Collapse. Bernd Roßbach
Nicht mal bei Frakturen. Also sehen Sie das Ganze nicht so schwarz.«
Kathie wusste es besser. Die Aggressiven, deren Blicken wenig Menschliches innewohnte und die in ihrem Ausdruck eher an Raubtiere erinnerten, die ihre Beute fixierten, fristeten mit Stricken an Betten fixiert ihr Dasein. Die mit Ledergurten versehenen Standardeinrichtungen der Klinik reichten dazu längst nicht mehr aus. Kathie schilderte die zunehmende Angst unter dem Personal.
»Das mit Jane ist doch kein Einzelfall. Die werden immer unberechenbarer. Erst denkt man, sie sind ruhig, und dann drehen sie plötzlich durch.«
»Es ist nur vorübergehend«, versuchte Burton zu beschwichtigen. »Irgendwann muss es ja mal aufhören.«
Hoffnung war für Burton etwas, das er nie aufgab, aber auch er vermochte sich der Realität nicht zu entziehen. Beide Patientenkategorien würden zwar für sich genommen keine Besonderheit darstellen, wenn nicht in den zurückliegenden Wochen die Registrierung gleichartiger Fälle in den Großstädten nahezu explosionsartig zugenommen hätte. Noch hielten die Ärzte den Krankenhausbetrieb mit Durchhalteparolen aufrecht, aber sie ahnten nicht, dass die Situation schon bald weiter eskalieren sollte.
Burton prüfte die Blutproben und steckte sie in die Kühltasche. »Schicken Sie die Ergebnisse zum Ministerium! Die hatten gestern schon angefragt. Ich will jetzt endlich wissen, was hinter der ganzen Sauerei steckt.«
»Es gibt neue Erkenntnisse. Ein Professor Feilgruber in Genf hat sich zu den toxischen Befunden geäußert«, erklärte Wuthering.
»Und was sagt er?«
»Seiner Meinung nach sind es Abbauprodukte bekannter Substanzen. Eine Art Aufputschdroge mit psychopathogenem Effekt.«
»Also doch etwas Synthetisches?«Burton schien überrascht.
»Die Analysen sind nicht abgeschlossen. Sieht aber aus, als hätten wir es mit einer Epidemie von Drogenkonsumenten zu tun.«
Burton drückte Wuthering die Tasche mit den Blutproben in die Hand. »Junkies? Sie machen Witze …«
»Keine Ahnung. Eine offizielle Stellungnahme vom Ministerium gibt’s nicht. In den Berichten über die Unruhen hab’ ich noch nichts gehört. Irgendwie mauern alle Beteiligten.«
»Was die rausgeben, ist doch eine Farce. Wie immer halten sie die Informationen zurück!«, echauffierte sich Burton.
»Sie verharmlosen. Erst halten mal wieder Statistiken her, um die Zusammenhänge zu verschleiern, und wenn’s scheibchenweise rauskommt, hat es nachher keiner gewusst.«
»Wenn das stimmt mit den Junkies, ist das ein dickes Ding!«
Kathie Flannegan absolvierte bereits die zweite Schicht hintereinander. Die im vierten Monat Schwangere hatte sich zwar nur wenige Pausen gegönnt, allerdings unterstützten sie ihre Kolleginnen nach Kräften, sodass Kathie der Meinung war, die Arbeit auch unter diesen Bedingungen leisten zu können.
Ihr Patient lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Sein Schädel war kahl rasiert und die mit Klebeband befestigte Mullbinde bedeckte eine tiefe Platzwunde, die bis auf den darunter liegenden Knochen reichte. Blut sickerte in den Verband. In den überfüllten Krankenzimmern war kein Platz für weitere Neuzugänge. Deshalb schob Kathie den Bewusstlosen in den angrenzenden Reinigungsraum. Das Bett fand in der Kammer neben Schrubbern und Putzeimern Platz.
Den Füllstand prüfend, stach Kathie die Nadel für die Infusion durch die Gummimembran der Glasflasche. Wie tausende Male zuvor befestigte sie auch diesmal den Glasbehälter mit der Flüssigkeit an der Halterung des rollbaren Ständers. Der Patient lag regungslos auf dem Bett. Von ihm abgewandt, bemerkte Kathie nicht, wie sich für wenige Sekunden die Lider seiner Augen hoben. Seine linke Hand begann sich um die Stahlumrandung des Bettes zu krallen. Während Kathie den rechten Arm des Patienten anhob, ertasteten ihre Finger den Puls. Wie sonst auch nahm sie den Blutdruckmesser zu Hilfe.
»Na komm schon«, murmelte sie und erwartete ungeduldig das Ergebnis. Dem Instrument nach zu urteilen, zeigte der Blutdruck keine Auffälligkeiten. Nur für den Puls, der um etwa vierzig Schläge je Minute über dem normalen Takt schlug, hatte Kathie keine Erklärung.
