Systemabsturz. Constantin Gillies
kann er sich jetzt abschminken.
Von Sekunde zu Sekunde sinkt Leinhart stärker in sich zusammen, als hätte ihm jemand einen Rucksack umgeschnallt, der jetzt nach und nach mit Steinen gefüllt wird. Von dem, was ihm der Leiter seines Family Office in London mitteilt, bekommt Leinhart kaum noch etwas mit. Rein akustisch versteht er zwar jedes Wort, er registriert jede Feinheit des ihm so vertrauten Finanzjargons, doch sein Hirn weigert sich, die Bedeutung zu erfassen.
Plötzlich bäumt er sich auf und reißt die Hand hoch wie ein Polizist, der ein Auto stoppt.
»Augenblick-Augenblick-Augenblick, was heißt hier Nachschusspflicht? Sie wollen mir sagen, dass …«
Tatsächlich, Andrew hat sie gesagt, die drei bösen Worte: Negative Net Worth. Die Summe der Verbindlichkeiten übersteigt das Vermögen.
Alles ist weg.
Er, der umjubelte Star der New Economy, Titelheld der »Wirtschaftswoche«, steht wieder da, wo er 1998 angefangen hat. Er ist wieder bei Day One.
Mit leerem Blick lässt Leinhart das weiter vor sich hin krächzende Handy sinken. Sein Puls hämmert, seine Gedanken rasen durch die Vermögensaufstellung. Er wird alles verkaufen müssen, allem voran ihre Home Base an der Außenalster. Diese Immobilien-Schmierlackel mit ihren gekauften Adelstiteln werden sich die Hände reiben …
Danach müsste das Chalet in Courchevel verkauft werden, was bedeutet: nie wieder Jagertee trinken und dabei diese Last-Christmas-Video-Aussicht genießen. Das Objekt an der Côte wird ebenfalls weggehen wie nichts. Er kann nie wieder den Countach durch die Haarnadelkurven vor Sainte-Maxime prügeln.
Autsch.
Aber im Prinzip alles kein Problem, solange die Allowance der Mädchen in London gesichert ist. Wenn für die kein Geld mehr übrig ist, können sie nicht ihren Abschluss auf diesem Hogwarts für Nachwuchskapitalisten machen, und das wäre eine Katastrophe. Für ihre Kohle muss er bis aufs Blut kämpfen! Sie sollen nicht leiden müssen, nur weil ihr alter Herr den Hals mal wieder nicht vollkriegen konnte.
Alles weg.
Vor vielen Jahren hatte er Azra mal gefragt, was sie tun würde, wenn er nicht mehr »die Mittel« hätte, wie sie sich gerne ausdrückt.
»Davon hat der Pfarrer bei der Hochzeit aber nichts gesagt!«, protestierte sie. Dann entstand eine ziemlich peinliche Pause, bevor sie in etwas zu schrilles Lachen ausbrach. Der Moment war irgendwie beklemmend, daran kann sich Leinhart noch erinnern. Doch er war auch schnell wieder vorbei, und nach einem Hugo für sie und einem grandiosen Blowjob für ihn hatte sich das Thema erübrigt.
Nein, ohne »die Mittel« leben zu müssen, wird Azra nicht gefallen.
Er hört ihre High-Heels auf dem Kiesweg hinter sich knirschen.
*** #04 ***
Neumann schiebt den Kaffee beiseite und wendet sich dem Karton mit Chucks Habseligkeiten zu. Plötzlich ist dieses Gefühl wieder da, dieses Hämmern in der Brust, dieses Gefühl, ohne erkennbaren Grund aufgeregt zu sein.
You shouldn’t worry.
Das hatte die Ärztin gebetsmühlenartig wiederholt, als sie ihm die Ergebnisse der Untersuchung telefonisch durchgab. Es bestünde kein Anlass zur Sorge. Ihre Ausführungen klangen allerdings so, als müsse er sich durchaus Sorgen machen. Coronary-artery disease, eine seiner Arterien ist verstopft, zu 70 Prozent. »That sounds like it’s quite a lot«, hatte er eingewendet. Doch die Ärztin sprach in ruhigem Ton weiter und kündigte lapidar an, weitere Tests machen zu wollen. Alles sei für sein Alter nicht ungewöhnlich. Der Befund habe sogar einen eigenen Namen, Widow’s Block, die Blockade der Witwe.
Neumann war über die Präzision der volkstümlichen Diagnose erstaunt. Wie viele Jahre waren seit Marys Tod vergangen? Zu seiner Schande musste er sich eingestehen, seit einiger Zeit nicht mehr nachgerechnet zu haben. Früher konnte er den Zeitraum jederzeit auf die Woche genau angeben.
