Systemabsturz. Constantin Gillies

Systemabsturz - Constantin Gillies


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Kilometer entfernt noch Fenster zu Bruch gingen. Menschen kamen nicht zu Schaden. Die Kommentatoren konzentrierten sich darauf, anzumerken, dass solche Ereignisse im Flächenland Russland normal seien und durch die allgegenwärtigen Dashcams jetzt erst sichtbar würden.

      Dass Kurtschatow einmal eine geschlossene Stadt war, erwähnte niemand.

      *** #01 ***

      Warum kann sie nicht einfach sagen, was los ist?

      Harry ist wie eins dieser modernen Betriebssysteme, die kein »file not found« mehr rausrotzen, sondern alles weichspülen, jede Nachricht pseudo-kumpelhaft verpacken, von wegen »Sorry, ich kann leider gerade nicht finden, wonach du suchst«. Einfach ekelhaft.

      Was – will – sie?

      »Schröder … weißt du …«

      Oh nein, sie legt den Kopf schief und knipst das Fernlicht an. Das ist so was von unfair. Dieser Blick ist echt ihre Geheimwaffe. Sie weiß, dass ich ihr nichts, was sie gleich fordern wird, abschlagen kann, dieses Biest.

      »Wir könnten jemanden wie dich echt brauchen

      Unfassbar, sie will mich wirklich einstellen.

      Harriet Thorborg und Schröder sollen wieder in ein und demselben Team spielen. Fucking unfassbar.

      Mindestens so unfassbar ist allerdings, dass sie das mit ihrem Business überhaupt hingekriegt hat. Kaum war sie bei der Forensecura letztes Jahr wegen der Aktion in Bangkok rausgeflogen, hatte sie schon ihren eigenen Laden am Start: Thorborg und Partner, Forensic Investigations, Ihr kompetenter Partner in IT-Sicherheitsfragen, wir begrüßen Sie gerne in unseren repräsentativen Büros direkt am Flussbogen.

      Kleine Streberin.

      Sie zieht die Sache wohl zusammen mit irgendeiner Anna-Lena hoch, was vom Namen her verdächtig nach einer üblen Weltverbessernden Anfang zwanzig klingt. Schon nach einer Woche haben sie angeblich einen dicken Auftrag an Land gezogen, eine ganze Reihe von Sicherheits-Audits bei einer Krankenhaus-Kette oder so.

      Hut ab. Andererseits – klar, schließlich hat sie ja beim Besten gelernt.

      Sooo prall scheint ihr Business allerdings auch nicht zu laufen, sonst würde sie sich nicht in den Staub werfen, damit ich bei der Chose mitmache.

      Das muss alles ein Witz sein.

      »Ja, aber, wie stellste dir das vor, Harry? Soll ich Partner werden, oder was?«

      Sie schaut verlegen runter.

      »Na ja …« Aha, jetzt kommt der Haken! »Also angesichts … also das Startkapital, das kommt ja von uns, also von der Anna-Lena und mir.«

      Was im Übrigen noch viel fucking unfassbarer ist: Wie schafft sie es, Geld für eine Firmengründung beiseitezulegen, während jeder normale Mensch die Kohle raushaut wie ein besoffener Matrose? Wobei es keineswegs finanziell unmündig ist, am Anfang des 21. Jahrhunderts ein Monatsgehalt in einen fabrikneuen SX-64 zu investieren!

      »Also, da du ja kein Kapital mitbringst, Schröder …«

      Bitte keine unnötigen Höflichkeiten, Frau Thorborg.

      »Korrekt, ich bringe nichts mit. Und deshalb wärst du dann die Chefin?«

      Bam, sie läuft knallrot an. Süß.

      »Nein! Also doch. Aber nur auf dem Papier, und …«

      Ich würde also unter ihr arbeiten. Da lassen sich Beavis und Butthead im Hinterkopf natürlich ein »Ch-ch« nicht nehmen.

      Auf eine kranke Art macht es Spaß, dabei zuzusehen, wie sie sich windet.

      Was für eine totale Schnapsidee, dass ich in ihrer Firma anfangen soll! Dagegen sprechen so unendlich viele Gründe, mindestens eine Million, zum Beispiel, zum Beispiel …

      »Harry, meinst du wirklich, dass das eine gute Idee ist – ich, du und Anna-Lisa?«

      »Anna-Lena.«

      Und schon wieder ein genervtes Augenrollen kassiert.