Ein Zucken unter dem Laken, das die Beine des Patienten bis zum Bauchnabel bedeckte, erregte Kathies Aufmerksamkeit. Prüfend zog sie mit ihrem Daumen ein Augenlid des Patienten hoch und blickte in eine starr geweitete Pupille mit rot unterlaufener Iris. Sie testete die Reflexe, aber die Stimulation der Reflexzentren zeigte keinerlei Wirkung.
»Warum ist das so, verdammt?«, murmelte sie zu sich selbst. »Irgendetwas mit der Steuerung des Körpers scheint durcheinander.«
Die Stationsschwester kritzelte mit einem kleinen Stift noch einige handschriftliche Aufzeichnungen auf das Display ihres Computers, der aussah wie ein zu groß geratenes Telefon. Dann schickte sie die Daten an den Funkchip in der Patientenkarte am Fußende des Bettes. Währenddessen fiel hinter ihr die Tür ins Schloss. Von draußen auf dem Krankenhausflur drang das hektische Öffnen und Schließen von Türen an ihre Ohren. Die zugeschalteten Absauganlagen in den angrenzenden Versorgungsräumen, die seit Wochen die Geräuschkulisse einer Werkhalle verbreiteten und in der Enge der Kammer nun umso lauter dröhnten, ließen sie aufhorchen. Von der werdenden Mutter unbeachtet, öffnete der Patient in diesem Augenblick seine Augen. Sie schlossen sich wieder, als Kathie sich seinem Brustkorb näherte. Auch das verräterische Beben der Nasenflügel verflachte. Kathie nahm ihr Stethoskop und setzte es auf die mit kaltem Schweiß bedeckte Brust des Mannes. Sie horchte. Er atmete ruhig. Kathie griff zum Mobiltelefon und wählte die Nummer von Doktor Burton.
Noch während sie die Kühle des Hörers an ihrem Ohr spürte, vernahm sie im Hintergrund das monotone Vibrieren der Klimaanlage. Kalte Luft strömte in ihren Nacken und mit den ersten Anzeichen einer Gänsehaut begannen sich die Härchen ihres Unterarms aufzurichten.
Die Krankenschwester hatte die Verbindung hergestellt, am anderen Ende der Leitung meldete sich Burton.
»Jack, ich habe den Neuzugang auf der Vierundvierzig untersucht. Hoher Puls, keine Reflexe, aber tonische Krämpfe und leichte Zyanose. Was soll ich ihm geben?«
Kathie war ins Gespräch vertieft. Sie bemerkte nicht, wie sich der Oberkörper des Mannes im Hintergrund aufrichtete. Sein Gesicht verfinsterte sich, während er auf ihren Rücken starrte.
»Ich werde ihn mir selbst ansehen«, tönte die Stimme des Doktors durch das Mobiltelefon.
»Gut, ich habe ihn in der …«Sie stockte, denn sie nahm ein rasselndes Atemgeräusch in der Nähe ihrer Schulter wahr.
Mit einem Schrei ließ sie das Telefon fallen. Instinktiv verschränkte sie die Handflächen vor ihrem Gesicht. Ihr Versuch, zurückzuweichen, wurde durch die Hand des Fremden verhindert. Der Arm schnellte federgleich vor und packte sie an Kittel und Schulter. Ein röhrender unmenschlicher Schrei aus der Kehle des Mannes erfüllte die Kammer. Katie erschauderte. Sie sah, wie die Hand auf ihren Hals zuschnellte, um sie mit eisernem Griff zu packen. Gleichzeitig barsten die Fesselungen am Unterschenkel des Patienten, sein muskulöser Körper erhob sich von der Liege.
Kathie blieb keine Zeit, einen weiteren Schrei auszustoßen, der bereits auf ihren Lippen lag. Zu eisern war der Griff um ihre Kehle, der ihr die Luft zum Atmen abschnürte. Die Blutzufuhr an ihrer Halsschlagader wurde durch die Umklammerung verringert, und die Bewegungen, mit denen sie versuchte, mit der Hand irgendeinen Gegenstand zu fassen zu bekommen, glichen bereits denen einer Ertrinkenden, die sich in Todesangst an etwas zu klammern suchte.
Der Krankenschwester schlug ein widerlicher Gestank entgegen. Das zu einer Fratze entstellte Gesicht des Mannes näherte sich Katies Wange, sodass sie noch den fauligen Atem des Angreifers roch, bis ihre Sinne zu schwinden begannen. Sie starrte auf die weiß verfärbte Zunge auf blaubeerfarbenem Grund, die sich zwischen den nikotinverfärbten Zahnreihen hindurch auf die Lippen schob. Auch der Rachen schimmerte violett. Kurz vor der Bewusstlosigkeit glaubte sie noch, einen sich verjüngenden Tunnel voller Nebelschwaden zu erahnen, während es ihr zunehmend unmöglich wurde, ihre Umwelt wahrzunehmen.
Der muskulöse Mann packte schließlich den Besenstiel, nach