Systemabsturz. Constantin Gillies
nach Garagentor, jedes mit einer großen weißen Zahl markiert, zieht vorbei.
12, 16 und 22.
Neumann widersteht der Versuchung, mehr Gas zu geben, und behält die Schrittgeschwindigkeit bei.
28, 34, 36.
Eine kleine Straße durchschneidet das Labyrinth der Lagerhallen.
38, 40 – 42.
Er ist da.
Rein äußerlich unterscheidet sich die Lagereinheit 42 nicht von den zahllosen anderen: ein leicht länglicher Flachbau aus Waschbeton, vorne mit einem dunkelgrün gestrichenen Tor versehen.
Einige dieser Storage-Anlagen sind sehr runtergekommen, diese hingegen macht einen äußerst gepflegten Eindruck. Sogar die Vorhängeschlösser, mit denen die Rolltore am Boden fixiert sind, scheinen alle vom gleichen Hersteller zu sein. Bei anderen Anbietern dürfen die Kunden ihre eigenen Schlösser mitbringen, was optisch immer sehr unruhig wirkt und auch aus Sicherheitsaspekten nicht optimal ist.
Neumann dreht den Zündschlüssel, der Motor des Honda geht gluckernd aus.
War seine Recherche bis hier hin schon recht spekulativ, sollte sie nun endgültig zum Glücksspiel verkommen: Er hat nur eine einzige Chance, an das, was sich in dem Lagerraum befindet, heranzukommen. Sollte der Schlüssel, der im Karton mit Chucks Nachlass lag, nicht passen, war alles umsonst und er kann sofort wieder umkehren und nach Hause fahren. Ein Single Point of Failure – dergleichen hätte es beim Lab nicht gegeben … Kein Nasa-Ingenieur würde ein System entwerfen, dessen Funktionsfähigkeit durch einen Fehler an einer einzigen Stelle in Gefahr gebracht wird.
Neumann tastet in der Feuerzeugtasche seiner Jeans nach dem Schlüssel. Jetzt bloß nicht in Hektik verfallen! Wenn ein so kleiner Gegenstand hier im Auto zwischen die Sitze rutscht, würde das eine halbe Stunde für den Rücken äußerst schmerzhafter Akrobatik bedeuten. Da, er hat ihn. Von der Größe her könnte der Schlüssel durchaus zu einem der Vorhängeschlösser passen. Vorausgesetzt, es ist der richtige Schlüssel.
Der Vertrauensbruch schmerzt fast ein wenig. Warum hat Chuck ihm von all dem nichts erzählt?
*** #12 ***
Yesss!
Harry hat sich wirklich gemeldet.
Der Abend wird immer besser: Erst die Loot Box von Jesko, dann der gelungene Hack mit Chucks Laptop, und jetzt noch ein Late-Night-Date mit der großartigsten Frau der Welt.
Hi, kannst du um 23 Uhr an die Brücke kommen …
Okay, eigentlich klingt die Mail überhaupt nicht nach Harry. Allein die Anrede »Hi« ist total untypisch für sie. Damals bei der Forensecura hatte sie ihre Mails einfach nur mit »Schröder« angefangen, und danach folgten Anweisungen im Stil eines Wehrmachts-Marschbefehls, also ohne »ich«. So in der Art »Schröder, habe Dateien analysiert. Feedback ASAP.«
Aber hey, scheiß-e-gal! Sie hat sich gemeldet, und nur das zählt.
Vielleicht hat sie Mega-Stress wegen ihrem Business und schreibt deshalb so komisch. Entscheidend ist, dass sie mich sehen will.
Diesmal darf die Sache nicht wieder gegen die Wand gefahren werden. Ab sofort bin ich der Abnicker, kein Scheiß, Mann. Ich werde mich zu allen Aktionen bereit erklären, egal, ob mit Anna-Lisa oder Anna-Lena oder wem auch immer. FFM ist außerdem mein zweiter Vorname, auch außerhalb von Frankfurt am Main.
Wobei der Treffpunkt echt Stil hat, Frau Thorborg, das muss man sagen. Wie eigentlich alles an ihr Stil hat. Ein Date mitten auf dieser Brücke, das ist ja wie in der guten kalten Zeit. Als ginge es um den Austausch von Agenten oder so. Aber vielleicht kommt es ja heute noch zu einem ganz anderen Austausch, von … you know, like … Körperflüssigkeiten.
Ruhig bleiben, durchatmen.
