Collapse. Bernd Roßbach
bereits beendet.
»Verdammt.«
»Wer war’s?«, wollte Judy wissen.
»Der Alte. Er will mich morgen sehen.«
»Oh nein. Muss das sein?« Judy schloss die Augen und drehte den Kopf zur Seite.
»Meine Prüfung. Ich hab’ sie wahrscheinlich vermasselt.« Kleinlaut schob er hinterher: »Verdammt, ich hab’s geahnt.«
»Was machen wir dann mit unserem Urlaub?«
»Ein paar Tage San Francisco und LA geht doch auch. Wir machen einen Abstecher nach Huntington Beach, okay?«
Judy wollte antworten, wurde aber von einem Ereignis auf der Straße abgelenkt. Mehrere Uniformierte prügelten mit Schlagstöcken auf eine Horde von Randalierern ein. Instinktiv suchte sie die Nähe zur Schulter ihres Freundes.
»Shuin, guck dir das an! Überall die Soldaten!«
Auch Sparks erfasste mit einem Blick die Zusammenrottung von Gestalten, die sich vor einem Geschäft postiert hatten, dessen Schaufenster geborsten war. Er zog Judy an sich. Was er erblickte, ließ seine Miene gefrieren. Er ahnte bereits, dass dies erst der Auftakt zu einem noch im Verborgenen aufkeimenden Terror sein sollte, der sich seit Tagen unterschwellig und heimlich, von der großen Masse noch nicht wahrgenommen, als große Gefahr abzuzeichnen begann.
Jack Burton schrie aus voller Kehle. Seine Hilfeschreie hallten durch den Flur und erreichten das Schwesternzimmer am Ende des Korridors. Zwei Angestellte ließen eiligst Blutkonserven und Infusionslösung auf den Tisch fallen, um ihrem Kollegen zu Hilfe zu eilen.
Noch auf dem Gang blieben sie stehen und wurden Zeuge, wie Doktor Burton von hinten angefallen wurde. Der Unbekannte hielt den Mediziner umklammert und fuchtelte mit einem Skalpell vor Burtons Hals. Den Mediziner vor sich her bugsierend, näherte er sich den Schwestern. Seine Stimme tönte blechern über den Gang.
»Los, her mit den Bonbons! Wo sind sie?«
In diesem Augenblick wurde Burton von dem Angreifer zu Boden geschleudert. Sein Kopf traf an die Vorderkante einer Türzarge. Unmittelbar darauf erhielt er auch noch einen Tritt in die Seite, der ihm den Atem nahm.
Der Angreifer hatte sich den Krankenschwestern, die beide in einer Fluchtbewegung rückwärts schritten, bereits auf zwei Armlängen genähert.
»Eure Betäubungsmittel, Morphium und so was! Her damit!«
Die linke der Schwestern riss einen Stuhl an sich und schleuderte ihn in die Richtung des Angreifers.
Die größere Krankenschwester von beiden, zu der er die Distanz durch blitzschnelles Vorpreschen soweit verringern konnte, dass er sie am Arm zu fassen bekam, presste er zunächst gegen die Wand, um sie dann gegen die gegenüberliegende Glasscheibe des Schwesternzimmers zu schleudern. Ihr Kopf durchbrach bis zu den Schultern das Glas. Gleich einem Regen aus Kristall prasselten die Splitter zu Boden. Bewusstlos sackte die Schwester kopfüber hinter der Scheibe zusammen. Blut sickerte aus ihrem Hals. Dem Mund des Angreifers entwich ein heiseres Lachen, als er sein regungsloses Opfer betrachtete. Von den Verletzungen nahm er keinerlei Notiz.
Ohne zu zögern, setzte er der anderen Schwester nach, die schreiend ihrem Fluchtreflex gefolgt war und in Richtung Ausgang flüchtete. Sie erreichte mit zitternden Händen die Tür zum Treppenhaus. Dort stolperte sie, fing sich aber wieder am Treppengeländer. Um Hilfe rufend, stürzte sie die Stufen zum nächsten Geschoß hinab. Anstatt der Flüchtenden weiter nachzusetzen, verharrte der Creep plötzlich, blickte ihr noch einige Sekunden hinterher, bis sie das Zwischengeschoss erreicht hatte. Dann wandte er sich um und orientierte sich wieder in Richtung des Schwesternzimmers.
Die Schwerverletzte ignorierend, steuerte er zielsicher auf den Opiatenschrank zu. Mit einem Schemel schlug er auf das Schloss ein, bis das Blech brach und er den Schrank öffnen konnte. Seine Hände durchpflügten die Reihen von Medikamenten. Er schien nach Verpackungen eines bestimmten Präparats zu suchen, aber die Etiketten betrachtend, griff er zu immer neuen Glasflaschen, ohne fündig zu werden.
