Systemabsturz. Constantin Gillies

Systemabsturz - Constantin Gillies


Скачать книгу
diese würdevolle Anrede hat der Fuchs Jesko sichergestellt, dass ich den Auftrag ernst nehme und ihn eben nicht auf einer halben Arschbacke runterreiße.

      Es folgten dann noch zwei handgeschriebene Seiten, auf denen er in seiner ausschweifenden Art um Hilfe bat: Im Karton befinde sich der Nachlass seines Freundes Chuck Gardner, der letztes Jahr verstorben sei, »angeblich ein Unfall, doch daran sind Zweifel angebracht«. Klar, dass der seinerzeit mit Leines gut klargekommen ist, die zwei Verschwörungstheoretiker unter sich … Ich solle mir die Sachen jedenfalls mal anschauen, und Bla und Blubb.

      Jesko hat nach der Sache mit dem Objekt noch reichlich was gut, deshalb hat der China-Laptop seines Kollegen die royale, gerichtsfeste Behandlung gekriegt: Festplatte ausbauen, über einen Writeblocker auslesen, damit nichts verändert wird, und die Daten auf eine sterile Platte frisch aus der Packung rüberziehen. Danach den Dump mit File-Carving-Tools nach digitalen Fingerabdrücken von gelöschten Dateien durchforsten.

      Jesko denkt natürlich, dass ich was finde, was seine Verschwörungstheorie zu Chucks Tod stützt. Er muss sich allerdings auf eine Enttäuschung gefasst machen. Was sein Buddy auf seinem Rechner hat, wird in Washington, Moskau und Beijing keine nächtlichen Krisensitzungen provozieren.

      Chuck hat den Rechner ausschließlich dazu benutzt, um mit seinen Kindern und Enkeln zu kommunizieren. Die Mailordner quellen über von rührseligem Familienkram: Babys mit besabbertem Mund, eingescannte Kinder-Kritzeleien, Baseballspiele, Geburtstagstorten und weitere Meilensteine im Enkelleben. Allein da reinzugucken hat einen unangenehmen Pedo-Vibe.

      Jetzt, wo Chuckys Erbe gesichert ist, kann der Rechner jedenfalls zurück in den Karton zu dem anderen Schrott …

      Moment, das könnte interessant sein.

      *** #08 ***

      »Guten Abend, Frau Thorborg!«

      Sie hat sich doch nicht getäuscht, es stand wirklich jemand vor dem Büro. Und dieser Jemand hat auf sie gewartet und kennt ihren Namen.

      Thorborg umklammert ihre Laptoptasche.

      Der Krav-Maga-Kurs ist viel zu lang her, um sich noch an Details erinnern zu können. Vielleicht könnte sie die Tasche ja als Waffe nutzen?

      Sie sollten unter allen Umständen das Gesicht schützen, hatte ihnen der Trainer eingebläut.

      Thorborg reißt die Ellbogen nach oben, so wie er es ihnen vorgemacht hatte. Der schwarze Berg vor ihr kommt schweigend näher. Das »a« von »Abend« klang sehr kurz, als käme der Mann aus Polen oder Osteuropa. Sie hat die Stimme noch nie gehört.

      Schnell handeln, damit der Angreifer keine Zeit gewinnt.

      Und was ist, wenn er ein Messer hat? Dann würde sie mit den Armen direkt in die Klinge rennen. Andererseits: lieber mit den Armen als mit sonst was.

      Thorborg stürzt wütend nach vorne, direkt auf den dunklen Schatten zu. Doch der erwartete Aufprall bleibt aus, ihre Schädeldecke versinkt in der Jacke des Angreifers. Der Stoff riecht fremd, so wie es früher bei manchen Freunden roch, wenn man reinkam und die Nase sofort »anderer Stamm« signalisierte.

      Plötzlich ist der Widerstand weg. Der Angreifer hat sich weggedreht und lässt Thorborg ins Leere stolpern. Sie taumelt, muss sich mit der rechten Hand am Boden abstützen, um nicht komplett hinzufallen. Kleine Steinchen schaben über ihre Handinnenflächen, doch sie fühlt keinen Schmerz.

      Nur weiter, schnell weg.

      »Frau Tho…«

      Der Angreifer klingt fast verzweifelt.

