: Alleine schaffe ich es nicht, ich brauche Hilfe, ich brauche euch. Wir brauchen uns. Damit wir die Gespräche mit unseren Arbeitskollegen, Vätern und Söhnen nicht mehr auf den Fußball lenken müssen, weil uns nichts Besseres einfällt, und beim Sex nicht mehr an Alexander Zickler denken, um nicht zu schnell zum Abschluss zu kommen.“

      Ich holte Luft. Die emotionale Stelle muss immer am Ende einer Rede liegen, das hatte ich bei den Vorbereitungen gelesen.

      „Ich will meine Freude und meinen Zorn, meinen Hass und meine Liebe nicht von Menschen abhängig machen, die ich gar nicht kenne. Auf die ich gar keinen Einfluss habe und die mir total egal wären, wenn sie mit 16 Jahren so häufig in Diskotheken gegangen wären wie jetzt und dann die Fußballerkarriere aufgegeben hätten und einfach Lackierer, Bankangestellte oder Grafikdesigner geworden wären wie jeder andere gottverdammte Mensch auch. Irgendjemand hat mal gesagt, die Jugend sei erst dann vorbei, wenn der Lieblingsspieler jünger ist als man selbst. Ich bin jetzt 27, mein Lieblingsspieler ist 23.“

      „Wer?“, fragte Karl.

      „Klappe“, rief Sven.

      „Der neue Japaner?“, murmelte Ralf, aber ich ignorierte ihn.

      „Es ist ein guter Zeitpunkt, um den Schal an den Nagel zu hängen“, sagte ich. „Ich möchte Samstage mit Fahrradtouren verbringen, ja: Fahrradtouren, warum eigentlich nicht, in den Zoo gehen, wie andere Menschen auch. Mit Frauen Spaziergänge machen, einkaufen, abends essen gehen oder ins Kino, dieser ganze Kram halt. Oder einfach auf der Couch rumliegen und sich so fühlen, wie man sich am Wochenende eben fühlt. Und nicht so, wie sich elf Spieler fünf Stunden vorher gefühlt haben.“

      „Rumliegen ist besser als nichts tun“, sagte Karl und hob das Glas, aber niemand reagierte.

      „Gut“, sagte ich und setzte mich wieder auf meinen Stuhl. Der Anfang vom Ende war gemacht. Die drei Herren schauten neugierig, immerhin. Karl, der Älteste am Tisch, hatte permanent genickt. Daneben hatte Ralf, die Berliner Kante, zur Tür geschaut. Und der Dritte, Sven, starrte immer noch ganz zornig auf den Bierdeckel, während er ihn mit einer Hand zerdrückte.

      „Und wie soll das alles ablaufen?“, fragte Karl. „Sollen wir jetzt zusammen Fahrradtouren machen oder was?“ Er lachte kurz auf, Ralf schnaubte, und Sven schaute schräg zur Kellnerin hinüber. Ja, eigentlich hatte ich mir das so gedacht: eine Gruppe, die sich samstags immer um halb vier trifft und versucht, die Zeit anders zu verbringen als im Stadion oder in einer dieser vielen Fußballkneipen. Sich gegenseitig helfen, trösten, reden und bestärken.

      „Doch! Zusammen Fahrrad fahren!“, hielt ich dagegen. Aus meiner Umhängetasche holte ich ein weißes Papier. Jeder, der mitmachen wollte, sollte seine Telefonnummer eintragen. „Dann lass ich euch in den nächsten Tagen eine Liste zukommen.“ Sven rollte mit den Augen.

      Wer wusste schon, wo diese Selbsthilfegruppe, dieses Projekt, mal hinführen würde? Würde es an diesem Tag schon sterben? Oder am nächsten? Unsere Vereine spielten allesamt erst am nächsten Tag im Pokal. Ich hatte ja gehofft, dass der ganze Laden brechend voll sein würde, dass ich mich auf den Tisch stellen müsste, schreiend, als Kopf der Massenbewegung. Nun waren wir zu viert und sahen so aus, wie eine Selbsthilfegruppe eben aussieht.

      Ich schlug eine Vorstellungsrunde vor. Wenn schon Selbsthilfegruppe, dann richtig. Ralf meldete sich als Erster. Ich hatte den Verdacht, dass er Selbsthilfegruppen und Vorstellungsrunden schon aus anderen Zusammenhängen kannte, aber ich hatte ja keine Ahnung.

      „Ich bin Ralf. Ralf Schanzer. Ich bin 45 und Hertha-Fan. War Hertha-Fan, oder wie sagt ihr? Ich komme aus Berlin-Reinickendorf und bin vor fünf Jahren nach Düsseldorf gezogen, beruflich, wegen meiner Frau. Jetzt muss Schluss sein mit dem Scheiß …“

      „Mit deiner Frau?“, fragte Karl irritiert.

      „Nein, verdammt, mit Hertha, sonst komme ich hier nie an“, sagte Ralf. „Meine Samstage verbringe ich in der Bahn zu den Spielen oder in der Sportkneipe. Freunde habe ich hier wenige, ein paar Kollegen vielleicht – ich bin Bürokaufmann bei der Bahn. Deswegen komme ich auch günstig zu den Spielen. Klar, mit unserem Sohn mache ich schon viel. Zoo und so, auf den Spielplatz gehen, ins Grüne fahren, mal an einen See im Umland. Aber ohne Fußball am Samstag ging es bislang einfach nicht. Meine Frau nervt das tierisch, ihr kennt das ja wahrscheinlich. Aber dafür geht das auch einfach alles schon zu lange …“

      „… mit deiner Frau?“, fragte Karl diesmal vorsichtig.

      „Nein, ich meine mit Hertha. So leicht ist das ja eben alles nicht. Meine Frau fühlt sich schon sehr wohl in Düsseldorf, wir wohnen drüben in Eller. Jetzt hat mein Sohn selbst mit dem Fußballspielen angefangen – bei Eller 04. Und vor Monaten hat er mich schon gefragt, ob wir zusammen mal zu Fortuna gehen. Ich meine: Fortuna!“

      Karl hob ermahnend den Zeigefinger. Hertha und Fortuna hatten zuletzt einiges ausgefochten, aber das gehörte hier nicht her, das musste klar sein.

      Natürlich wollte Ralf den Kleinen mit dem Hertha-Virus infizieren. Ehrensache. Nun hatte die neue Zweitligasaison schon begonnen, Ralf hatte sich die ersten beiden Spiele angeguckt, in denen Hertha nur einen Punkt geholt hatte. Und Karl hatte Ralf sofort im Verdacht, dass der nur die harten Zeiten nicht mitmachen wollte. Dabei hatte Ralf schon viel schlimmere erlebt, und mit Hertha würde es wieder aufwärts gehen. Ralf war vielmehr wichtig, dass es mit ihm selbst mal aufwärts ging. In der Sommerpause wurde ihm klar, wohin der ganze Fußballkram führen würde: samstagmorgens zum Spiel des Sohnes, danach Hertha oder Bundesliga. Nur ein Thema. Klar, so war er groß geworden: Hertha, Hertha, Hertha. „Aber bin ich dadurch glücklich geworden?“, fragte er.

      Das war uns allen ganz schön peinlich. Da saßen wir, Singles und Familienväter, Arbeiter und Akademiker. Wir hatten die Leidenschaft für die geilste Nebensache der Welt, doch so richtig glücklich waren wir alle nicht. Es war der erste


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