Gustav. Wolf Kampmann

Gustav - Wolf Kampmann


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ihr auf dem Mond spazieren gehen«, hatte der Vater gesagt. Gustav bezweifelte keinen Augenblick, dass sein alter Herr recht hatte.

      Freunde hatte Gustav nicht, aber er brauchte auch niemanden zum Spielen. Die sportlichen Wettkämpfe seiner Schulkameraden langweilten ihn. Fußball hasste er ebenso wie Völkerball. Wenn beim Mannschaftssport die Aufstellungen gelost wurden, blieb er immer bis zum Schluss stehen. Keiner wollte ihn in der Mannschaft haben. Anfangs wurmte ihn das, nach einer Weile hielt er es für ein Privileg. Im Wald übte er heimlich Speerwerfen und Bogenschießen, Klettern und Laufen. Er spielte Bergsteiger und Großwildjäger, suchte sich Verstecke, falls ihn einst Banditen durch das kleine Tal jagen würden. Hier kannte er jeden Winkel, keiner würde ihm überlegen sein. Nein, nicht er war der von den anderen Jungs Geschmähte, sondern er ließ sie nicht an seiner Lebenswelt teilhaben. So einfach war das.

      Hin und wieder traf er auf den saftigen Wiesen neben dem Bach oder unter den Obstbäumen einen Schäfer. Die zottelige Gestalt sah aus, als wäre sie gerade aus einer fernen Vergangenheit aufgetaucht, braun gebrannt, mürrisch, mit undefinierbaren graubraunen Lumpen behängt, deren ursprüngliche Bestimmung nicht mehr erkennbar war. Sein Gesicht war stets unrasiert, ein Bart, der diesen Namen verdient hätte, wollte ihm trotzdem nicht sprießen. Wangen und Kinn waren eher von einer Art schwarzem Unkraut überwuchert. Die struppige Frisur ließ sich unter dem breiten, ausgefransten Schlapphut nur erahnen. So mussten wohl die Trapper ausgesehen haben, von denen Gustav in seinen Abenteuerbüchern las.

      Wie der Schäfer hieß, sollte Gustav nie erfahren. Er nannte ihn Vogelscheuche, ohne ihn allerdings jemals direkt mit diesem Namen anzusprechen. Gustav war fasziniert von dieser Naturerscheinung in Menschengestalt, hatte aber auch ein wenig Angst vor ihr. Vogelscheuche redete so gut wie nie. Und wenn er es doch tat, hatte Gustav Mühe, ihn zu verstehen. Er sprach nie in Sätzen, sondern stieß einzelne Wörter hervor, die von gutturalen Geräuschen und unbändigem Fluchen unterbrochen waren. Vogelscheuche vermied es, Gustav direkt in die Augen zu sehen. Und doch spürte der Knabe, dass diese seltsame Figur, die so gar nicht in die Zeit passen wollte, ihn mochte.

      Manchmal stibitzte Gustav aus der elterlichen Küche etwas Essbares, um es seinem unkonventionellen Kameraden mitzubringen. Dann zog sich über das narbige Gesicht des Schäfers ein breites, tonloses Lachen, das einen kläglichen Rest verfaulter Zähne zum Vorschein brachte. Wenn Vogelscheuche die Geschenke aber sogleich laut schmatzend, spuckend und pausenlos fluchend verspeiste, hätte sich Gustav am liebsten die Ohren zugehalten. So sehr er die gedeckte Tafel der Natur bevorzugte, lagen ihm doch die strengen väterlichen Tischsitten weitaus mehr als Vogelscheuches Rumgemansche.

      Der wortkarge Einzelgänger hatte einen Hund namens Wolf, mit dem sich Gustav schnell anfreundete. Vogelscheuche erzählte ihm auf seine umständliche Art, dass Wolf tatsächlich von Wölfen abstammen würde. Früher hätten seine Vorfahren Schafe gerissen, heute passte Wolf auf, dass kein Schaf verloren geht. Der rasselose Vierbeiner schien völlig verwildert, seinen Pelz bevölkerten ganze Stämme von Läusen und Flöhen, doch wenn Vogelscheuche einen heiseren Pfiff ausstieß, parierte er sofort. Auf Kommandos von Gustav reagierte Wolf nicht. Gustav konnte Knüppel werfen, so oft er wollte, das ignorante Hundevieh blieb träge liegen. Und doch war Gustav stolz darauf, dass Wolf ihn als Teil der Herde akzeptierte und ihm nach den ersten Begegnungen laut bellend und schwanzwedelnd entgegenstürmte, wenn er sich Vogelscheuche und seinen Schafen näherte.

      Von dem Hirten lernte Gustav nicht nur schnitzen, pfeifen, spucken, nach Herzenslust fluchen, Feuer machen, Fährten lesen und den Kot unterschiedlicher Tiere zu unterscheiden. Er verinnerlichte auch das Gesetz des Überlebens. Der heranwachsende Städter sog jede Bewegung seines burlesken Lehrmeisters auf, der ihm viel mehr Achtung abrang als das steife Lehrergesocks in der Schule, das so oft über ihn spottete. Er lernte, in der Natur den Körper vom Bewusstsein zu trennen, einzuschlafen, aber sofort hellwach zu sein, wenn die Situation es erforderte, zum Beispiel, wenn sich ein Fremder der Herde näherte.

