Systemabsturz. Constantin Gillies

Systemabsturz - Constantin Gillies


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Diagnose stimmen, würde es seine Theorie bestätigen, dass Chucks Erbe gänzlich wertlos ist.

      Neumann legt den Laptop zurück und drapiert die Kabel darüber so sorgfältig, als würde er Blumen in einer Vase arrangieren. Dann schiebt er den Karton von sich weg.

      Im Prinzip kann er alles wegwerfen.

      Doch das ist keine Option. Er muss eine bessere, würdevollere Lösung finden. Vielleicht lässt sich der Laptop ja reparieren und der Inhalt seiner Festplatte wiederherstellen? Und vielleicht beweisen die Daten, dass Chuck eben nicht das zufällige Opfer eines Verkehrsunfalls war?

      Neumann schließt die Augen.

      Wenn er nur nicht so müde wäre.

      Sein Pflichtgefühl sagt ihm, dass er jeder noch so kleinen Spur, die zur Aufklärung von Chucks Tod beitragen könnte, nachgehen muss. Gleichzeitig ist da diese immense Sehnsucht nach einem Abschluss. Er ist jetzt mit Gladys zusammen, und wenn die condition keine Probleme macht, stehen ihnen noch etliche gemeinsame Sommer in Kalifornien bevor. Warum sich mit der Vergangenheit belasten? Warum an alten Laptops herumschrauben, wenn man in der gleichen Zeit gemeinsam über den Farmers’ Market flanieren kann?

      Schröder!

      Natürlich, das ist die Lösung.

      Er hat zwar schon seit Monaten nichts mehr von ihm gehört, aber sie waren das letzte Mal on good terms auseinandergegangen. Sie hatten sogar locker verabredet, im Sommer gemeinsam einen Ausflug nach Peenemünde zu machen, falls er seinen lange geplanten Urlaub in der alten Heimat tatsächlich realisieren würde. Und da Schröder Deutscher ist, hatte diese Absichtserklärung durchaus Gewicht, sie war geradezu eine Freundschaftsbekundung.

      Schröder ist der perfekte Mann für den Job! Schließlich gehört es zu seiner täglichen Arbeit, die Rechner anderer Menschen zu analysieren. Ihm wird es ein Leichtes sein, Chucks Laptop wieder in Gang zu bringen.

      Noch heute wird er den Karton von einem Expressdienst abholen lassen, mit etwas Glück sollte ihn Schröder schon am Dienstag auf dem Schreibtisch haben. Und sollte sich Peggy wirklich nach dem Verbleib der Dinge erkundigen, könnte er, der gewissenhafte Hausfreund, mit Fug und Recht behaupten, alles Mögliche getan zu haben.

      Neumann zuckt zusammen.

      Ach, nur dieser verdammte Fernseher!

      Aus dem Gerät über der Theke dröhnt die aufgeregte Stimme eines Nachrichtensprechers.

      Ein Schandfleck, dieser Bildschirm! Wozu überhaupt einen Fernseher in so einem schönen Lokal aufstellen? Seit wann reicht ein anregender Dialog mit dem Gegenüber nicht mehr als Unterhaltungsprogramm?

      Obwohl Neumann weiß, wie alt ihn diese Bewegung erscheinen lässt, kann er sich ein angedeutetes Kopfschütteln nicht verkneifen.

      Wenn er etwas an Gladys’ Arbeitsplatz mag, dann, dass hier die Zeit stillsteht. Fast alles ist noch wie an dem Tag, als er hier nach seinem ersten Arbeitstag einkehrt war. Alles verströmt den Stil und die Ruhe der Apollo-Ära: das zur Straße hin abgeschrägte Dach, die sorgsam mit Naturstein verkleidete Seitenwand, die gemütlichen Sitzecken. Es riecht nach Klimaanlage und Frühstücksspeck. Altes Amerika, altes Kalifornien.

      Bisher ist es dem neuen Besitzer nicht gelungen, dieses Flair gänzlich zu zerstören, obwohl er weiß Gott hart daran arbeitet, zuletzt mit der Installation dieses schrecklichen Fernsehers.

      Die heisere Stimme eines Mannes dröhnt aus dem hinteren Sitzbereich nach vorne zur Theke.

      »Hey, Jes. One of your fellow rocket scientists?«

      Neumann hebt dankend die Hand.

      Mike, der örtliche Klempner, einer der Stammgäste. An sich ein netter Kerl, vielleicht eine Spur zu laut und jovial. Das ließe sich allerdings über viele der Gäste sagen.

      Widerwillig schaut Neumann zum Fernseher hoch.

