Dem Licht entgegen. Liane Sanden
Joachim zerbrach die eiserne Selbstbeherrschung, mit der er sich gegen sich selbst stemmte. Dieses Alleinsein jetzt mit Beate, diese kostbare Stunde hier im Wagen, der ganz erfüllt war von ihrem Duft, das Wissen, sie ging fort, er blieb zurück, würde sie nicht sehen — lange nicht —, es war zuviel.
„Gnädige Frau!“ Seine Stimme klang rauh und erstickt. „Gnädige Frau, ich — ich möchte Ihnen etwas sagen, Ihnen etwas gestehen, ich —“
Im Dunkel des Wagens hob Beate Meredith ganz leicht die Hand.
Der riesengrosse Smaragd funkelte kalt und feindlich.
„Nein, Herr von Retzow“, sagte sie, und noch einmal: „Nein!“
Es klang sehr kühl. Es war wie eine Warnung. Sie beugte sich vor, nahm das Sprachrohr, sprach zum Chauffeur hinaus:
„Fahren Sie schneller, Arthur, ich möchte nach Hause!“
Joachims leidenschaftliches Aufgerührtsein wich einer tiefen Scham. Da hätte er sich beinah aus der Hand verloren. Hätte Dinge gesagt, die niemals zwischen ihm und Beate Meredith gesprochen werden durften. Sie hatte ja recht. Tausendmal hatte sie recht. Er war der kleine Sekretär, und sie war Mistress Meredith. Sie war an diesem Abend freundlich zu ihm gewesen. Freundlicher als sonst. Aber sie hatte ihn sofort unmissverständlich in seine Schranken zurückverwiesen. Und er musste ihr beinah noch dankbar sein, dass sie ihn gehindert hatte, zu sprechen. Ehe er noch etwas zu antworten vermochte, hielt der Wagen.
Joachim sprang heraus, wollte Beate helfen. Aber sie legte ihre Hand leicht auf den Arm des Chauffeurs.
Schweigend gingen sie durch die Tür in die Halle bis zum Fahrstuhl.
„Also, wenn ich Sie nicht wiedersehen sollte bis zu unserer Abreise, Herr von Retzow — alles Gute!“
Sie sagte es ganz ruhig. Ihre Hand lag kühl in der seinen, als er sich zum Kuss über sie beugte. Sie hatte die Augen gesenkt. Joachim konnte nicht sehen, dass in diesen Augen ein bitteres Weh stand.
Fünftes Kapitel.
Weit ist das Land um den Kaukasus. Weit und grün sind seine Felder unter dem russischen Himmel. Grün sind seine Wälder und schwarz die Schluchten seiner Berge. Niemand kennt ihre Wege, niemand ihre Geheimnisse. Niemand die Seele der Kaukasier, ihre Liebe und ihren Hass. Nicht der Zar hat den Weg gefunden, nicht der rote Machthaber in der fernen Stadt, die Moskau heisst. Jetzt noch, wie einst, sind unberührte Felder, Weiden und die schwarzen Wälder. Noch jetzt singt man die alten Heldenlieder. Und in den Schänken beim Kachetinerwein tönt jetzt noch das uralte Heldenlied vom grossen Schamyl, der dem Zaren trotzte und der grösste Held war in den Schluchten des Kaukasus. Nicht der Zar konnte sie bändigen, die Leute um den Kaukasus — und nicht die rote Flut sie hinwegschwemmen.
Quietschend holperte die Arba über die Erdschollen.
„He, Brüderchen“, schrie Nasid, „vorwärts! Träumt nicht, meine Guten, es ist noch weit, und Tamara hat für heute Maiskolben versprochen, gute, fette Maiskolben, weiss wie Zähne kleiner Kinder — he!“
Er stiess mit dem Stock ermunternd vorwärts. — Starr auf dem Holzstamm sind die beiden Räder des Karrens aufgekeilt, es ist eine Kunst, sich bei dem Auf und Ab des dreieckigen Wagens festzuhalten. Aber Nasid sitzt fest — Tag für Tag, den Gott gibt, vom Frühling bis zum Herbst fährt er auf der Arba zum Feld und wieder heim. Gern hätte er ein Pferd gehabt, aber dazu hätte er nicht ein Ziehsohn sein dürfen, sondern ein reicher Bauernsohn, drüben aus der deutschen Ansiedlung in Georgenthal.
Während er weiterfährt, sieht er sehnsüchtig hinüber. Ganz hinten, verschwimmend im Lichterglanz, erkennt er mit seinen scharfen Augen das Büffelgespann eines Bauern. Er pflügt mit sechs Paar Büffeln. Nasid unterscheidet mit seinen Falkenaugen sogar die Farbe. Er unterscheidet die Furchen, in denen die Saat gesät ist. Schön in Reihen, nicht wie Kraut und Rüben durcheinander. Drüben müsste man sein!, dachte Nasid, dann würde man etwas lernen, vielleicht etwas werden. Aber so —? Sein braungebranntes Gesicht unter dem hellen Blond des Haares verschliesst sich. Es war besser, nicht hinüber zu denken. Auch nicht drüben an Maria. Man gehörte einmal hierher. Es war nicht anders. Gott hatte es so beschlossen. Wenigstens hatte er Tamara. Ein Lächeln ist in seinen Augen.
