Gustav. Wolf Kampmann

Gustav - Wolf Kampmann


Скачать книгу
tion> Wolf Kampmann

      Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden.

      Eingeflossen sind jedoch Erinnerungen an und von M.V.

      1.

      Ein Geräusch. Gustav Bülow erwacht. Er weiß nicht, wie lange er geschlafen hat. Das Gefühl für Zeit ist ihm längst abhanden gekommen. Wer wie er in der Epoche der Fantasie aufgewachsen ist, kümmert sich irgendwann nicht mehr um das mechanische Ticken der Uhr. Schlaf ist ohnehin nur eine Ausrede für Versager. Gustav schläft nicht.

      Wenn die anderen die Augen schließen, um sich von der Wirklichkeit auszuruhen, schickt er sich erst an, sein wahres Leben zu genießen. Das ist keine Flucht. Er wechselt nur die Ebene, als würde er ein anderes Zimmer betreten. Wie und warum ihm dieser chronologische Zustandswechsel gelingt und anderen nicht, kann er sich nicht erklären, aber – offen gestanden – es hat ihn auch nie interessiert. Er macht es einfach.

      Schon sein Vater und seine Lehrer hatten ihn mit ihrer lächerlichen Vorstellung von der Unumkehrbarkeit der Zeit genervt. Zeit ist Geld, nutze den Tag, was du heute kannst besorgen … Alles Unsinn. Jedem steht ein Reich offen, in das er entfliehen kann. Man muss nur die Tür kennen und rechtzeitig nach der Klinke greifen. Doch sein Vater und seine Lehrer, all das ist lange her.

      War der Vater ein alter oder junger Mann? Gustav weiß nicht, wie er sich erinnern soll. Gleich wird er wieder die Augen schließen, womöglich wird er ihn dann treffen. Gar nicht mehr lange, dann wird auch sein eigenes Leben Vergangenheit sein. Als würde das etwas ausmachen, denn mit dem Leben verhält es sich ja wie mit dem Wachsein. Alles eine Frage der Luken, durch die man schlüpfen kann.

      Aber da war ja noch dieses Geräusch. Gustav liegt in seinem Bett, von dem seine Frau behauptet, es wäre sein Krankenbett. Gustav weiß es besser. Zugegeben, manchmal überkommt ihn diese Müdigkeit, diese unerträgliche Schwere, dann will er sich gar nicht rühren. Und sich erinnern schon gar nicht. Dabei hat er auch immer wieder Momente, in denen er ganz der Alte ist. »Ihr werdet euch noch alle wundern.«

      Unterhalb der Zimmerdecke umschwirrt ein Geschwader Fliegen die liebevoll mit Fragmenten von Hirschgeweihen verzierte Lampe, als wäre es eine Raumstation. Gustav versucht sie zu zählen. Es gelingt ihm nicht, es ist ihm noch nie gelungen. Wenn die Viecher doch nicht ständig von ihren Flugbahnen abweichen würden. Für einen Augenblick stellt er sich vor, die schwirrenden Punkte wären Geier und die Enden der Geweihe ferne Andengipfel. Wie imponierend ein Schwarm Fliegen doch aussehen kann, wenn man ihn von der Zimmerdecke in Vorpommern über ein Gebirge am anderen Ende der Welt versetzt. Für das Große im Kleinen hat er schon immer ein Auge gehabt.

      Neben seinem schneeweiß bezogenen Bett wartet auf einem dreibeinigen Hocker ein kleiner Teller mit einem halben Wurstbrot und ein paar einsamen Weintrauben darauf, in die Küche zurückgetragen zu werden. Hin und wieder unterbricht eine der Deckenfliegen ihre Lampenumrundung für einen kurzen Besuch auf der Wurstscheibe, um sogleich wieder ans Firmament des Zimmers zurückzuschwirren. Gustav ist für diese Stippvisiten seiner klitzekleinen Mitbewohner dankbar, als würden sie nicht der Wurst, sondern ihm gelten.

      Eine winzige Ecke der Brotscheibe fehlt, wahrscheinlich hat er vorhin einmal abgebissen. Er kann sich nicht erinnern. Wozu auch? Früher hat er gern gegessen. Vor allem viel, ein Mann wie er braucht schließlich Kraft. Aber jetzt interessiert ihn Essen nicht mehr.

      Eine Zigarette, das wär’s jetzt. Seine Frau – wie hieß sie noch gleich? – erlaubt ihm das Rauchen jedoch nicht, wenn er allein im Bett liegt. Ihr schönes Haus könnte ja abfackeln. Die dumme Kuh. Hat sowieso nie Zeit für ihn. Ständig hört er sie im Untergeschoss mit dem penetranten Pack von Nachbarn quasseln. Sie wartet nur darauf, dass er abkratzt. Gustav muss bei diesem Gedanken lachen.

      Das Geräusch kommt von der Tür seines kleinen Zimmers unter dem Dach. Durch das große Fenster dringt die Sonne ein und tastet die Tapeten ab. Die breite Wand gegenüber dem Bett hängt voller Bilder – er und seine Hunde. Ja, das waren die Einzigen, die ihn wirklich verstanden haben. Hunde lügen nicht, sind niemals illoyal, missbrauchen unter keinen Umständen das Vertrauen, das man ihnen entgegenbringt. Die Liebe eines Hundes ist bedingungslos und aufrichtig, sein Gebell niemals geschwätzig. Seine Anhänglichkeit ist ohne jeden Hintergedanken. Mit Hunden kann man das Lager teilen. Sie sind da, wenn man sie braucht.