      Stundenlang konnte er mit Vogelscheuche und Wolf unter einer durchlässigen Plane im heftig prasselnden Regen sitzen und nichts tun, als wortlos vor sich hin zu starren. Zeit spielte keine Rolle. Beim ersten Mal störte ihn die durchdringende Nässe noch, aber er biss die Zähne zusammen und ließ sich nichts anmerken. Der Schäfer warf ihm eine nach Schaf und Erde riechende Decke hin und Gustav wickelte sich ein. Nass wurde er trotzdem, aber er fühlte sich wie ein Indianer vor seinem Tipi. Und bald machte ihm der Regen nichts mehr aus.

      Schlotternd vor Kälte und am ganzen Körper verdreckt kam er an solchen Tagen nach Hause. Die Mutter wollte wissen, warum er sich nicht untergestellt hätte oder früher nach Hause gekommen wäre. Doch Gustav strahlte sie so glücklich an, dass sie nicht weiter insistierte. Hin und wieder erzählte Gustav den Eltern von Vogelscheuche, aber die hielten das für eine der vielen Fantastereien ihres Sohnes. Der war zunächst beleidigt, im Grunde war ihm das Unverständnis seiner Alten jedoch nicht einmal unrecht, fürchtete er doch, der Vater könnte ihm den Kontakt zu seinem so gar nicht salonfähigen Gefährten womöglich verbieten. Dann wäre es mit seinem Leben als Abenteurer vorbei gewesen, bevor es überhaupt angefangen hatte.

      Mit Spannung hatte Gustav die Berichte des schwedischen Weltreisenden und Naturschützers Bengt Berg gelesen. Auch der war seit den Tagen seiner Kindheit ein bedingungsloser Liebhaber der Natur geworden. In seinen Büchern machte er aus seiner Verachtung der Zivilisation mit all ihrer Berechnung und Zerstörungswut keinen Hehl. In eindrucksvollen Bildern schilderte er die Schönheit und Empfindlichkeit, aber auch die Unbarmherzigkeit der Natur. Der Stärkere setzt sich durch. Immer und überall. Gustav musste stark sein, lernen, in einer feindlichen Umgebung zu überleben und all die Dinge, vor denen die Verfechter der Zivilisation flohen, zu seinem Vorteil zu nutzen. Wie Bengt Berg. Sich in Pfützen zu waschen und mit der Feldflasche das Regenwasser aufzufangen.

      Bergs Bücher über Wildgänse und Adler ließen den wissbegierigen Jungen nicht mehr los. Er las sie immer wieder, bis er das Gefühl hatte, selbst all diese Abenteuer erlebt zu haben. Wie gern wäre er einer der sechs deutschen Jungs gewesen, die sich in dem Film »Sehnsucht nach Afrika« von Bergs Schilderungen berauschen ließen. Er sah den Film so oft, bis er ihn auswendig kannte. Doch er absorbierte nicht nur die Bilder und Aussagen, er studierte auch seine Machart. Die suggestive Kraft, die von den Naturbildern ausging, faszinierte ihn. Was wären diese Aufnahmen wohl ohne das gesprochene Wort, ohne die Anleitung, wie man sie zu betrachten und zu bewerten habe. Ein und dasselbe Bild, das wurde Gustav klar, konnte ganz unterschiedliche Geschichten erzählen. Erst die begleitende Schilderung machte es zu dem, was es in der Erinnerung des Betrachters blieb. Das Gesetz der Bilder stand in erstaunlichem Gegensatz zum Gesetz der Natur.

      Der Schwede war auch Fotograf. Seine Fotos waren sensationell. Niemand sonst kam so dicht an die Tiere heran wie er. Wenn er Vögel fotografierte, wurde er selbst zum Vogel. Gustav wünschte sich nichts sehnlicher als eine Spiegelreflexkamera, um die Tiere im Zschoner Grund zu fotografieren. Später würde es auch ihn ins Himalaya, in die Serengeti und in die Rocky Mountains verschlagen. Wie sein Vorbild würde er den Kindern in der Heimat von seinen großen Forschungsreisen erzählen. Die Klassenkameraden von heute würden dann ihre Söhne und Töchter in seine Vorträge schicken und damit prahlen, dass sie einst mit Gustav die Schulbank gedrückt hatten. Der Blick des Expeditionsleiters in spe schweifte in die Wolken und er freute sich auf diesen Augenblick.

      Zu Hause in der kleinen Drei-Zimmer-Wohnung am Stadtrand von Dresden galt freilich ein anderes Regiment. Das Leben hangelte sich an einer Reihe fester Rituale entlang, die sich vom Tages- und Wochenablauf über die Verteilung der häuslichen Pflichten bis zum Essensplan erstreckten. Gustav konnte sich zum Beispiel nicht erinnern, dass es sonntags jemals etwas anderes zu Mittag gegeben hätte als Schnitzel mit Salzkartoffeln und Mischgemüse. Der Vater wollte es so und niemand hätte gewagt, einen anderen Vorschlag zu unterbreiten. Warum auch, es war völlig in Ordnung. Der kleinste Bruch einer jener niemals schriftlich oder mündlich fixierten, sondern als unumstößlich empfundenen Regeln wurde nicht etwa bestraft, er lag schlicht außerhalb alles Vorstellbaren. Gustav und seine sechs Jahre ältere Schwester Ingeburg hätten nicht im Traum an einen Verstoß gegen das Vaterrecht gedacht.

      Allerdings wusste Gustav, dass Ingeburg ihm gegenüber im Vorteil war, und das ärgerte ihn. Sie musste nur das Gesetz der Eltern einhalten, er zusätzlich die Lex Ingeburg, die


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