Dem Licht entgegen. Liane Sanden
sich zu ziehen.
„Du Hundesohn!“ Wachtang erhob sich taumelnd und ging auf Nasid zu.
Mit einem Ruck riss der seinen Dolch aus dem Gürtel. „Rühr mich nicht an! Rühr mich nicht an!“
„Hinaus“, schrie Wachtang, „hinaus, du Hundesohn! Ich hab genug von dir. Wenn du dich noch einmal blicken lässt, bringe ich dich um. Verreck auf der Landstrasse, wo du hingehörst.“
„Besser auf der Landstrasse, als in deinem Saustall, du Menschenschinder!“ brüllte der Junge zurück. Er wollte auf Wachtang zu. Tamara warf sich dazwischen.
„Willst du, dass er dich totschlägt, und uns alle dazu?“ flüsterte sie angstvoll. „Gib Ruhe, Nasid! Er meint es nicht so. Siehst du nicht — er ist berauscht!“
Wirklich, Wachtang war nach torkelnden Schritten auf die Tachta, die Schlafbank, gefallen. Seine Beine hingen lang herunter. Sein schwerer Oberkörper lag halb auf der Schlafbank, sein rotes, gedunsenes Gesicht auf dem Mutak, der Schlummerrolle. Er murmelte noch einige drohende Worte. Das Murmeln ging über in unverständliches Lallen. Ein röchelndes Schnarchen. Er schlief.
Tamara hatte Nasid nach draussen gedrängt.
„Was habt ihr denn wieder gehabt, Tamara?“ fragte Nasid finster. „Der alte Säufer wird euch noch einmal totschlagen.“
„Du solltest nicht so reden von ihm, Nasid. Er ist doch dein Ziehvater.“
„Wollte Gott, er wär’s nicht. Vielleicht wäre es besser, Tamara, ich wäre umgekommen, als kleines Kind, statt hier —“ Er verstummte, fuhr ungeschickt mit seiner Hand über das braune, schöne Gesicht Tamaras.
„Was hast du denn da?“ fragte er plötzlich misstrauisch.
Tamara legte schnell ihre Hand um den Hals.
„Der Karapet war da.“
Wieder stieg die Wut in Nasids blauen Augen auf.
„Der Karapet? Was wollte er, der alte Gauner?“
„Ich soll zu ihm kommen — in seinem Laden helfen“, sagte Tamara furchtsam. „Er hat dem Vater eine Flasche mit bestem Kachetiner mitgebracht, und mir eine bunte Kette. Zehn Rubel will er dem Vater erlassen, wenn er mich in die Stadt in seinen Laden bekommt.“
„Schöner Laden ...“, höhnte Nasid. „Der Laden wird das Bett sein.“
Mit einem Ruck riss er Tamara die Kette von dem schönen Hals. Mit lautem Klirren versprühten die Steine aus dem Lehmfussboden.
„Meine Kette!“ jammerte Tamara. „Oh, Nasid!“
Sie bückte sich weinend.
„Warum hast du sie genommen?“ fragte Nasid rasend. „Willst du so eine werden, wie die Boti vom Nachbar? Bei der hat’s auch angefangen mit einer Kette.“
„Ich will ja gar nicht zum Karapet, zu dem krummbeinigen Armenier. Die Mutter will es auch nicht. Und darum hat der Vater die Mutter verprügelt, aber die Kette konnte ich doch nehmen.“
Sie hockte noch immer auf der Erde, ihr braunes Gesicht sah kindlich und doch mit einer gewissen Gier zu Nasid auf. Unter dem weissen Scheitel lag das schwarze Haar. Es hatte einen braunen Glanz, wie das Gefieder der Bachstelze, wenn sie am Bergquell trinkt. Schön war Tamara, schön war seine kleine Ziehschwester.
„Lass die Kette, Tamara“, sagte er leise und befehlend. „Ich werde dir eine schönere kaufen, eine viel schönere.“
Tamara lachte spöttisch auf. Sie liebte Nasid. Sie liebte ihn mit der ganzen ungestümen Leidenschaft eines Naturkindes. Aber sie liebte auch Schmuck und Tand.
„Du wirst mir kaufen? Wovon? Hast ja selber nichts, Betteljunge!“
„Du wirst es schon sehen“, sagte Nasid. „Ich geh fort in die Berge. Ich werde den Schatz des Selim-Chan finden.“
Tamara erschrak.
„Heilige Mutter Gottes! Wer hat dir den Kopf verdreht, Nasid? In die Berge? Den Schatz des Selim-Chan? Weisst du nicht, dass die bösen Geister dort wachen?“
„Geist ist Unsinn“, belehrte Nasid sie. Er hat es drüben bei dem deutschen Lehrer gelernt. „Es gibt keine Geister. Es gibt nur den allmächtigen Gott.“
Tamara ist ein richtiges Weibchen. Sie fühlt sofort, woher Nasid der Mut kommt, so verächtlich von Geistern zu sprechen.
