Systemabsturz. Constantin Gillies

Systemabsturz - Constantin Gillies


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»nachlässige Kleidung« in der IT-Branche nimmt langsam groteske Züge an, das reinste Rosamunde-Pilcher-Cosplay. Nein, sie sieht aus wie aus dieser neuen Serie, wie heißt die noch mal? Irgendwas mit Downtown …

      Doch ich will mal nicht so sein, denn sie trägt Stiefel.

      Hohe Stiefel aus Wildleder. Die knapp überm Knie enden. Und sie sieht so unfassbar heiß aus. Was zur Hölle ist an hohen Stiefeln so unfassbar heiß? Das sollten diese Anthropologie-Nerds mal erforschen. Warum ist man ab einer bestimmten Stiefelhöhe nicht mehr in der Lage, klar zu denken? Oder nur an die andere Art von ordentlichem Durchpusten ...

      Oh Gott, hört diese Pubertät denn nie auf?

      Konzentration.

      Es. Ist. Schön. Hier.

      Wir marschieren wie ein altes Pärchen den Feldweg lang, lassen unsere Gesichter von der Sonne wärmen und machen mit unserem Atem so kleine Wölkchen.

      Der Boden ist überall da, wo die Sonne hinkommt, schon total aufgetaut und matschig, aber im Schatten, hinter jeder Hecke und jedem Matschklumpen, liegt noch Raureif.

      Die Situation verlangt dringend nach sozial kompatiblem Geplauder.

      »Fühlt sich richtig, äh, frühlingshaft an.«

      Mutter wäre stolz.

      Harry kneift die Augen zusammen, als könnte sie nicht fassen, dass ich das wirklich gesagt habe.

      »Ja … das tut es, stimmt.«

      Tja ja, der Schröder kann nämlich auch romantisch.

      Sie macht ein paar Sprünge nach vorne, rüber zu einer Traktorspur, die mit Wasser vollgelaufen ist. Obendrauf ist sie zugefroren, aber das Eis ist nur hauchdünn, sodass man sehen kann, wie drunter die Wasserblasen rumwabern.

      »Guck mal!«

      Sie drückt die Spitze ihres Stiefels vorsichtig gegen das Eis, bis es leise knackt.

      »Habt ihr das als Kinder auch immer gemacht?«

      Nope. Wir hätten in so eine Pfütze einen D-Böller reingesteckt und das Eis in die Luft gejagt. So wie wir nach Silvester zwei Monate lang in so ziemlich alles einen D-Böller reingesteckt haben, um es in die Luft zu jagen.

      Süß, Harry fährt richtig auf diese Eisschicht ab. Sie beißt sich konzentriert auf die Unterlippe, während sie weiter drauf rumdrückt.

      »Irgendwie kann man nicht anders, als so lang zu drücken, bis …«

      Krach!

      Tja, Kleine, da war die Pfütze wohl doch tiefer als gedacht, jetzt ist der schöne hohe Stiefel vorne nass.

      Sie lacht toll. Da kann man stundenlang zuhören, weil ihre Lache ein bisschen zu laut ist und auch ein bisschen undamenhaft. Doch, doch, wenn sie will, kann Seven of Nine richtig menschlich sein.

      Von mir aus könnte der Weg jetzt noch ein Stück weitergehen, gerne auch ewig. Tut er aber leider nicht. Gleich kommt der uralte, rot-weiß gestreifte Schlagbaum und dahinter der Stacheldrahtzaun, der mit Schildern gepflastert ist. Militärischer Sicherheitsbereich, Vorsicht! Schusswaffengebrauch!

      Wir sind am Rosengarten angekommen.

      Leines und ich waren vor Jahren mal hier, bei einem dieser sinnlosen Ausflüge im Zeichen des Kalten Krieges, die er in regelmäßigen Abständen verordnet. Angeblich hat die Stasi auf diesem Gelände einen Horchposten betrieben, um die Alliierten im Westsektor zu bespitzeln – quasi das Gegenstück zum Teufelsberg bei uns drüben. Die ganzen Ost-Leute haben da rund um die Uhr vor den Empfängern gehockt und den Klassenfeind abgehört. Rosengarten war der Codename, den die HVA für den Laden benutzt hat.

      Der Ausflug hierher, Leines sprach damals von »Feldforschung«, endete wie die meisten dieser Trips: vor einem unüberwindbaren Zaun, also in diesem Fall vor diesem Zaun.