      Ein Mann in einem weißen Kittel tritt ins Bild, sichtlich überfordert von dem Blitzlichtgewitter, das ihn umgibt. Die Worte Russian Academy of Sciences laufen am unteren Bildschirmrand vorbei. Der grauhaarige Mann – seiner Kleidung nach ein Wissenschaftler – gestikuliert aufgeregt, während aus seinem Mund ein Stakkato an Worten kommt. Zusammen mit der darübergelegten Simultanübersetzung entsteht ein akustisches Chaos, das die dünnen Lautsprecher des Flachfernsehers hörbar überfordert.

      Plötzlich ein Schnitt, Bilder von einer Kamera, die aus einem Auto heraus filmt. Das Fahrzeug wartet vor einer roten Ampel. Unversehens taucht am Himmel ein heller, weißer Punkt auf und rast quer durchs Bild, einen dünnen Schweif hinter sich herziehend. Ein zweites, zusätzlich eingeblendetes Bild zeigt einen jungen Mann, offenbar der Fahrer des Wagens. Er klappt ungerührt die Sonnenblende herunter. Sekundenbruchteile später wird das Bild komplett weiß.

      RUSSIAN TOWN HIT BY METEOR.

      Neumann legt die Stirn in Falten.

      Hoffentlich kein Ereignis der Tunguska-Kategorie – das wäre für die Menschen dort schrecklich.

      *** #05 ***

      Du hast einfach keinen Style, Alter! Deshalb wird dir die Kleine auch niemals die Gurke frittieren.

      Das waren die Worte von Thomas Leinhart, dem letzten Menschen in der BRD, dessen Wortschatz sich, seit man noch BRD gesagt hat, nicht weiterentwickelt hat. Und der stolz darauf ist.

      Auf die Frage, was ich denn ändern müsste, um meine Gurkenfrittierchancen zu steigern, fielen Leines’ Tipps eher unkonkret aus.

       Weiß nicht, Alter, erst mal musst du was an deiner Bude ändern. Dieser ganze Nerd-Scheiß muss raus, darauf stehen die Ladys nicht. Das Ganze muss modern aussehen, eher so Bond-Bösewicht-mäßig. Leer, nur ein bisschen Bauhaus-Kram und ’nen Glastisch, verstehste?

      Es folgten wirre Ausführungen darüber, dass die Bösewichte im Film immer am besten eingerichtet sind, was ja auch irgendwie stimmt. Die wohnen immer in einem riesigen Penthouse, wo nix drinsteht, außer einem Aquarium mit tödlichen Kampffischen vielleicht.

      Leines kam richtig druff bei seiner Style-Beratung.

      Genau! Du brauchst solche Gravity Boots wie Richard Gere in »American Gigolo«, mit denen du dich an die Decke hängen kannst, um Sit-ups zu machen.

      Sagte der Mann, der seine letzten Sit-ups, oder besser gesagt: Klappmesser, im Sportunterricht anno dreiundachtzig machen musste und der mittlerweile den BMI von Jabba the Hutt hat, weil er sich von seiner Dotcom-Kohle ständig dry-aged Steak gönnt.

      Und natürlich brauchst du einen Cray-Computer als Sitzecke, dazu eine coole Beleuchtung. Mal überlegen … genau! Ein paar CM-5 von Thinking Machines, du weißt schon, diese geilen Schränke mit den blinkenden LED-Bändern am Rand, die sie auch bei »Jurassic Park« hatten.

      Es folgten noch etliche Tipps dieses Kalibers, die komischerweise alle seine Style-Regel Nummer eins – kein Nerd-Scheiß – verletzten. Lag wohl daran, dass er sich, was das angeht, zuhause nicht ausleben kann.

      Azra trimmt ihn ja immer auf Business-Kasper, mit Manschettenknöpfen und standesgemäßen Hobbys. Im Suff hat er mir mal gestanden, dass er kleine Revell-Bausätze im Lambo dabeihat und manchmal heimlich auf ’nen Parkplatz fährt, um da in Ruhe eine Me 109 zusammenzukleben. Azra sagt er dann, er wäre Golf spielen gewesen. Trotz seiner Kohle ist er eine arme Sau.

      Im Prinzip ist Leines’ Tipp ja nicht schlecht. Es schadet sicher nicht, ein bisschen an der Einrichtung zu arbeiten beziehungsweise: überhaupt eine Einrichtung zu haben und nicht nur ein paar Kubikmeter zusammengestellten Elektroschrott. Und auch das Gequatsche von wegen alles muss leer sein, ist kein völliger Unsinn. Wenn nicht so viel Zeug rumliegt, wirkt schon alles ein bisschen cooler.

      Leer ist die Bude jedenfalls. Und das war ja auch der Sinn der ganzen Umzugsaktion: Neustart, raus aus dem Nerd-Sumpf.

      Als ich das letzte Mal in meinem Zimmer den Boden sehen konnte, war


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