Gustav. Wolf Kampmann

Gustav - Wolf Kampmann


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auf einmal verschießen, das trifft es schon eher. Das Kartenspiel war nie seine Sache, die Freuden des Waidmanns hingegen haben seit den Kindheitstagen seine Sehnsucht beflügelt. Im Wald und auf der Heide, wie von selbst spitzen sich seine Lippen, als wollten sie die geliebte Weise pfeifen, wie einst, als er mit den Hunden unterwegs war, als er noch Laub unter den Füßen und Moos unter den Fingernägeln spürte. Ja, ein Mann muss schießen können. Schießen! Damals, als er …

      Er will gerade die Augen schließen, um den Schauplatz zu wechseln, da hört er, wie der andere tief durchatmet. Gustav kennt dieses rhetorische Schniefen. Da will sich einer Gehör verschaffen, um etwas Gewichtiges loszuwerden. Na gut, soll er. Die Stimme ist genauso mittelmäßig wie alles andere an dieser armseligen Figur. »Gustav, willst du nicht mitkommen?«

      Wieder eine Pause. Wie kommt diese Nervensäge dazu, ihn einfach zu duzen? Woher kennt der eigentlich seinen Namen? Und wohin mitkommen? »Wer sind Sie überhaupt?«, entfährt es ihm missmutig und wesentlich weniger auf Form bedacht als eine halbe Minute zuvor.

      »Ich bin der Tod.«

      Gerade weil es so sanft ausgesprochen wird, trifft es Gustav wie ein Meteorit. Der Tod? Jetzt? Plötzlich ist er hellwach. Der Unauffällige lächelt und blickt ihn fest an. Seine Haltung wirkt gar nicht mehr so schlaff wie noch vor wenigen Augenblicken. Gustav verspürt das Bedürfnis, die Schuhe des immer noch in der Tür Stehenden zu sehen. Mit Mühe hebt er seinen Kopf über die Bettkante. Gleichzeitig achtet er darauf, dass seine nackten Füße unter der Bettdecke nicht in Richtung Tür zeigen. Unter dem leichten Schlag der grauen Hosenbeine erkennt er schwarze, abgerundete Schuhspitzen, vorn leicht abgestoßen, oben voller Staub und getrockneter Schlammspritzer. Gustav vermutet, dass die Hacken der billigen Gummisohlen schiefgetreten sind. Das soll der Tod sein? Wie banal! Bestimmt nur wieder so ein geschmackloser Scherz seiner dämlichen Nachbarn, die ihn auf diese Weise vorzeitig ins Jenseits befördern wollen.

      In einem Volksstück hat er mal selbst den Tod gespielt. Nicht nur das Publikum, auch seine Kollegen erschauerten angesichts seiner Verkörperung des Bösen. Geradezu lachhaft, wie dieser Todesschnösel da auftritt. In dieses angenehme Gefühl der Überlegenheit drängt sich wie ein schneidender Luftzug durch die Hintertür seiner Gedanken die Formulierung »der Tod kommt auf leisen Sohlen«. Gustav wird nachdenklich: »Haben Sie vielleicht eine Zigarette?«

      »Tut mir leid, ich rauche nicht.«

      Von wegen. Gustav weiß sich zu helfen. Lange und genießerisch stößt er Luft zwischen den Lippen hervor und folgt mit den Blicken vergnügt den tanzenden Schimären des erdachten Tabakrauchs. »Wieso der Tod?« Jetzt ist er es, der eine rhetorische Pause einlegt. Und nach einer kleinen Ewigkeit und weiteren Zügen aus der unsichtbaren Zigarette: »Der Tod ist doch nicht so freundlich wie Sie. Er ist grausam und unbarmherzig. Er bittet nicht, sondern fordert. Meist nicht einmal das, er klopft kurz an die Tür und holt ohne Worte, wen er will. Ich weiß, wovon ich rede.« Gustav spürt, wie seine Stimme an Schärfe verliert. Hoffentlich hat er es diesem sichtlich um Harmlosigkeit bemühten Wichtigtuer jetzt gegeben. Der Fremde aber tut, was er die ganze Zeit schon getan hat. Er lächelt.

      Was soll das? Wo bleibt der Respekt? Es reicht. Gustav hat von diesem Gespräch genug. Der Schlaf wartet, er schließt die Augen und will seinem Körper das Kommando geben, sich zur anderen Seite zu drehen. Doch wieder vernimmt er dieses Räuspern. Offenbar lässt der penetrante Eindringling nicht so leicht locker. Gustav kann sich nicht dagegen wehren.

      »Es gibt viele Tode«, hört er den anderen sagen.

      Im Zimmer ist es totenstill. Gustav lauscht. Der Unscheinbare redet mit ihm wie mit einem Kind, langsam, nachsichtig und mit vielen Pausen, fast als würde er singen. »Es gibt den grausamen Tod, den heimtückischen Tod, den plötzlichen Tod, den Tod durch Fremdverschulden, den Freitod, den langwierigen Tod, den lauernden Tod, den lächerlichen Tod, den plötzlichen Kindstod, nicht zu vergessen das Massensterben – und ich bin eben der freundliche Tod. Ich weiß, ich werde immer mit schwarzem Umhang und Sense dargestellt, aber das ist ja nur ein billiges Klischee. Wer unter den Lebenden hätte mich schon jemals so zu Gesicht bekommen, dass er von mir hätte erzählen können? Der eine oder andere ist mir vielleicht im letzten Augenblick von der Schippe gesprungen. Auch das ist wieder nur so eine Redensart, aber bitte, niemand soll mir Kleinlichkeit nachsagen. Die Erinnerung dieser Deserteure habe ich sowieso stets sofort gelöscht. Im schlimmsten Fall haben sie von Nahtod-Erfahrung erzählt. Reine Einbildung, ein Nahtod ist mir wirklich noch nicht begegnet. In Wirklichkeit ist alles ganz anders, als die Normalsterblichen es glauben. Aber wer sollte das besser wissen als du, Gustav? Ich meine, das mit der Wirklichkeit. Kommst du jetzt mit oder nicht?«