      Wir standen da und glotzten in den Wald rein. Zu sehen gab’s und gibt’s nicht viel: Oben aus den Tannen guckt die obere Hälfte einer weißen Radarkugel raus, mehr nicht. Mehr ist vom gloriosen Relikt des Kalten Krieges nicht übrig.

      Klar sieht das Ding geheimnisvoll aus, und wenn man sich sehr konzentriert, kann man sich einbilden, dass über so eine Radarkugel mal der erste Kontakt zu Aliens zustande kommen könnte, doch letztlich ist es nur ein abgefucktes Haus im Wald.

      Das Problem war das Schild mit dem Schusswaffengebrauch. Im D-Böller-Alter mag dieses Wort noch irgendwie verlockend klingen, in den Ohren von zwei erwachsenen Männern eher nach einer Anzeige wegen Hausfriedensbruch oder so. Außerdem könnte der Stacheldrahtzaun ja unter Strom stehen, theoretisierten wir.

      Also entschieden wir uns gegen weitere Ermittlungen. Leines hat noch halbherzig ein paar Fotos vom Zaun geschossen, aus »Dokumentationsgründen«, wie er sagte, und wir sind zurück zum Parkplatz. Im Prinzip war der Trip zum historischen Brennpunkt Rosengarten ein Reinfall. Leines fand alles trotzdem »Porno«, was in den frühen Nullerjahren wohl mal ein Jugendwort für »toll« war; mittlerweile benutzt das außer ihm bestimmt keiner mehr.

      Der Ausflug war – objektiv gesehen – scheiße. Aber wenn man mit einer Frau wie Azra verheiratet ist, findet man wahrscheinlich alles großartig, wofür man das Haus verlassen darf.

      Was ist denn jetzt los?

      Ausgerechnet jetzt, wo Harry und ich hier so frühlingshaft durch die Gegend flanieren, muss das beschissene Handy losgehen. Ihres auch, sie tastet schon ganz aufgeregt ihre Moorhuhnjagd-Jacke ab. Okay, wenn sie nachschaut, darf ich auch.

      Die Pawlow’schen Hunde kramen und wischen, als würde gleich die Welt untergehen. Sie grinst verlegen.

      »Sorry …«

      Ach, der ganze Aufwand nur für diesen bekackten News-Service, der in Wirklichkeit nichts als Promi-News bringt.

      KATASTROPHE IN RUSSLAND.

      So what, ist da nicht jeden Tag eine?

      *** #02 ***

      Wie wenig von einem Menschenleben übrig bleibt.

      Jesko von Neumann stellt den kleinen braunen Karton vorsichtig auf den Tresen. Chuck war sein bester Freund, viele Jahre lang zudem sein einziger, gerade in der Anfangszeit, als er neu in diesem Land war und über keine sozialen Kontakte verfügte.

      Und das soll nun Chucks gesamter Nachlass sein.

      Von Neumann nimmt seine Baseballkappe ab, tupft sich mit einem Taschentuch den Kopf ab und legt die Kappe beiseite. In geschlossenen Räumen die Kopfbedeckung abzunehmen gehört zu diesen europäischen Marotten, die er nicht ablegen kann und für die er sich von seinen Kollegen oft hatte aufziehen lassen müssen.

      Er schiebt den Zeigefinger unter den Deckel des Kartons und wirft einen vorsichtigen Blick durch den Spalt. Von einem halben Jahrhundert Freundschaft scheint nur ein Haufen elektronischer Schrott übrig geblieben zu sein.

      »Good morning, Hon.«

      Jesko von Neumann spürt, wie sich Gladys auf seiner Schulter abstützt. Er fühlt ihren Atem am Ohr und muss lächeln. An das öffentliche Bekunden von Zuneigung wird er sich wohl nie gewöhnen. Vielleicht ist er zu sehr der Mann aus der Alten Welt, der steife Fritz, wie ihn seine Kollegen im Lab immer nannten. Der bewahrt in jeder Lage die Contenance. Er hatte sich vorgenommen, daran zu arbeiten und lockerer zu werden, gerade im Umgang mit dieser wunderbaren Frau.

      Neumann dreht sich um und legt seine dünnen Arme auf die Schultern der Kellnerin.

      »Good morning, Gladys.«

      Ihre hellbraunen Augen strahlen ihn an. Oder zumindest vermutet er, dass sie ihn anstrahlen, denn seine Augen weigern sich schon lange, auf nahe Dinge zu fokussieren. Alles, was er von ihren Sophia-Loren-Augen sieht, sind verschwommene Schatten.

      Gut erkennen kann er nur noch, was mindestens zwei Armlängen entfernt ist,


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