Collapse. Bernd Roßbach
»Die Wahrheit ist, man hat im Geheimen weitergebaut. Konkurrierende Forschergruppen, das ewige Lied. Sie wissen ja, dass in China auch ein Collider gebaut wurde. Die wollten wir nicht drauf aufmerksam machen, hatten schließlich schon viel investiert.«
»Verstehe. Und wie ging’s weiter?«
»2010 wurden die Bauarbeiten wieder aufgenommen und die Röhre unterirdisch vorangetrieben.«
Sparks kam das Wettrüsten der Collider in den Sinn. Jene Einrichtungen, die in der Grundlagenforschung mit immer gigantischerem Aufwand betrieben und sich auf unterirdischen Kreisbahnen einen Vorsprung im Wettlauf um das kleinste Teilchen erhofften.
»Bauen sie immer noch?«
»Nein. Die Ringanlage ist seit einem halben Jahr fertig. Wir sind mit Projekt Space Clash gestartet, und es gab bereits Erfolge.«
Augenblicklich war Sparks Euphorie zurückgekehrt: »Schwerkraftexperimente und Zeitphänomene, Vorhersagen über die Zeitdilatationen? Das wäre ja großartig! Aber das Standardmodell ist ja mit dem Higgs-Teilchen bestätigt, oder?«
»Ja, da war CERN schneller. Aber wir haben das Graviton entdeckt und isoliert.«
Sparks schluckte und blickte seinen Professor an, als wolle dieser ihm erklären, dass der Mond eine Sonne sei.
»Aber das würde ja bedeuten, dass …«
»Genau. Dass wir künstliche Schwerkraft erzeugen können.«
»Und wie haben Sie das gemacht?« Sparks Unglauben wuchs. »Mit beschleunigten Protonen?«
Leighlands Grinsen war das eines Anwalts, dessen Argumente beim Richter durchschlagenden Erfolg erreichten. »Unsinn! Vergessen Sie mal die Vorlesungen der letzten Monate. Wir können ja nicht alles gleich ausplaudern. Deswegen halten wir die Versuche in unserem neuen Collider erstmal geheim.«
»Also keine Protonen?«
»Nein, wir sind schon viel weiter. Aber wenn ich das in den Vorlesungen bringen würde, können wir’s gleich an unsere Konkurrenten in China schicken.«
»Und was nahmen Sie stattdessen?«
»Wir ließen Blei-Ionen kollidieren. Dabei entstand eine völlig neue Materie. Das Quark-Gluonen Plasma, damit erzeugten wir Schwerkraftwellen …«
Sparks unterbrach ihn: »Und bei der Kollision detektierten Sie das Spin-2 Teilchen und fanden das Graviton.«
»Sehr gut. Danke Shuin! Wir sind kurz vor neuen Erkenntnissen jenseits des Standardmodells.«
Sparks sah so etwas wie Besorgnis in Leighlands Gesicht.
»Und?«
»Aber wir kommen nicht mehr weiter, wir brauchen so etwas wie einen Urknall. Dann könnten wir Zeit, Raum und Dimension ergründen, verstehen, wie dies alles zusammenhängt. Wir brauchen eine klarere Vorstellung davon.«
»Einen Urknall?«
»Ja. Einen Big Bang! Zugegeben, etwas kleiner als früher. Genauer gesagt einen Mikro-Urknall.«
»Sie meinen, Sie simulieren einen Urknall im Reagenzglas?«
»Was heißt hier Reagenzglas? Wir haben einen Collider.«
»Aber das würde ja bedeuten, Sie müssten die Singularität nachstellen.« Sparks dachte an den unendlich verdichteten Punkt aller Energien vor dem Urknall. Jenen Energienullpunkt, aus dem alle Energie und Materie geboren wurde. »Ist das nicht gefährlich?«
»Nein. Wir gehen in unseren neuen Versuchen davon aus, dass der Big Bang ohne Singularität auskam. Lediglich eine maximale Verdichtung aller Materie und später eine maximale Ausdehnung. Und das in ständiger Wiederkehr in etwa fünfundsechzig Milliarden Jahren.«
»Eine Theorie, was ist mit den Risiken?«, wandte Sparks ein.