Im angrenzenden Raum bemerkte er schließlich einen weiteren Medikamentenschrank. Mit seinen Fingernägeln kratzte er über die verschlossenen Türflügel. Noch zögerte er, aber die erfolglose Suche sollte seine Aggression bald steigern. Schließlich riss er den Hängeschrank aus seiner Verankerung und ließ ihn zu Boden fallen. Laut splitterte das Holz.
Unterdessen erlangte Doktor Burton wieder das Bewusstsein. Sein Kopf schmerzte. Er betastete den warmen, klebrigen Fleck an seiner Stirn und betrachtete seine blutbefleckten Fingerspitzen, bevor er sich aufrichtete. Blut tropfte von seiner Augenbraue auf den Fußboden. Noch behinderten ihn Schwindelgefühle, dennoch versuchte er, auf seinen Beinen zu stehen und hielt sich den Kopf. Unwillkürlich kamen ihm Bilder aus seiner Jugend in Erinnerung, als er in der Kiesgrube beim Drachen steigen lassen, in einem Moment der Unachtsamkeit, von einem Abhang gerutscht war und sich eine blutende Wunde zugezogen hatte. In diesem Augenblick fiel sein Blick auf die Stationsschwester, die immer noch reglos in dem Fensterrahmen auf zerbostenem Glas lag. Kopf und Arme ruhten auf dem dahinter angrenzenden Tisch im Schwesternzimmer. Das Blut hatte sich bereits darauf ausgebreitet und tropfte über die Tischkante zu Boden. Burton, der der Bewusstlosen zu Hilfe eilen wollte, stockte in seiner Bewegung. In der Tür am Treppenhaus erschienen zwei dunkle Silhouetten, die Burton verschwommen wahrnahm. Sekunden später entzifferte er die Aufschrift Police auf schwarzem Untergrund.
»Endlich«, rief er. »Hier, er ist hier!«Trotz seiner Kopfschmerzen fühlte er so etwas wie Erleichterung. Er begann, einen der Uniformierten mit Winken auf sich aufmerksam zu machen. Als er den Arm zu einer hilfesuchenden Geste erhoben hatte, streifte für Sekundenbruchteile ein roter Laserpunkt seinen Kittel.
Zunächst in Burtons Richtung forschend, setzte der Agent seinen Weg lautlos fort, ohne den Doktor weiter zu beachten. Ein weiterer Uniformierter sicherte den Gang mit dem Rücken zur gegenüberliegenden Wand.
Jetzt vernahm Burton auch die Geräusche aus dem Schwesternzimmer. Nach wenigen Rufen hallte ein Schuss durch die Gänge, den Burton nur als gedämpften Schlag vernahm. Dann herrschte plötzlich Stille.
***
Berkeley San Francisco, 10. Juli,
sieben Tage vor der Alphastabilität
»Nehmen Sie Platz, Sparks.«
James Leighland, Professor für Kernphysik und Chemie sowie Leiter der Fakultät für Grundlagenforschung in Berkeley, wies seinem Studenten im Büro einen Platz auf dem Sofa zu. Dann erhob er sich hinter seinem Schreibtisch, auf dem ein Glasaschenbecher mit einer angerauchten Zigarre aus Honduras stand.
»Sie haben’s ja schnell geschafft, von Ihrem Tauchurlaub herzufinden. Haben Sie diesmal wenigstens ein paar Muscheln gesammelt oder sich wieder an den Feuerkorallen die Hand verbrannt? Kaffee?«
Sparks folgte dem Professor zur Kaffeemaschine. »Nein, diesmal habe ich Handschuhe getragen. Eine Tasse, gerne.«
»Wie umsichtig. Dann können Sie Ihren Becher heute selber halten?«, flachste Leighland.
Sparks lachte. »Ich denke schon.« Er nahm das heiße Gebräu entgegen, das Leighland mit zwei Löffeln Zucker und einer Prise Kakao trank. Überhaupt trank Leighland zu jeder Tages- und Nachtzeit Kaffee. Und zwar im festen Glauben daran, der Kaffee würde ihm helfen, in seinen Gedanken die nötige Ruhe und Weite zu finden, um sein großes Ziel zu erreichen: Die Flut der Einzelinformationen aus Teilchenversuchen zu einem Ganzen, zu einem allumspannenden Modell der Weltformel, zu modellieren. Die Weltformel, so wusste auch Sparks, wäre das physikalische Bindeglied, das alle vier Grundkräfte der Natur zu vereinheitlichen und erklären vermochte. Allerdings würde es ein schwieriges, vielleicht in Leighlands Lebensperiode nicht zu erreichendes Unterfangen werden, jene alles vereinende Formel zu finden, an der sich schon so viele seiner Kollegen erfolglos versucht hatten und deren Lösung sich wie ein Chamäleon im Dickicht aller möglichen Theorien zu verstecken suchte.
»Respekt. Jetzt haben Sie’s ja schon vor Ihrem Studienabschluss geschafft, berühmt zu werden.«
»Sie