Systemabsturz. Constantin Gillies
Bude war der Boden mit so hässlichem Wirtschaftswunder-Linoleum ausgelegt, aber das konnte man nie erkennen, weil jeder Quadratzentimeter mit alten Ausgaben von »Elektor« und »Aktueller Software Markt« gepflastert war.
Die sind jetzt alle im Keller, genau wie der Rest der Einrichtung: die alten PC-Tower, der Fisher-Ghettoblaster mit dem abgenudelten Turrican-Soundtrack, mein geliebter GRiD Compass, einfach alles Schöne ist verschwunden. Jetzt ist der Boden leer und man sieht dieses ach so praktische Laminat, das sich am Arsch echt kalt anfühlt.
Du brauchst diese schwarzen Ledersessel, die Bateman in »American Psycho« in seinem Apartment hat. Weißte, in der Huey-Lewis-Szene, wo er dem Typen mit der Axt die Birne …
American Psycho, American Gigolo – was seine Vorbilder angeht, ist Leines auch in BRD-Zeiten stehen geblieben: Alles muss aus Amiland sein, sonst isses Shit. Punkt. Englische Sachen gehen notfalls noch, aber eigentlich taugt alles von dieser Seite des großen Teichs nichts. So richtig abgeschüttelt haben wir das alle noch nicht.
Zumindest einen Vorteil hat der leere Boden: Man sieht jetzt, wie die Sonne beim Untergehen diese goldenen Quadrate auf den Boden wirft, das gäbe ’ne gute Zeitrafferaufnahme.
So sieht also Schröders großer Respawn aus: ohne den abgeranzten Flur mit Lichtschaltern aus Adolfs Zeit, ohne die Patrick-Nagel-Zeichnung von der Duran-Duran-Platte, ohne Greg, der sich nebenan die Rübe wegdampft, während er an der Playsi den Dritten Weltkrieg austrägt.
Das aufgeräumte Apartment eines erwachsenen Menschen.
Irgendwie seelenlos.
Aber es hilft nichts: Grand Nerd Island hat dichtgemacht, für immer. Schröder hat jetzt Style, bei dem ist der Boden so blank, dass man gefahrlos eine Herzverpflanzung drauf durchführen könnte.
Was Harry wohl zum neuen Schröder sagt?
Okay, nach meiner Vorstellung vorhin wird sie hier wohl nicht mehr aufschlagen und den geballten Style in Augenschein nehmen. Es war trotzdem gut, sie wiederzusehen, nach diesem beschissenen Jahr bei meinem neuen Arbeitgeber.
Finanzbuchhaltungs-Software coden – echt die Höchststrafe.
Oder besser gesagt: Finanzbuchhaltungs-Software debuggen, die jemand vor zehn Jahren geschrieben hat. Und bei diesem Jemand handelte es sich – nach der Qualität zu urteilen – um drei Schimpansen, die man vor ein Keyboard gesetzt hat.
Natürlich gibt’s zum alten Code keinen Fitzel Dokumentation, aber das sei »ja wohl kein Thema«, findet Carsten, der Big Boss aus der Hölle, der sich für superqualifiziert hält, weil er im letzten Jahrtausend mal eine Flash-Animation zusammengekloppt hat. Schreit die ganze Zeit »Wir brauchen ein Emm-Wie-Pieh!«, was Minimum Viable Product oder auf Deutsch unausgereifter Schrott bedeutet.
Für Harry zu arbeiten kann nicht schlimmer sein.
Es wäre vermutlich großartig, aber der Zug ist ja nun abgefahren.
Dabei war beim Spaziergang vorhin fast alles wie früher bei der Forensecura: Harry, die ewige Klugscheißerin, und Schröder, das grantige Legacy System, spielen sich locker gegenseitig die Bälle zu, tauschen Nerdigkeiten aus.
Wie viele Frauen gibt es wohl auf dieser Erde, die auf »Darmok und Jalad auf Tanagra« mit »Temba! Seine Arme weit!« antworten? »Star Trek TNG« gehört zu den wenigen essenziellen Sachen, die sie in ihrer offenbar ziemlich traurigen Jugend gesehen hat. Sogar bei meinen ausgelutschten Insider-Jokes über Achselhöhlen-Inspektionen hat sie sich ein Lächeln abgequetscht.
Wenn man mal drüber nachdenkt, sind wir eine fleischgewordene Vorabendserie aus den Neunzigern: Harry und Schröder, das ungleiche Ermittlerduo. Das Ganze bräuchte nur noch einen total flippigen Untertitel, so was in Richtung »Das IT-Girl und der Schnüffler«. Im Vorspann würden wir – ordentlich weichgezeichnet – Rücken an Rücken stehen und total ungezwungen in die Kamera lächeln.