Jetzt ist es schon Viertel nach zehn und bis zur Brücke muss man ein ordentliches Stück fahren, das wird knapp. Es bleibt also keine Zeit mehr, um am Styling zu feilen. Das bewährte Männer-Ensemble – was gerade vorne liegt – muss reichen: Langarmshirt, die alte Fliegerjacke, die schlechtesten Boots der Welt. Scheint sie eh nicht zu stören. »Ist halt dein Signature Look«, hatte sie mal gesagt und mit den Schultern gezuckt. Das wirkte ein bisschen resigniert, weil sie ja eigentlich auf Typen im Anzug steht, andererseits klang das Wort Signature Look gut. Bei Harry haben sogar die Worte Stil.
Schlüssel (natürlich mechanisch!) für das Mirth Mobile – check.
Die Kasi mit dem Turrican-Soundtrack – check.
Es geht los, Schröder ist wieder im Spiel.
*** #13 ***
Tief in den Brustkorb einatmen und die Luft langsam durch die halb geschlossenen Lippen rauspusten, dann würde der Puls wieder runtergehen, hatte die Ärztin empfohlen. Jesko von Neumann schließt die Augen und versucht, genau das zu tun. Was ihm angesichts der prekären Lage schwerfällt.
Das Einführen des Schlüssels hat tadellos funktioniert, es war kein Widerstand zu spüren. Er steckt fest und sicher im verchromten Vorhängeschloss. Es macht einen soliden Eindruck, wobei dieser in den States durchaus täuschen kann. Viele Dinge vermittelten hier nur den Anschein von Solidität, erwiesen sich bei längerem Gebrauch jedoch als zerbrechlich. Hinter der glänzenden Blende des Schlosses konnte sich durchaus ein minderwertiger Schließmechanismus verbergen.
Was, wenn er den Schlüssel aus Versehen abbricht?
Dann würde er so bald nicht erfahren, was für Dinge Chuck in diesem Raum gelagert hat. Das Management der Self-Storage-Anlage würde Fragen stellen, weil er offensichtlich nicht jener Chuck Gardner ist, der den Kundenvertrag unterschrieben hat. Er müsste Peggy kontaktieren, sich von ihr eine Vollmacht besorgen, es gäbe einen Riesenwirbel.
Oder was ist, wenn der Schlüssel zwar passt, er aber das Tor nicht aufbekommt?
Von hier unten, aus der Hocke gesehen, wirken die dicken Stahllamellen äußerst massiv und schwer. Das dunkelgrüne Tor türmt sich riesenhaft vor ihm auf, vor ihm, der immer damit leben musste, der Kleinste im Team zu sein. Wird es ihm überhaupt gelingen, es zu öffnen? Andererseits muss es in dieser Anlage auch andere Kunden in fortgeschrittenem Alter geben. Es wäre ja eine Frechheit, die Technik so auszulegen, dass sie nur für junge Menschen zu bedienen ist!
Es sind alles nur Ausreden …
Der Regen prasselt auf Neumanns schwarze Nylonjacke mit dem roten JPL-Logo. Auf seinen ehemaligen Arbeitgeber stolz zu sein ist in diesem Land selbstverständlich, und auch er hat mittlerweile, was das angeht, seine europäische Distanz aufgegeben. Warum sollte er keine Kleidung mit JPL-Logo tragen? Sie können mit Fug und Recht auf das Erreichte stolz sein.
Vielleicht hat er überhaupt keinen Grund, aufgeregt zu sein?
Womöglich hat Chuck hier nur altes Gartengerät eingelagert, und hinter dem Tor parkt ein rostiger Rasenmäher? Das würde jedoch nicht erklären, warum er so oft hierher gefahren war …
Einatmen – und ausatmen.
Hinter diesem Tor können die lang ersehnten Antworten warten.
Der Wirbel um das Objekt liegt schon so lange zurück, dass es sich langsam anfühlt, als sei alles nur ein Traum gewesen. Doch das war es nicht. Um sich dessen zu vergewissern, schaut er sich gelegentlich sogar die alten Bildschirmfotos an. Es besteht kein Zweifel. Das Objekt ist real.
Alles hatte damit begonnen, dass Chuck, er und der Rest der Rentnertruppe auf die Idee kamen, die alten Fotos der Lunar-Orbiter-Sonde zu restaurieren. Die Nasa hatte sie sechsundsechzig auf die Reise geschickt, um mögliche Landeplätze für eine Mondmission auszukundschaften. Als sie die Bänder in einer Abstellkammer des Jet Propulsion Laboratory fanden, waren sie in einem schrecklichen Zustand und sollten entsorgt werden. Was für eine