      Vier Hunde hat er gehabt. Sie alle sind längst fort und warten auf der anderen Seite auf ihn. Das wird ein Fest. Auf einer länglichen Holzkommode gegenüber dem Fußende liegen ein paar besonders dekorative Stücke seiner einst ansehnlichen Sammlung von Fossilien und anderen Eigentümlichkeiten der Natur. Bei einigen hat er ein wenig nachgeholfen, um ihnen ihr heutiges Aussehen zu verpassen. Er kann ja nichts dafür, dass selbst die Natur zuweilen ihre Unzulänglichkeiten hat.

      Aber wen interessiert das schon, nur der Eindruck zählt. Ein wenig Lack hier, ein paar Pinselstriche dort, auch Leim hat noch nie geschadet, schon wird aus ein paar Scheren und Schalenteilen, die er einzeln am Strand aufgelesen hat, ein kompletter Hummer. Neben der Tür türmen sich die Trinknäpfe seiner Hunde, die er über all die Jahre wie Heiligtümer aufbewahrt hat, zu einem Altar seiner Lebensgeschichte.

      Ach ja, die Tür. Da war doch was. Im Moment kann Gustav sich nicht so einfach bewegen wie sonst. Er muss seinem Nacken bewusst den Befehl geben, den Kopf zur Seite zu drehen, selbst dann fällt es ihm noch schwer. Wo er einst Muskeln gewohnt war, reiben jetzt schmerzhaft die Knochen aufeinander. Soll er oder soll er nicht? Dann ein Räuspern von der Tür her. Offensichtlich steht da jemand. Elke – stimmt, das war ihr Name – ist es nicht. Die würde sich nicht diskret räuspern, sondern ihn ohne zu fragen mit ihren dummen Alltäglichkeiten vollquatschen, ihn mit irgendwelchen Pillen oder Tropfen martern, die sie sonst niemandem in ihrer Apotheke aufschwatzen kann, oder stolz reinplatzen und ihn mit den Worten »Weißt du, wer heute zu dir kommt« aus seinen intimen Vorbereitungen reißen. Als ob er hier noch jemanden sehen will. Nein, Elke ist es nicht.

      Nun macht er sich doch die Mühe, den Kopf zu wenden. Langsam, ganz langsam. Um keine Energie zu verschwenden, schließt er dabei die Augen. Der Schlaf will schon wieder nach ihm greifen.

      Im Türrahmen steht eine Gestalt, offenbar ein Mann. Anfangs nimmt er nur die Umrisse wahr, aber da ist etwas, das ihn zwingt, den Besucher etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Gustav hat ihn noch nie gesehen, und doch wirkt der andere in seiner Durchschnittlichkeit so vertraut, als wäre er ihm schon tausendmal begegnet, ja als hätte er ihn wie sein Alter Ego ein Leben lang begleitet. Mittelgroß, mittelblond, mittleren Alters, der Zweiteiler mittelgrau. In seinem Revers steckt ein winziges goldenes Abzeichen, doch Gustav kann nicht erkennen, was es darstellt. Wo hat die Kuh denn schon wieder seine Brille hingelegt? Dann muss er eben versuchen, seinen unangemeldeten Gast auch ohne Sehhilfe etwas eingehender in Augenschein zu nehmen. Auf seine Sinne konnte er sich ja bis zuletzt ganz gut verlassen.

      Unter den immer noch buschigen Brauen kneift er die müden Augen zusammen. Nein, dieses Gesicht sagt ihm wirklich gar nichts. Sowas von unauffällig, absolut nichts Charakteristisches, das er irgendwo in seiner Erinnerung verorten könnte. Nur die Haltungsschwäche sticht ins Auge, der schmächtige Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, der Hals vom Kopf in den Rumpf gedrückt, die Knie unentschlossen angewinkelt. Irgendwie weibisch. Unter dem Arm trägt er eine speckige Kunstledermappe. Ein Beamter, der irgendeine Unterschrift von ihm will?

      Gustav hat schon lange nichts mehr unterschrieben. Das erledigt jetzt die Frau für ihn. Seine Elke. Wie gut, dass er sie hat. Morgen früh muss er ihr Blumen kaufen. Rosen, einen Riesenstrauß. Hinter den schmalen Schultern des Eindringlings macht er weitere Gestalten aus, doch mit denen wird er sich später beschäftigen.

      Gustav nimmt alle Kraft zusammen, um mit seiner Stimme diesen Eindruck von früher hervorzurufen, als er von der Bühne herab mit einem einzigen Wort Hunderte in Erstarrung versetzen oder zu Tränen rühren konnte. Die Bühne und das Leben. Und jetzt?

      Er muss Haltung bewahren. In entscheidenden Momenten hat er schließlich immer auf Höflichkeit geachtet. »Guten Tag?« Es ist mehr Frage als Begrüßung.

      Eine Pause entsteht. Der Fremde lächelt und schweigt. Gustav weiß nicht, was er davon halten soll. Er beginnt, Vertrauen zu fassen, aber gerade das macht ihn zugleich misstrauisch. Will ihn da jemand mit geheuchelter Nähe einwickeln? Abstand zwischen


Скачать книгу