„He, meine Guten, schlaft ihr schon?“ ruft er das Ochsengespann an. „Denkt ihr nicht an das Heu, an das gute, duftende Heu, das Tamara euch in den Stall legen wird? Vorwärts, meine Guten!“
Der Himmel ist seidige Bläue. Die Sonne flimmert über den Feldern, den Schluchten. Am Waldrand blüht es weiss, rosa. Die Feigenbäume duften, und die Mandelbäume stehen in Rosa wie Mädchen, die sich zum Kirchgang ihr bestes Kleid angezogen haben.
Die Arba poltert weiter. Hügel auf und ab begleiten den Weg. Unten schäumt grün und glasig der Fluss. Am Hang blühen die weissen Sterne der Waldbeeren. Nasid schnalzt leise mit der Zunge. Das Wasser läuft ihm im Munde zusammen. Er fühlt schon den kühlen, duftenden Geschmack der reifen Beeren. Ein paar Wochen noch, dann wird man mit Tamara Beeren sammeln, nicht hier am Rande, wo das ganze Dorf zusammenläuft. Nasid weiss Stellen, ganz tief innen, tief versteckt, weit hinter der Schlucht. Die anderen Jungens fürchten sich: Luchse sollen da sein, Wildkatzen, und der grosse Bär, der im Winter bis an ihr Dorf herankommt, soll dort hausen, erzählen die Mädchen.
Aber Nasid fürchtet sich nicht. Er hat ein Kinjal, einen kaukasischen Dolch, so scharf und so kostbar, wie kein Junge. Umsonst macht er auch nicht jedes Jahr die Wanderung nach dem Badeort Borschom. Verkauft dort Obst und Handgewebtes von Mariat, seiner Ziehmutter. Kein Junge aus dem ganzen Aul verkauft so gut wie Nasid. Woran es liegt, weiss er nicht. Vielleicht daran, dass er nicht zerlumpt an der Ecke des Basars steht wie die anderen Jungen aus seinem Aul, dass er sich wäscht, nicht bloss vor jedem Feiertag wie sein Ziehvater, der alte Wachtang, und Mariat, sondern täglich. Das letztemal hatte er so viel Geld mit heimgebracht aus Borschom, dass er Tamara ein schönes Stück Schemacha aus dem Basar hatte mitbringen können. Schmuck hatte sie ausgesehen beim Tanz in der feierfarbenen Seide. Freilich nicht so schön wie Maria.
Er seufzte. Er war ärgerlich über sich selbst. Er fühlte dumpf, es tat nicht gut, immer Maria mit Tamara zu vergleichen.
Die Lehmhäuser kamen aus der Wegbiegung hervor. Nun bedurfte es keines Zurufes mehr, das Gespann presste die Steine auf die Seite.
„He, Nasid!“ schrie ein Tulchtschik, der, mit Wasserschlauch über dem Rücken, vom Brunnen kam. „He, Brüderchen, warum schmierst du deine Arba nicht? Die quietscht ja, dass man sein eigenes Wort nicht versteht. Deshalb hörst du wohl auch nicht das Schreien der alten Mariat! Mach nur, dass du nach Hause kommst. Wachtang ist gerade im Begriff, sie totzuschlagen, und Tamara dazu.“
Nasid war kreideweiss geworden. Er sprang ab und schoss in langen Sprüngen die Dorfstrasse entlang. Die Ochsen trotteten den bekannten Weg auch allein.
Nasids lange Beine flogen wie die eines edlen Tieres im gestreckten Lauf. Und schon klang ihm Geschrei, Weinen, eine tobende Männerstimme entgegen.
Das Zimmer war viereckig; der Fussboden, die Wände aus Lehm. An einer Wand stand Tamara. Ihr braunes Gesicht war vor Schreck aufgerissen, ihr Mund stand halb offen. Aber kein Schrei kam. Auf dem Boden lag die alte Mariat, wie ein hingeworfenes Bündel.
Wachtang, der Mann, stand mit blutunterlaufenen Augen im Zimmer. Sein Schnabelschuh stiess in besinnungsloser Wut nach dem Bündel. Jedesmal, wenn er traf, wimmerte es leise.
Mit einem Sprung war Nasid im Zimmer, warf sich gegen den Alten.
„Du Sohn von tausend Schweinen“, schrie Wachtang. Wie ein Stier, der stossen will, duckte er sich. Aber Nasid hatte ihn schon genommen und mit einer wilden Wut gegen die Wand geworfen. Oben von dem Wandbord polterten ein paar Tongefässe, und ein weisses Rinnsal von Mazoni, der gesäuerten Dickmilch, ergoss sich auf den Fussboden.
Tamara bekreuzigte sich.
„Lass, lass, Nasid!“ flüsterte sie angstvoll.
Der alte Wangtang sass betäubt von dem schweren Stoss.
Nasids