Das Herz also. Dabei hatte er nie etwas gespürt, keinen Schmerz, nicht einmal Kurzatmigkeit.
»What am I supposed to do?«, hatte er gefragt.
»Nothing. Just relax.« Er konnte hören, wie die Ärztin über seine für einen Amerikaner viel zu steife Formulierung lächelte. Es folgten einige medizinische Erläuterungen, in der das unangenehm klingende Wort »Angioplastie« vorkam. Dabei achtete die Medizinerin auffällig genau darauf, nur von einer »condition« zu sprechen, von einem »Zustand«, nicht von einer Krankheit.
»Don’t google it«, lautete ihre abschließende Empfehlung.
Daran hat er sich gehalten, er hat nichts im Internet recherchiert, sondern sich seinem Schicksal gefügt.
Neumann spürt die Ecken der Tablettenschachtel in seiner Hosentasche.
Die Präparate klingen wie die Namen von weit entfernten Planeten, Rosuvastatin Teva zum Beispiel. Er nimmt sie alle mit preußischer Disziplin ein, regelmäßig und exakt zum vorgeschriebenen Zeitpunkt. Und sollte wirklich ein Eingriff nötig sein – die Ärztin hatte von »Stents« gesprochen –, würde er ihn durchführen lassen. Er würde tun, was man ihm rät, er würde stur den Behandlungsplan abarbeiten, wie die ganzen anderen Checklisten, die er in seinem Leben schon abgearbeitet hat. Entscheidend war, von der condition nicht sein Leben bestimmen zu lassen.
Chuck hatte offenbar ähnliche Probleme gehabt.
Neumann entwirrt einige Kabel, für die keine passenden Geräte im Karton liegen, und zieht ein schwarzes Plastikarmband hervor. Offensichtlich hat Peggy alles überhastet zusammengeworfen.
Ein Fitness-Armband.
Neumann hat von den Geräten gehört. Beim letzten Treffen mit den ehemaligen Kollegen vom Lab trugen viele diese Armbänder. Offensichtlich kämpfte dort fast jeder mit der ein oder anderen condition. »You should get one, too«, ereiferten sich die älteren Herren. Die Bänder würden den Puls überwachen und bei Unregelmäßigkeiten Alarm schlagen.
Neumann hörte interessiert zu, hielt sich jedoch zurück. Er wollte nicht in den Chor der Versehrten einstimmen. Wenn ihm etwas zuwider ist, dann Altersgenossen, die alle Welt mit ihren Krankheiten behelligen.
Nun ja, ein schwaches Herz war sicher nicht die Ursache für Chucks Tod …
Neumann legt das Armband zurück und tastet den Boden des Kartons ab. Weitere Kabel und Adapter, die ermöglichen, dass kleine Stecker in große Buchsen passen oder umgekehrt. Halt – was ist das?
Ein Schlüssel.
Neumann hält das schwarze Klötzchen, aus dem ein kurzer Bart ragt, ein Stück vom Körper weg, um es besser erkennen zu können.
Zu klein für eine Haustür, zu groß für einen Briefkasten. Wäre Chuck Europäer gewesen, läge die Vermutung nahe, dass es sich um einen Fahrradschlüssel handelt. Doch auf dieser Seite des Atlantiks fährt nahezu niemand aus seiner Generation mit dem Rad.
Der Schlüssel könnte zu einem Vorhängeschloss passen, die Sorte, mit der man seinen Waffenschrank gegen unbefugte Zugriffe sichert, doch auch dergleichen besaß Chuck nicht. Vermutlich hatte Peggy den Schlüssel beim Aufräumen einfach aus Versehen in dem Karton deponiert. Er wird sie bei Gelegenheit darauf ansprechen. Zwischen all diesen Gerätschaften jedoch droht der Schlüssel endgültig verloren zu gehen, er sollte ihn sicherer aufbewahren.
Neumann steckt den Schlüssel in die Feuerzeugtasche seiner Jeans.
In dem Karton ist nur Schrott – auch wenn er das Peggy natürlich nicht sagen kann. Keine Witwe hört gerne, dass ihr Mann der Welt – ökonomisch gesehen – nichts von Wert hinterlassen hat. Es sei denn …
Neumann zieht ein silbernes Gerät aus dem Kabelgewirr. Immerhin ein Laptop, wenngleich sicher kein Spitzenmodell. Er hatte solche Rechner schon bei Walmart gesehen, wo sie – zu großen Pyramiden aufgetürmt – am Eingang angeboten wurden. Im Prinzip handelt es sich um Wegwerfprodukte. Neumann löst vorsichtig