„Das hast du drüben von den Njemzi, den Deutschen, gelernt. Gib acht, Nasid, sie werden dich unglücklich machen, die Deutschen, und die Blonde, mit ihren scheinheiligen Augen. Glaubst du, die denkt im Ernst an dich? Die macht sich nur lustig über solch einen dummen georgischen Burschen wie du ...“
Sie verstummt entsetzt. Nasid, ausser sich, hat sich heruntergebeugt; es klatscht einmal durch den Raum.
„Da hast du für dein Schandmaul“, sagt Nasid.
Tamara hält sich jammernd ihre rot angelaufene Wange.
Nasid erschrickt. Was hat er da gemacht? Man ist sonst nicht sehr gefühlvoll hierzulande. Ein Schlag, wenn er nicht ans Leben geht, ist nichts. Warum hat er plötzlich ein so jammervolles Gesicht? Wie er Tamaras Gesicht sieht? Er hat sich herumgeprügelt mit den Jungens auf der Dorfstrasse. Er hat den alten Wachtang gegen die Wand geworfen, dass es nur so gekracht hat. Aber er hat noch nie eine Frau geschlagen. Auch das hat er hier vor sich gesehen von Kindheit an. Aber irgend etwas steigt in ihm wieder auf. Das hier durfte nicht sein. Er muss hier fort. Sonst endet er schliesslich auch einmal wie der alte Wachtang.
Sechstes Kapitel.
Das Dorf war still. In den Lehmhütten lagen die Menschen im schweren Schlaf. In der Schänke war es still geworden; die Drehorgel war verstummt, und die gröhlenden Stimmen der Männer. Nur ab und zu muhte eine Kuh im Schlafe. Der Morgenstern stand silbern am lichtgrauen Himmel, als Nasid sich erhob. Er schlief in einem kleinen Verschlag für sich. Niemand hörte ihn, als er sein Bündel zusammenpackte. In einem Erdloch, im Lehmfussboden, hatte er seine Habseligkeiten. Zwei Tumans hatte er sich erspart, zehn Abbas und eine Handvoll Schaur. Sie kamen zu unterst in das Bündel. Obendrauf ein Laib Tschureck, das flache, georgische Brot. Am nächsten Tage wollte Tamara frisches Brot backen. Aber er konnte es nicht abwarten; er weiss, wenn er noch einmal mit Wachtang zusammengeriet, gab es Totschlag.
Nun war das Bündel fertig. In der Hand trug er die Schuhe mit ihren spitzen Schnäbeln. Barfuss schlich Nasid aus dem Hause. Er lauschte.
Drinnen aus dem Schlafraum hörte man das laute Schnarchen des schlafenden Alten. Dazwischen das schwere Atmen der alten Mariat. Tamara schlief so lautlos wie ein Vögelchen.
Als er an Tamara dachte, wurde ihm doch weh zumute. Er liess sie hier allein. Was würde aus ihr werden? Die Hütte Wachtangs war verschuldet, das Feld auch. Der Alte würde Tamara verkaufen an den Armenier.
Schwer seufzend holte er seinen sauer ersparten Tuman aus dem Bündel hervor, wickelte ihn ein. Dann setzte er sich hin. Und im ersten Morgengrauen, das durch das winzige Fenster hineinschaute, malte er mühsam Buchstaben an den alten Wachtang:
„Wenn Ihr die Tamara nicht in die Stadt zu dem alten Karapet lasst, gehört Euch dieser Tuman. Ich gehe fort. Ich werde ein reicher Pascha. Ich werde wiederkommen und Euch für Tamara bezahlen. Lasst sie nicht zu dem Karapet. Die Heiligen mögen Tamara und Mütterchen Mariat schützen.“
Damit war sein Brief beendet. Am liebsten hätte er noch eine Verwünschung für den alten Wachtang hinzugefügt. Aber dieser Brief war schon Arbeit genug.
Den Brief legte er, mit einem Feldstein beschwert, vor die Schlafkammertür. Der Pope würde ihn dem Alten vorlesen. Aber vielleicht fand ihn als erste Tamara. Gut, dann mochte sie den Tuman für sich behalten.
Ehe das Dorf erwachte, marschierte Nasid schon auf der Strasse. Der Himmel war silbergrau. Ueber den Bergen lag die erste zarte Röte des Tages. Noch einmal blickte Nasid auf sein Aul zurück, das Dorf, in dem er aufgewachsen