Systemabsturz. Constantin Gillies
begannen, Tape für Tape die alten Aufnahmen der Sonde zu digitalisieren. Irgendwann sprang sogar die Nasa auf den Zug auf und steuerte 100.000 Dollar zu dem Projekt bei; man wollte die Mondaufnahmen von damals mit denen von heute vergleichen, um zu untersuchen, wie sich die Topologie verändert hat. Alles lief glatt, bis sie zum Tape mit der Nummer 5076 kamen, beziehungsweise nicht kamen, denn dieses eine Band fehlte. Schröders Freund, dieser wahnsinnige Thomas Leinhart, beschaffte es in einer halsbrecherischen Aktion auf den Bermudas.
Was sie schließlich auf dem Band fanden, war unglaublich. Die verschollene Aufnahme von der Mondoberfläche zeigte eindeutig einen Gegenstand oder eine Struktur mit einer Kantenlänge von 150 Fuß. Jemand hatte 1966, drei Jahre vor dem Giant Leap, etwas auf den Mond gebracht.
Schröder verstieg sich in die Idee, die Nasa sei dabei, das Objekt vom Mond zu entfernen – und tatsächlich sprach einiges dafür.
Neumann reibt sich das Kinn.
Sie waren viel zu weit gegangen, um diese Vermutungen zu überprüfen. Sie hatten etliche Gesetze gebrochen und die Bevölkerung in Gefahr gebracht, nur um einen Blick auf das zu werfen, was die Air Force – vermutlich – auf dem Mond geborgen hatte. Schröder sprach von silbrig-glänzenden Trümmern mit der Aufschrift NEW NASA. Doch je länger die Sache zurückliegt, desto sicherer erscheint es ihm, dass das, was Schröder auf dem El Mirage Lake gesehen hatte, eine Fata Morgana war.
So zumindest diktiert es die Stimme der Vernunft.
Es sind jedoch nicht alle Zweifel ausgeräumt. Was ist, wenn Chuck in diesem Raum keinen Rasenmäher eingelagert hat, sondern Dinge oder Dokumente, die erklären könnten, was das Objekt wirklich ist? Wäre es dann nicht die Pflicht eines Mannes der Wissenschaft, dieser Spur nachzugehen?
Einatmen, und langsam ausatmen.
Er wird sich diesen letzten Aufklärungsversuch gestatten – und die Sache mit dem Objekt dann für immer ruhen lassen.
»Eine Entscheidung wird nicht dadurch besser, dass man sie aufschiebt«, hatte Chuck immer gesagt. Gut gesprochen, alter Freund.
Neumann ergreift das Ende des Schlüssels und dreht ihn beherzt nach rechts.
Mit einem leisen Klick springt der Bügel des Vorhängeschlosses auf.
Er hat für Glücksspiele nie etwas übriggehabt, doch er muss sich eingestehen, dass der Moment des Gewinnens durchaus seinen Charme hat.
*** #14 ***
Nichts ist blöder als der Moment, in dem man sich eingestehen muss, dass man verarscht worden ist.
So wie damals, fünfundachtzig, auf der Plattenbörse, als dieser Typ mitten im Gewühl ankam und fragte, ob ich – zwinker, zwinker – was Besonderes suchen würde. Weil er mit seiner Waver-Frisur halbwegs cool aussah, lallte ich gleich rum, dass ich eine Pressung von Jarres »Musique pour Supermarché« interessant fände. Worauf er meinte, »klar«, seit der Ausstrahlung bei Radio Luxembourg sei das kein Problem mehr. Und weil das so klang, als ob er Ahnung hätte, schob ich Depp ihm also einen Fünfziger rüber. Der Typ stopfte ihn sich in seine Vanilia-Jeans und raunte verschwörerisch rüber: »In zehn Minuten an der Ausfahrt vom Parkplatz!«
Da stand der kleine Schröder dann an der Ausfahrt vom Parkplatz: zehn Minuten, eine Viertelstunde, zwanzig Minuten.
Lustig, was für abstruse Erklärungen das Hirn in so einer Lage ausbrütet: Der Typ ist nur beschäftigt. Der zieht wahrscheinlich noch ’nen anderen, größeren Deal durch. Er ist aufm Klo und die Tür klemmt. Die Bullen haben ihn gekriegt.
Nach einer Stunde kam er dann, dieser peinliche Moment, in dem ich mich nicht mehr belügen konnte, wo klar war: Der hat mich verarscht.
Harry wird hier nicht auftauchen.
Sie hat mich verarscht.
