Systemabsturz. Constantin Gillies
auf, grinst – und wendet sich wieder seinen Pancakes zu.
Diese Reaktion hat Neumann schon mehrfach beobachtet. Ein verliebtes Paar in ihrem Alter zaubert vielen Leuten ein Lächeln ins Gesicht, vereinzelt entfährt den Umstehenden sogar dieses »Awww«, mit dem die Amerikaner alles auch nur entfernt Anrührende kommentieren.
Obwohl Neumann spürt, wie seine Wangen glühen, versucht er, Gladys’ Blick standzuhalten. Aber natürlich kann er ihr nichts vormachen. Sie spürt seine Nervosität und entlässt ihn – kopfschüttelnd – aus der Umarmung.
»I’ll be right back. Help yourself.«
Sie formt ihre Lippen zu einem angedeuteten Kuss.
Neumann steuert – sichtbar erleichtert – die Lücke im Tresen an, durch die man vom Gastraum in die Küche kommt und neben der die Kaffeemaschinen stehen.
Früher, als er hier nur Gast war, hätte er sich das nie getraut, schließlich befindet sich hinter dem Tresen das Revier der Kellnerinnen. Doch seit fast einem Jahr ist alles anders.
Neumann lässt ein wenig Kaffee in die braune Steinguttasse plätschern, nippt daran und beobachtet über den Rand der Tasse hinweg, wie die Kellnerin durch die schwarz-weiß gekachelten Gänge des Coffeeshops eilt.
Gladys hat sich kein Stück verändert. Sie ist im Kern das gleiche Mädchen geblieben, das ihm hier vor Ewigkeiten seinen ersten amerikanischen Kaffee gereicht hat, ihm, diesem Sonderling fresh off the boat, der mit seinem harten Akzent klang wie die Nazis in den Hollywood-Filmen.
Die Bewegung, mit der sie nach dem Aufnehmen der Bestellung ihren Kugelschreiber hinters Ohr klemmt, hat nichts an Zackigkeit eingebüßt. Zugegeben, sie trägt ihr Haar etwas kürzer als früher, und auch ihre Kleidung wählt sie eher nach praktischen Erwägungen aus: kein hellblaues knielanges Kleid mit Schürze mehr, sondern Jeans und T-Shirt. Doch ihre alte Uniform würde ihr zweifelsohne noch passen.
Neumann grinst in seine Tasse.
Er ist ein alter Narr – aber ein glücklicher alter Narr. In manchen Momenten schämt er sich sogar fast für sein Glück, gerade angesichts der Sache mit Chuck.
Es sei nur ein hit and run gewesen, sagten die Polizisten, Unfallflucht. Wahrscheinlich stand der Fahrer unter dem Einfluss von Alkohol, Drogen oder Schmerzmitteln. Das Auto erfasste Chuck und schleuderte ihn dreißig Fuß durch die Luft. Weil sich der Unfall weit draußen in der Wüste ereignete, kam die Ambulanz viel zu spät. Noch bevor sie das Krankenhaus erreichten, war Chuck tot. D.O.A., dead on arrival. Dieses Land ist ungeschlagen darin, Unangenehmes in Abkürzungen zu verpacken.
Er hatte die Geschichte von der Fahrerflucht nie geglaubt. Selbst auf die Gefahr hin, wie dieser merkwürdige Thomas Leinhart mit seinen Verschwörungstheorien zu klingen: Es kann kein Unfall gewesen sein, dafür gab es zu viele Ungereimtheiten. Warum sollte jemand eine Person auf einer einsamen Wüstenstraße ohne nennenswerten Verkehr aus Versehen überfahren? Es hätte reichlich Platz gegeben, um eine Kollision zu vermeiden.
Er hatte seine Bedenken natürlich gegenüber dem Sheriff’s Department geäußert, dort jedoch hatte man ihn geflissentlich ignoriert. Der Fall wurde zu den Akten gelegt und Chuck Gardner zu einem weiteren indirekten Opfer der Opioid-Krise erklärt.
Neumann atmet durch und klappt den Karton komplett auf.
Das ist also sein Nachlass.
Sie habe sich entschlossen, zurück zu ihrer Familie nach Pennsylvania zu ziehen, hatte Peggy am Telefon gesagt, und sie wisse nicht, wohin mit Chucks Sachen. Es war eine Frage der Höflichkeit, ihr sofort seine Hilfe anzubieten. Er, der gute Hausfreund, der den Gardner-Kindern beim Zelten immer diese schrecklich-schauerlichen Geschichten vom »Ruubessahl« erzählt hatte, war im Obligo. Er konnte Peggy unmöglich etwas abschlagen – so gerne er die Geschichte mit Chuck auch hinter sich gelassen hätte.
