Systemabsturz. Constantin Gillies
drei Monate auf ihr Geld warten, während ihnen die Kosten für das Büro langsam die Luft abdrücken. Jeder Späti wirtschaftet professioneller.
Noch zwei Wochen bis zum finalen Report.
Doch den werden sie nicht liefern können, nicht mal, wenn der Kunde noch einen Monat drauflegt. Wenn sie diese Deadline reißen, dürfte der Ruf von Thorborg & Partner in der Branche ein für alle Mal verbrannt sein, kein CIO wird mehr das Risiko eingehen, sie zu engagieren. Sie können dichtmachen.
Anna-Lena wird es wegstecken, schließlich bringt ihr Peter genug Kohle nach Hause, um die kleine Familie durchzubringen. Sie selbst wird sich auch irgendwie durchschlagen, selbst wenn die letzten Reserven aufgebraucht sind. Im Zweifel müsste sie – und das wäre die finale Demütigung – zurück zu ihren Eltern ziehen. Sie würde Mutter den Beweis dafür liefern, dass ihre Befürchtungen berechtigt waren – dass die Kleine in der großen Stadt nichts als Unglück haben wird.
Viel schlimmer ist, dass sie dann verloren hätte.
Thorborg zieht die Schultern nach hinten.
Jetzt bloß kein Selbstmitleid! Bei Sturm zeigt sich der gute Kapitän, nicht bei schönem Wetter.
Es bleiben noch zwei Wochen.
Wenn Schröder bloß Ja gesagt hätte. Mit einer dritten Person am Start hätten sie die Chance gehabt, den Job zumindest rechtzeitig fertigzukriegen.
Natürlich war es mies, ausgerechnet ihn zu fragen. Andererseits, wen hätte sie sonst fragen sollen? Sie brauchen jemanden, der sofort loslegen kann, der vom ersten Tag an Deckungsbeiträge erwirtschaftet. Jemanden, der kein Problem mit Crunch Time hat und bei dem sich zuhause niemand beschwert, wenn er Sonntagabend erst nach elf aus dem Büro kommt. Anna-Lena muss ja immer zu ihrer Kleinen, die ist ohnehin schon am Limit.
Sie brauchen einen nützlichen Idioten ohne Privatleben.
Und da kommt nur Schröder infrage.
Sie hat sich echt in ein Miststück verwandelt – dazu noch in ein fettes Miststück.
Thorborg legt prüfend die Hände um ihre Oberschenkel.
So eng war die Hose im letzten Quartal noch nicht, wochenlang nur noch Cheat Days ohne Sport einzulegen, musste ja Spuren hinterlassen. Sie ist dabei, zu einer dieser aufgedunsenen Personen zu mutieren, die sie heimlich verachtet hat. Sie dachte immer, diese Leute würden sich nur hängen lassen.
Mit Schröder hätten sie die Sache vielleicht noch rumreißen können. Aber der musste ja mal wieder seinen Alte-weiße-Männer-Scheiß absondern, von wegen Anna-Lena sei zu jung. Er hatte ja schon einige bizarre Vorträge gehalten, aber das war definitiv der bizarrste.
Thorborgs Mundwinkel zucken kurz nach oben.
Es war einfach naiv anzunehmen, Schröder würde sich ändern.
Warum sollte er, sein Leben funktioniert ja auch so, zumindest für ihn. Und seinem Aussehen schadet es anscheinend auch nicht. Komplett ohne Ambitionen unterwegs zu sein, bedeutet eben auch: keine Sorgen, kein Verschleiß. Bis auf ein paar graue Haare mehr an den Schläfen war er völlig unverändert. Okay, seine Verschrobenheit hat sich vielleicht ein bisschen verschärft – sie musste zehn Minuten lang raten, warum sein neues Kennzeichen auf DR529 endet.
Natürlich ist er immer noch total verliebt in sie, das konnte man an jedem seiner Blicke ablesen. Das hätte ohnehin nur Probleme gegeben, wenn sie wieder im gleichen Büro sitzen.
Thorborg stemmt sich hoch und tippt auf das kleine Display an der Wand, mit dem sich die Jalousien steuern lassen. Unter leisem Wimmern beginnen die Lamellen sich zu drehen und den Blick über die nächtliche Stadt zu verdunkeln.
Schröder hat’s gut, der macht sich nie Sorgen. Beneidenswert.
Plötzlich zuckt Thorborgs Hand zurück zur Jalousien-Steuerung, das Wimmern verstummt.
Etwas stimmt nicht, sie kann bloß nicht sagen, was.