      Gustav ist wieder hellwach. Das Wort Deserteur hat ihn an etwas erinnert. Nichts Angenehmes. Aber darüber kann er jetzt nicht nachdenken. Langsam beginnt ihm zu dämmern, dass dies hier kein Scherz seiner Nachbarn ist. Verdammt, wo ist nur diese Scheißbrille? Sein Blick richtet sich mit der ganzen Restschärfe auf das kleine goldene Abzeichen. Kaum zu erkennen, aber es handelt sich tatsächlich um eine Sense.

      In der Gefolgschaft der grauen Erscheinung beginnt es unruhig zu werden. Zum ersten Mal unterzieht Gustav die Menschentraube einer genaueren Prüfung. Sie hat sich im Rücken ihres merkwürdigen Anführers devot gruppiert wie ein Rudel christlicher Märtyrer hinter einer mittelalterlichen Darstellung des Heilands. Das sind doch Hartmut, Fritz und Günter, die nicht aus dem Krieg zurückgekommen sind. Und sein langjähriger Freund, der Schauspieler Paul Borchert, mit dem er früher regelmäßig auf Sauftour war. Seitdem der Arsch als Fernsehkommissar dauerbesetzt war, hatte er den Kontakt abgebrochen. Pauls Erfolg war für Gustav wie ein Verrat an der gemeinsamen Freundschaft. Was hätte er selbst für einen Kommissar abgegeben! Als der Kumpan von früher vor ein paar Jahren nicht mehr aus dem Koma erwachte, weinte er ihm keine Träne nach. Das hatte er nun davon, der alte Suffkopp. Und – sein Herz schlägt fast bis zum Kieferknochen – da ist sein Vater.

      Er selbst ist jetzt zwei Jahre älter als sein alter Herr damals war, als ihn völlig unerwartet der Schlag hinstreckte. Kaum zu glauben. Doch hier steht der Vater als junger Mann. So, wie Gustav als Junge von unten zu ihm aufgesehen hat, stark war er, entschlossen, streng, unnachgiebig und doch in geheimen Momenten, die nur ihnen beiden gehört hatten, liebevoll und gütig. Auch in anderen Silhouetten glaubt er ehemalige Wegbegleiter zu erkennen, die der Tod bereits mit sich gerissen hat.

      Die Sonne hat sich aus dem Zimmer zurückgezogen. Die Hundebilder an der Wand sind nur noch neutrale Vierecke in Grau. Keine geliebte Schnauze mehr, die ihm ihre rosafarbene Zunge schlabbernd entgegenstrecken würde. Ist es Abend oder sind einfach nur Wolken aufgezogen? Vielleicht weigert sich das ewige Symbol des Lebens auch nur, Zeuge dieser düsteren Szene zu sein. Gustav versucht noch einmal, das Gesicht des unheimlichen Besuchers abzutasten, doch das liegt jetzt im Halbschatten, als hätte er klammheimlich doch noch eine Kapuze über seine grausige, hier auf Unschuld getrimmte Visage gezogen. Kein Zweifel, das ist der Tod, wenn auch der freundliche.

      »Elke!« Er ruft, so laut er kann, doch sie hört ihn nicht. Niemand hört ihn in diesem Augenblick, in dem der Sensenmann in seiner Tür steht. Sein kultiviertes Benehmen und die lächerlich moderne Aufmachung ändern ja nichts an der Tatsache, um wen es sich da handelt. Verdammter Mist!

      »Elke!« Der flehende Ruf nach seiner Frau erstickt in seiner trockenen Kehle und hinterlässt ein stumpfes Echo unterhalb seiner Schädeldecke. Ihm ist, als würde der Tod ihn leise auslachen, doch genau weiß er es nicht. Flüsternd wendet er sich an sein Gegenüber. »Wollen Sie nicht endlich abhauen? Ich verliere auch kein Sterbenswörtchen darüber, dass Sie hier waren.«

      »Ich habe Zeit«, säuselt die sanfte Stimme unbeeindruckt. Immer wieder dieses unsinnige Wort Zeit. Selbst Gevatter Tod ist davon besessen. Einmal mehr muss Gustav grinsen, denn er glaubt, seinen Gesprächspartner durchschaut zu haben. Zum Glück ist der einzige Hocker im Zimmer mit dem Teller blockiert. Elke ahnt gar nicht, was sie ihm da für einen Gefallen getan hat. Nicht auszudenken, wenn dieser lästige Freundlichtuer sich jetzt auch noch zu ihm ans Bett setzen würde. »Du kannst ruhig mitkommen, es ist gar nicht so schlimm, wie du denkst«, raunt es aus der Entourage des Jenseitigen.

      »Früher oder später wirst du sowieso mitkommen, ob du willst oder nicht«, beharrt er jetzt in deutlich sachlicherem


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