»Sure, I’ll take care of it«, bot er pflichtbewusst an.
Angesichts des lächerlichen Kartons, den sie dann schickte, schämte er sich, auch nur einen Moment gezögert zu haben.
Neumann zieht ein gerahmtes Bild aus dem Karton, das ganz obenauf liegt. Offensichtlich eine analoge Aufnahme, erkennbar an der starken Körnung, aus der Zeit der Pathfinder-Mission. Abgelichtet sind Chuck, er und das restliche Team des Jet Propulsion Laboratory, wie sie stolz neben dem spinnenbeinigen Sojourner-Rover posieren. Damals hatten alle feuchte Augen, als der Pathfinder sich das erste Mal aus dem Ares Vallis meldete.
Neumann lächelt.
Mein Gott, was waren Chucks Haare grau. Obwohl die Aufnahme aus den Neunzigern stammen muss, sieht er mit seinem strengen Scheitel und dem kurzärmeligen weißen Hemd wie ein Vorzeigewissenschaftler der Apollo-Ära aus.
Daran, wie das Foto entstanden ist, kann er sich noch erinnern: Sie hatten den Fotografen bei einem offiziellen Termin um ein Extrabild gebeten, als Erinnerung an eine großartige Zeit, vielleicht die beste ihres Lebens.
Neumann legt das Bild vorsichtig zurück.
Warum musste er nur sterben?
*** #03 ***
Verdammte Goldknopfsakko-Pissnelke!
Thomas Leinhart spürt, wie die wenigen übrig gebliebenen Haarsträhnen auf seiner verschwitzten Kopfhaut festkleben.
Wahrscheinlich sieht er wieder wie ein verschissener Kojak aus, doch das könnte in diesem Moment kaum egaler sein.
»Was soll das heißen, Andrew?«
Spuckefetzen schießen aus Leinharts Mund. »Wovon reden Sie? Chapter Eleven?«
Während er sein Handy ans Ohr presst, knetet er mit der freien Hand die Sorgenfalte zwischen seinen Augenbrauen, die – obwohl er seit Jahrzehnten keine Sorgen mehr hat – immer tiefer zu werden scheint.
Das konnte alles nicht wahr sein. NuWork, diese supertolle Ami-Firma, die mit ihren Mietbüros in den letzten zwei Jahren die ganze Welt erobert hat, soll kurz vor der Pleite stehen? Dabei sei die doch ein »reinrassiges Powerhouse«, hatte Andrew geschwärmt, mit einem charismatischen CEO, der seine Leute dazu zwingt, in Meetings die ganze Zeit Unterarmstütze zu machen. NuWork sei das nächste Einhorn, ganz sicher, der nächste Milliardenkonzern! Und diese Investment-Gelegenheit wollen Sie sich doch nicht entgehen lassen, Herr Leinhart, oder?
Und jetzt? Chapter Eleven, Zahlungsunfähigkeit. Andrew hat nur Bullshit abgesondert.
Doch was viel schlimmer ist: Er, Thomas Leinhart, der total abgebrühte Dotcom-Selfmade-Millionär, hat diesem kleinen Londoner Wichser geglaubt und ihm die Kontrolle über sein Portfolio gegeben. Er hat ihm erlaubt, alle Eier in ein Nest zu legen, auf Diversifikation zu pfeifen. Weil der große Leinhart den Hals mal wieder nicht vollkriegen konnte.
Und der Idiot Andrew hat wirklich nichts anbrennen lassen. Hat sofort die ganzen soliden Werte verscherbelt, die der Familie Leinhart so lange einen bombigen Lebensstil beschert hatten, um die Kohle in Start-ups »mit einer besseren Wachstums-Story« zu stecken, wie er sagte. Berkshire Hathaway raus, NuWork rein.
Die Adern an Leinharts Hals treten wie Stromkabel hervor.
»Hören Sie auf mit Ihrem verdammten Scheiß und sagen Sie mir endlich, was los ist!«
Leinhart versucht, die zitternde Hand in der Tasche seiner Leinenhose zu verbergen. Das paradiesische Panorama vor seinen Augen nimmt er nur noch wie durch einen Nebel wahr. Die lange Marmortreppe runter zum See, die roten Blumen auf dem Geländer, das Glitzern der Wellen – nichts dringt in sein Bewusstsein vor.
Azra wollte die Bude unbedingt kaufen, damit sie zu Hause erzählen kann, dass sie jetzt die Nachbarin von diesem Espresso saufenden, absurd gut erhaltenen Hollywood-Schnösel ist.
Für Leinhart war ausschlaggebender, dass er von der Terrasse der Villa aus die Einflugschneise des Aero Club Como sehen könnte. Seine Vision für die Zukunft hatte nichts mit den prominenten Nachbarn zu tun. Er