      Er will sie nur täuschen, er will, dass sie anhält. Doch daraus wird nichts, denn jetzt ist sie in Bewegung, und das ist ihr Territorium.

      Thorborg rudert wild mit den Armen, um schneller zu werden.

      Zehntausend Stunden muss ein Mensch etwas tun, um gut darin zu sein, sagt Malcolm Gladwell. Die hat sie auf dem Laufband locker runtergerissen. Sie kann die Kreuzung mit der Bushaltestelle vor ihrem Angreifer erreichen, dann ist sie in Sicherheit.

      »Frau Tho…«

      Seine Stimme klingt schon leiser, als ob er stehen geblieben wäre.

      Thorborg reißt den Kopf herum.

      Woher kommt plötzlich dieses Auto? Waren die Angreifer etwa zu zweit, einer hat sie an der Tür abgefangen, der andere im Auto gewartet?

      Egal, sie muss nur weiterlaufen, auf den hohen Bürgersteig können sie mit dem Auto nicht rauf. Oder doch? Die Stoßstange rast auf ihre Hacken zu. Sie wollen sie einfach überfahren!

      Wieder eine Stimme. Jemand schreit gegen den Motor an, schreit ihren Namen, schreit Harry. Wieder ein Akzent, aber ein anderer.

      Das gibt’s doch nicht.

      *** #09 ***

      Immerhin eine interessante Mail hat Jeskos alter Kumpel Chuck gekriegt, und zwar zu diesem Fitness-Armband. Die Betreffzeile lautet:

      Welcome to EverFit.

      Natürlich mit einem kleinen ™ hinter dem Firmennamen, wie es sich in Amiland gehört. Das hat den Texten auf dem Star-Wars-Spielzeug damals richtig etwas Dadaistisches gegeben: Luke™, R2-D2™ und C-3PO™ im Landspeeder™. Wenn er gekonnt hätte, hätte Lucas sich wahrscheinlich sogar noch »und« schützen lassen. Und™.

      Welcome to EverFit™.

      Die Mail von dieser Firma könnte tatsächlich interessant sein. Jeskos Kumpel hat anscheinend dieses Fitness-Armband nicht nur besessen, sondern es auch benutzt und sich beim Hersteller registriert, deshalb die Bestätigungsmail. Alte Leute sind ja immer so gründlich. Wahrscheinlich wollte Chucky kontrollieren, dass seine Pumpe beim Treppensteigen nicht zu hoch dreht oder so.

      Da er nicht mehr der Jüngste war, hat er wahrscheinlich – wie Nutzer seiner Altersklasse das so machen – alle Einstellungen auf Default gelassen. Und Werkseinstellung bedeutet bei den meisten Fitness-Armbändern, dass unter anderem die Position des Nutzers erfasst wird. Wenn das bei Chucks Exemplar auch so ist, dann müsste auf den Servern von EverFit-TeeEmm noch sein Bewegungsprofil liegen.

      Nur – wie kommt man da ran?

      Mal auf everfit.com schauen …

      War ja klar. Um an das persönliche Profil ranzukommen, muss man sich mit seiner Mailadresse und dem Passwort einloggen. Und einfach auf »Passwort vergessen« klicken geht nicht, weil Chucks Mailaccount nicht mehr aktiv ist; offensichtlich hat ihn seine Frau sperren lassen.

       Challenge accepted!

      So würden die kleinen Pupsies in der Firma kreischen, die immer sofort losheulen, wenn sie mal eine echte Challenge vorgesetzt kriegen.

      Ich muss die Log-in-Daten also erraten.

      Okay, die Mailadresse ist klar, fehlt noch das Passwort. Komm schon, Chuck, was hast du gewählt? Vielleicht einen der Klassiker? Da hilft nur probieren.

      >12345

      Und Enter.

       Sorry, but we can’t find an account that matches …

      Oh Mann, wieder diese weichgespülte, pseudofreundliche Scheiße. Warum nicht einfach WRONG PASSWORD?

      Also weiter mit den Klassikern. Wie wäre es mit »password« als Passwort, das benutzen ja immer noch Millionen von Idioten.

      >password

       Sorry, but we can’t …

      Leck mich.

      Womöglich hat Chuck seinen eigenen Namen als Passwort genommen, um sein Gedächtnis zu entlasten?

      >chuck_gardner

      


Скачать книгу