Oder besser gesagt: Die Person, von der die Mail kam, hat mich verarscht. Dass Harry die geschrieben hat, ist ja nicht gesagt, schließlich hätte jeder die Adresse [email protected] spoofen können.
Wenn es zu gut klingt, um wahr zu sein, ist es nicht wahr.
Und das ist leider wahr, Leines, du alter Zyniker.
Warum sollte sie sich auch ausgerechnet hier mit mir treffen wollen? Am totalen Arsch der Welt, Lichtjahre weit weg von jeder Kneipe und so ziemlich jeder Art von Zivilisation. Das ist der einsamste Kiez ever, in der letzten halben Stunde sind original zwei Autos vorbeigekommen.
Bei den ganzen Insta-Touris wird die Brücke bestimmt als Geheimtipp gehandelt, an dem man so supi gruselig-schöne Pics für seine Follower machen kann; ich sehe die Tanten schon vor mir, wie sie auf dem Mittelstreifen posieren, die Arme wie ein Engel ausgestreckt. Dann kommt noch irgendein hausfrauenphilosophischer Dreck unter den Post wie »Folge deinen Träumen« – und schon hagelt es Herzchen.
Schröder, der offizielle Unesco-Weltkulturbanause, war natürlich noch nie an diesem historisch äußerst signifikanten Ort.
Wobei die Stimmung echt nett ist um diese Uhrzeit: Die alte Eisenbrücke mitten im Nirgendwo, auf beiden Seiten diese Seen, und alles stockduster bis auf die paar Laternen am Fahrbahnrand. Wie haben sie bei »Schtonk!« immer gesagt? Da weht einen so was an. Stimmt, fehlen nur noch Panzersperren, Wachhäuschen und Stacheldraht.
Junge, ist das kalt. Nur das Langarm-Shirt anzuziehen war doch nicht so schlau.
Als Leines und ich noch mit D-Böllern beschäftigt waren, haben die hier Spy versus Spy gespielt und ihre Leute wie Panini-Bildchen getauscht: Gibst du mir einen CIA-Mann, kriegste fünf vom KGB.
Für uns war der Kalte Krieg damals total surreal, wie ein Film, von dem man zwar gehört, den aber noch keiner gesehen hatte. Whose Side Are You On? Uns ziemlich egal.
Auf dem Schulhof standen andere, fundamentalere Entscheidungen an. Zum Beispiel »Mondbasis Alpha Eins oder Enterprise?« und »Moore oder Connery?«. Da war es wichtig, Stellung zu beziehen, nicht bei dem Ost-West-Gedöns. Wenn dir ständig einer sagt, dass jeden Moment die Bombe fallen kann, fängt man nach einiger Zeit ohnehin an, die Dinge locker zu sehen.
Der Warschauer Pakt – echt, will der verreisen?
Von den ganzen Aktionen, die sie hier früher abgezogen haben, ist fast nichts mehr zu erkennen. Bis auf diese dünne Naht im Asphalt vielleicht, genau in der Mitte der Brücke. Genau auf der ehemaligen Grenze stehen jetzt die schlechtesten Boots der Welt, der linke im Westen, der rechte im Osten.
Hier wurden Leben zerstört und gerettet, ganz schön creepy – aber ganz schön lange her.
Solides German Engineering jedenfalls, die Brücke.
Da hat ein deutscher Pedant mal wieder ganze Arbeit geleistet. Massige, schwimmbadgrün angemalte Stahlträger spannen sich über den Fluss, zusammengehalten von Nieten, die so groß wie Fünf-Mark-Stücke sind. Steampunkig – und vermutlich beschusssicher bis zur Panzerhaubitze.
Komm schon, Harry, wo bleibst du? Es ist so scheißkalt.
Das Geländer ist nach heutigen Standards ziemlich niedrig, da kann man mit einem Schwung drüber. Wäre aber nicht schlimm, bis zur Wasseroberfläche sind es nur ein paar Meter. Lässt sich alles locker überleben, es sei denn, das Wasser ist so kalt, dass man sofort absäuft.
Warum sind die Leute aus der Zone nicht einfach von der einen auf die andere Seite rübergeschwommen? Können doch nicht mehr als zwanzig oder dreißig Meter sein.
Wahrscheinlich waren unter Wasser Netze gespannt oder so, oder der Fluss ist breiter, als man denkt. Über Wasser kann man Entfernungen nicht gut einschätzen, hatte uns Kronberg, der alte Sport-Nazi, in der Schule immer eingebläut.
Okay, es ist halb zwölf, ausgemacht war elf. Mit dem Eintreffen von Harriet Thorborg, Bundeswehrtochter und stets ein Vorbild an Pünktlichkeit, kann definitiv nicht mehr gerechnet