Dabei wollte ich ihr eigentlich die Wahrheit sagen: dass es großartig ist, sie mal wieder zu sehen und so. Aber dann kam nur dieser ganze Scheiß von Anna-Lena und Sojamilch dabei raus und jetzt ist der Moment vorbei. Ich Idiot hätte wieder jeden Tag neben ihr sitzen können, neben Seven of Nine! Thorborg hätte mich ass-similiert!
Sie jetzt noch mal anzurufen und zu fragen, ob das Jobangebot noch gilt, geht natürlich nicht. Das wäre gegen die Ehre. Mister Worf würde sich lieber das Bat’leth in seinen Wanst rammen, als so was zu machen.
Andererseits sind Klingonen vielleicht nicht die besten Lebensratgeber.
Och, Schröder …
Es klingelt. Dieser generische Spießer-Neubau-Gong, nicht mehr der wimmernde Dreiklang des legendären SAB0600-Chips von Siemens …
Wer kann es um die Zeit sein? Bisher hat doch keiner meine neue Adresse.
Bitte, lass es Harry sein, die vor der Tür steht.
*** #06 ***
Noch zwei Wochen, dann wird sie auffliegen.
Behutsam klappt Harriet Thorborg den Laptop zu. Ein Teil von ihr würde den Deckel gerne mit aller Kraft zuschmeißen, doch Wut – plus ein Hardware-Schaden – würden ihre Situation nur noch verschlimmern und am Ergebnis nichts ändern.
Ihr kleines Experiment ist gescheitert.
Thorborg dreht ihren Stuhl Richtung Fenster. Das Büroquartier gegenüber ist in den Schlaf gesunken; nur in ein paar Foyers auf der anderen Seite des Flusses brennt noch Licht.
Wie viel Kohle kostet diese großartige Aussicht jede Minute? Deutlich zu viel, das steht fest. Das war ihr Fehler Nummer eins: zu groß gedacht. Sie wollte nicht in der Studentenbude rumkrebsen, sondern direkt auf repräsentativ machen. Sie hatte keine Geduld, das Geschäft langsam hochzufahren, sondern wollte direkt in der Oberliga mitkicken. Frau Thorborg musste direkt den Executive spielen!
Sie lehnt sich mit der Stirn an die Scheibe, um die Uferpromenade unter ihrem Fenster erkennen zu können.
Kein einziger Hundebesitzer dreht mehr seine Runden, kein Penner ist auf der Suche nach Pfandflaschen. Sie muss die letzte wache Person in dieser Stadt sein, wie so oft in den letzten Wochen. Und wofür?
In der Krönung-Light-Werbung sah alles so leicht aus. Das Leben als Geschäftsfrau schien ein Spaziergang zu sein: im Kostümchen ins Meeting stolpern, kurz wichtig auf einer Flipchart rumzeigen, abends zum Aerobic-Kurs und danach mit dem Cabrio-Typen ausgehen. Und all das – die Krönung der Lächerlichkeit – mit »halb so viel an Koffein«.
Sie haben sich gnadenlos übernommen.
Sie hätten merken müssen, dass der Auftrag dieser Klinik-Heinis eine Nummer zu groß ist. Umfassende Sicherheitsaudits und Penetrationstests durchführen, dazu hundertseitige Reports in zwei Sprachen abliefern, in denen jeder einzelne Befund nach Common Vulnerability Scoring System bewertet ist, plus Zusammenfassung für die Geschäftsführung – das ist für zwei einfach zu viel. Selbst wenn der Tag 36 Stunden hätte und sie aufs Schlafen verzichten würden, könnten sie den Report nicht bis zur Deadline abliefern.
Jetzt ist die Sache glasklar. Doch als dieser Manager vor zwei Wochen freitagabends angerufen hatte und wegen seines Sicherheitsvorfalls total aus dem Häuschen war, besaß sie dieses Wissen leider noch nicht. Da hatte sie nur den großen Namen vor Augen.
Und dann schlug auch direkt Fehler Nummer zwei zu: Sie haben keine Ahnung von Wirtschaft. Zwei Online-Crashkurse in Betriebsführung machen eben noch keinen guten Unternehmer, und Anna-Lenas abgebrochene Ausbildung als Industriekauffrau konnte es auch nicht rausreißen. Ihnen fehlen einfach die Basics. Allein dieser peinliche Moment, als Anna-Lenas Mann sie darauf hinweisen musste, dass auf eine Rechnung eine Steuernummer gehört … Gottseidank hat er das Ding aus Zufall im Drucker gesehen.
Und sie haben sich nicht das Kleingedruckte durchgelesen, dass ihnen die Klinik-Heinis untergejubelt haben. Das hätten sie echt besser gemacht. Dann wäre ihnen nämlich aufgefallen,