»Die eigentliche Reaktion findet bei uns unterhalb des Pikobereichs auf der Planck-Längenskala statt. Es spielt sich somit nicht innerhalb unseres Wahrnehmungsbereichs ab. Also keine Sorge.«
»Und wann wollen Sie das starten?«
»Die Vorbereitungen laufen. Wir sind unter Zeitdruck, die Konkurrenten sind uns auf der Spur.«
»Deshalb also auch die Heimlichkeiten und Bautätigkeiten im Verborgenen?«
»Klar. Wir mussten alles tun, um uns vor anderen Gruppen zu schützen«, lächelte Leighland.
»Gut, aber wer betreibt denn jetzt die Anlage?«
Leighland zögerte einen Augenblick und unterdrückte ein Schmunzeln.
»Na, ich.«
»Was, Sie?«
»Ja, meine Fakultät in Berkeley. Und ich dachte, dass Sie vielleicht in den sauren Apfel beißen und sich selbst nach Waxahachie begeben, Shuin.«
»Ich, oh wow!«
»Ja, Sie! Es fand sich ja kein Anderer.«
»Es fand sich … kein Anderer?« Sparks fiel die Kinnlade runter. Für ihn stand fest, dass es die Chance seines Lebens darstellte, in einem Projekt zu arbeiten, für das er von seinen Kommilitonen in der Universität beneidet worden wäre, vorausgesetzt, dass sie es je hätten erfahren dürfen.
»Aber da sucht man doch sicherlich nur … Ich meine … Es dürften doch da nur die Besten …«
Sparks rang um Fassung. »Und Sie haben mich …?«
Leighland deutete nur ein Achselzucken an. »Naja. Irgendjemand muss sich immer finden, Shuin.«
»Oh mein Gott! Wann soll es losgehen?«
»Lassen Sie mal besser Gott aus dem Spiel, Sparks. Der hilft Ihnen nicht. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er bei Schrödingers Katzenexperiment das arme Tier gerettet hätte. Also fahren Sie hin, melden Sie sich an. Morgen geht’s los.«
»Was? Morgen schon?«
»Ja, morgen. Sie sind für zwei Uhr dort zum Vorstellungstermin bei Karel Pendergast angemeldet. Es sei denn, Sie haben etwas Besseres vor.«
»Etwas … Besseres vor?« Leighlands Zögling kamen die Worte tonlos über die Lippen. Dann brach es aus ihm heraus: »Yes!«
Sparks Hand ballte sich zur Faust, und mit einem Sprung, als wolle er einen Dunking im Basketball vollführen, reckte er seine geballte Faust voran in die Luft. Wie nach einem gewonnenen Spiel hielt er die Faust mit angespanntem Bizeps in einer Siegergeste vor seiner Brust.
Als Leighland den Jungforscher Sparks nur wenig später den Raum verlassen sah, betrachtete er noch einmal die Auswertung seiner Unterlagen. »Natürlich du, Sparks!« murmelte er in Richtung seines Kaffeebechers. »Wer denn sonst, wenn nicht der Beste.«
***
Superconducting Supercollider Waxahachie, Dallas, 17. Juli
»Edgar, holen Sie den Chef, schnell«, rief Sparks und ließ sich die Werte der Messinstrumente ausdrucken, die ihn in Erstaunen versetzten.
Die digitale Anzeige des Kontrollpeaks zeigte sechs leuchtende Balken in einem fahlen Grün. Seit einer Stunde ließ Sparks die Messinstrumente nicht mehr aus den Augen. Die Markierung fluktuierte zwischen sechs und sieben, schien sich aber nicht weiter zu steigern und verharrte plötzlich sekundenlang bei drei, um dann wieder zaghaft, wie das Pulsieren von Blut in einer Ader, den vierten Markierungspunkt zu erklimmen.
Shuin, der seit wenigen Tagen am Projekt Space Clash im Collider in Dallas arbeitete, blickte ungläubig auf die Anzeige am Control-Board. Die Ereignisse waren für ihn atemberaubend. Was ihn beeindruckte, war nicht das Verharren der Markierungsbalken auf vier Teilstrichen, die in der Regel innerhalb weniger Sekunden wieder auf Null hätten absinken müssen. Es war etwas viel Bedeutsameres, etwas, das er sich mit den herkömmlichen Erkenntnissen der Kernphysik nicht erklären konnte. Alle eingehenden Parameter schienen die Naturgesetze auf den Kopf zu stellen.