      »Okay, Anna-Lena eben. Allein der Name … Die ist doch bestimmt superjung, und ganz ehrlich, Harry: Ich kann diese Kids nicht mehr aushalten, die sind mir alle einfach … zu jung. Also nur so zum Beispiel: Deren Vorstellung von Hi-Fi ist es, ihr Handy beim Musikabspielen auf ein Glas zu legen, weil’s dann lauter wird. Und das Ganze feiern sie dann noch – hach-hui – als tollen Life-Hack. Nee echt, Harry, mit der Generation kann ich nix anfangen. Und überhaupt …«

      »Schröder …«

      »Diese Anna-Lena ist bestimmt so eine, die sich überall im Schneidersitz hinsetzt, oder?«

      »Schröder …«

      »Also im Casa, da bedient auch so eine Tante aus dieser Generation, und die fragt mich immer, ob ich den Cappuccino mit Kuhmilch haben will, und dabei betont sie das Wort immer, als wäre Kuhmilch so was wie Meth, weil in dem Scheiß-Ökoladen ja jeder seinen Kaffee nur noch mit veganer Sojabrühe runterwürgt. Also mit diesen jungen Frauen, also das könnte – rein beruflich –, also da …«

      »Schröder! Anna-Lena ist fünfunddreißig – und verdammt kompetent! Alles klar?«

      Ihre Stimme überschlägt sich – höchste Zeit, die Klappe zu halten.

      »Meinte ja nur …«

      »Och, Schröder.«

      Ja, och Schröder. Warum muss sie das wieder so sagen und dabei enttäuscht den Kopf hängen lassen? Da kann ich doch nix für. Warum müssen alle Diskussionen mit ihr nach spätestens zwei Minuten mit einem »Och Schröder« enden – und mit diesem Blick, der zu gleichen Teilen aus Wut und Resignation besteht. Mir ging es doch nur darum, hier im Vorfeld ein paar potenzielle intergenerationelle Konfliktherde anzusprechen.

      Unser Spaziergang ist eigentlich viel zu schön, um ihn sich mit einem Och-Schröder-Vortrag zu versauen.

      »Okay, ich denk drüber nach, Harry.«

      Pling, ihre Lampen sind wieder an.

      »Danke.«

      Und schon nimmt sie wieder das volle Harriet-Thorborg-Marschtempo auf, das sich hart an der Grenze zum Joggen bewegt. Wird sie jedes Jahr schneller – oder werde ich nur immer unfitter? Mit diesem Persönchen, wie Oma gesagt hätte, kann ja keiner mehr mithalten.

      Eigentlich war dieser Spaziergang eine sehr schöne Idee. Sie kam natürlich von ihr: Nach monatelanger Funkstille hatte sie gestern einfach so mir nichts, dir nichts angerufen und vorgeschlagen, man könne doch mal rausfahren und so.

      Mutter hätte uns so eine Aktion unter dem Label »mal ordentlich durchpusten lassen« verkauft. Dass man durchaus vierzehn Stunden am Tag Beach Head zocken kann, ohne auch nur das kleinste Durchpustbedürfnis zu verspüren, überstieg damals ihre Vorstellungskraft.

      Nach einer ausführlichen Bedenkzeit von einer Femtosekunde habe ich zugesagt. Wenn Seven of Nine ihre Gesellschaft anbietet, ist Zögern fehl am Platz.

      Vorhin habe ich sie dann, ganz Gentleman, mit dem Mirth Mobile eingesammelt, und wir sind raus zu diesem Parkplatz, wo dieses alte Wanderschild hängt, auf dem der Typ einen Hut trägt und bei der Tante die Haare nach hinten wehen, weil sie so stramm marschiert. Lustig, eigentlich wie Harry.

      »Schön hier, Schröder, oder?«

      Dass sie bei dem Tempo überhaupt noch reden kann.

      »Hm.«

      Sie wird auf ihre alten Tage doch nicht so ein Outdoor-Fanatiker? Viele Leute in unserem Alter radikalisieren sich ja total und fangen an, den ganzen Scheiß zu lieben, den sie als Kind gehasst haben: spazieren gehen, sich durch Museen schleppen, sich mal ordentlich durchpusten lassen.

      Harrys Look sieht jedenfalls verschärft nach Stockholm-Outdoor-Syndrom aus: Sie trägt eine grüne Jacke mit Cordkragen


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