Doch, sie kann es sagen!
Bevor sich die Jalousien komplett geschlossen hatten, war da ein Schatten unterhalb ihres Bürofensters, als ob sich jemand gegen die Hauswand drücken würde. Wer immer es war, er musste allein unterwegs sein. Unter den Laternen am Ufer hatte sich nämlich nichts bewegt, nicht mal ein Hund.
Obwohl der Vermieter sie ausdrücklich darauf hingewiesen hat, das nicht zu tun, schiebt Thorborg zwei Lamellen mit der Hand auseinander, um erneut einen Blick auf die Uferpromenade zu werfen.
Es ist doch niemand da. Sie hat sich geirrt.
Thorborg lässt die Jalousien wieder zugleiten, verstaut sorgfältig ihren Laptop in der schwarzen Coccinelle-Tasche und schaltet das Schreibtischlicht aus.
Vielleicht ist es besser, dass Schröder Nein gesagt hat.
*** #07 ***
Leines hat recht: Alles ist cooler, wenn man es in einem leeren Raum tut.
Der Karton, den der Kurier eben reingereicht hat, sieht mitten in der Laminat-Wüste wie ein Altar aus. Was immer Jesko da reingetan hat, es scheint megawichtig zu sein, sonst hätte er nicht den ultrateuren Über-Nacht-Service gelöhnt.
In der leeren Bude bringt Unboxing erst richtig Spaß – auch wenn im Karton nur diverser Elektroschrott und dieser China-Laptop ist. Die Analyse dieses geheimnisvollen Geräts gilt es jetzt Ridley-Scott-artig zu feiern:
Der Lone Wolf hockt sich in der Mitte seines leeren Apartments auf den Boden, völlig regungslos, bis auf seine Finger, die übermenschlich schnell über die Tastatur huschen. Der neonblaue Schein des Laptops fällt auf sein ebenso regungsloses Gesicht, sein Körper wirft einen langen Schatten durch den Raum.
Schnitt, eine Kamera an der Decke filmt das Geschehen von oben, natürlich durch die Blätter eines langsam rotierenden Ventilators hindurch (noch anzuschaffen). Der Held hat um sich herum sorgfältig seine Ausrüstungsgegenstände drapiert. Fetischartig langsam inspiziert die Kamera den Incident-Response-Koffer, in dem sich – in präzisen Schaumstoffhöhlen – industriell wirkende Gerätschaften befinden.
Der Mann entnimmt dem Koffer ein Kabel, zielsicher wie ein Green Beret, der im dunklen Unterholz des Dschungels eine Claymore-Mine platziert.
Aus dem Off schwillt das Wummern einer Bassdrum an, überlagert von den schneidenden Rechteck-Wellen eines Synthies.
Der Held widersteht der Versuchung, in einen enthemmten Papa-in-der-Disco-Tanz auszubrechen, weil er nicht vorhat, Hugh Jackman als peinlichsten Leinwand-Hacker aller Zeiten zu beerben. Junge, war diese Szene in »Swordfish« uncool …
Nahaufnahme vom Auge des Helden: Völlig zufällige Codezeilen fliegen vorbei, am besten ein Programm für den Apple II – wie der Autopilot von »Airwolf« damals, der in Wirklichkeit ein Zufallsnummerngenerator war.
Noch krasseres Close-up: Seine Pupille verengt sich blitzartig.
Der Held hat etwas gesehen, was er nicht sehen sollte (soll der Held jemals etwas sehen?). Die Informationen auf dem Bildschirm sind nicht für seine Augen bestimmt, nicht für die Augen der Welt. Dieses Wissen wird ihn zum Staatsfeind Nummer eins machen, es ist der ultimative Code, eine Killer-Anwendung … es ist …
Eine staatsgefährdende Ziegenfütterung?
Cut, cut, cut!
So wird das nichts mit der epischen Hacking-Szene. Auf dem Laptop, den Jesko geschickt hat, ist nur Scheiß: Fotos von Menschen, die grinsend Weihnachtssocken an den Kamin hängen. Selfies von einem grauhaarigen Typen mit so einer helmartigen Playmo-Frisur. Verwackelte Handyfotos von Windel tragenden Babys, die in Planschbecken rumtoben – und halt von Kindern, die Ziegen füttern.
Was der Held im Halbdunkel hier seziert, ist der Laptop eines Opas, und der enthält die so ziemlich unbrisantesten Informationen der Menschheitsgeschichte. Aber Job ist Job, und wenn Jesko mich um etwas bittet, dann muss das gemacht werden.
Der