Gustav. Wolf Kampmann

Gustav - Wolf Kampmann


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seitens Ingeburgs jede Übertretung ihrer willkürlichen Zusatzparagrafen mit harten Strafen bedacht. Kleinere Vergehen wurden mit einem ausgeklügelten System von Demütigungen geahndet, die selbstredend nur in Anwendung kamen, wenn die Eltern nicht zugegen waren. Darüber hinaus musste Gustav regelmäßig häusliche Obliegenheiten von Ingeburg übernehmen und sich dann anhören, wie ihr Pflichtbewusstsein von den Eltern gelobt wurde. Wie hasste er sie dafür!

      Kam es ganz schlimm, musste er stundenlang Publikum spielen, wenn Inge ihre Kleider vor dem Spiegel ausprobierte. Und wehe, eine der Kostümierungen gefiel ihm nicht. Dann setzte es die nächste Gemeinheit. Von manchen Vergehen wusste Gustav nicht einmal, dass er sie begangen hatte. Zum Beispiel die Hände in den Hosentaschen halten oder Rotz hochziehen. Er hatte den Vater nie darüber reden hören, aber Inge versicherte ihm, die Strafe der Eltern wäre weit strenger als die ihm von ihr auferlegte Buße.

      Wenn er sich Inge nicht gefügig zeigte, musste er sich von ihr anhören, dass er eigentlich gar nicht der Sohn seiner Eltern sei, sondern ein Findelkind, das sie, Ingeburg, vor ein paar Jahren beim Spielen im Gebüsch des nahe gelegenen Leutewitzer Parks entdeckt habe. Ihr allein habe er es zu verdanken, dass Mutter und Vater sich seiner angenommen hätten. Sie könne die Eltern bewegen, ihn wieder auszusetzen.

      Gustav spürte zwar intuitiv, dass diese Fabel nicht stimmte, und doch hasste er sie, weil Inge sie immer erzählte, wenn er im Bett lag. Er konnte dann nicht einschlafen. Was, wenn sie doch recht hatte? Müsste er vielleicht ins Waisenhaus, wenn er sich Inge gegenüber nicht dankbar erwies? Nein, auf keinen Fall, nicht umsonst lernte er, in der Natur auf sich selbst gestellt zu überleben. Sie sollten nur versuchen, ihn ins Heim zu stecken, er würde weglaufen und sich im Zschoner Grund so verstecken, dass sie ihn nie finden würden. Erst aus seinen später von Millionen Kindern gierig verschlungenen Abenteuerberichten würden sie in vielen Jahren erfahren, was aus ihm geworden war. Dieser Gedanke beruhigte ihn.

      Süßigkeiten besaß Gustav fast nie. Oder zumindest nie lange. Die Eltern beschenkten zwar beide Kinder mit allerlei Zuckerkram, da sie selbst gern naschten, aber die von Ingeburg erdachten Strafzölle brachten Gustav um einen wesentlichen Teil seines Vorrats. Den kläglichen Rest nahm sie ihm ohne Begründung trotzdem weg. Er konnte sein Naschzeug noch so gut verstecken, sie fand es immer. Fragte er, wo seine Kekse oder sein Kandis wären, zuckte sie nur schnippisch mit den Achseln. Drohte er aber, dem Vater davon zu erzählen, setzte sie ein derart strenges Gesicht auf, dass er sich die Strafe für seine Petzerei gar nicht ausmalen wollte und es lieber bleiben ließ.

      Einmal wagte Gustav es dennoch, die Mutter ins Vertrauen zu ziehen. Er konnte seine Traurigkeit über den Verlust eines kostbaren Schokoladenschatzes einfach nicht verbergen. »Gustav, was hast du denn«, fragte Clara Bülow.

      Er wollte mit der Wahrheit nicht heraus, wusste er doch, was ihm dafür blühte. Doch die Mutter ließ nicht locker, streichelte ihm über den Scheitel und fragte immer wieder. Da berichtete Gustav von dem Diebstahl.

      »Passiert das öfter«, wollte die Mutter wissen. In solchen Momenten konnte ihre Stimme hart wie Stahl sein. Wieder zögerte er mit der Antwort, aber die Mutter schaute ihn so ernst an, dass er nicht mehr wusste, vor welchem der beiden weiblichen Mitglieder der Familie er sich mehr fürchtete. Schweren Herzens beichtete er, dass er sich nicht erinnern könne, wann es anders gewesen sei. Die Mutter war außer sich und Gustav überlegte, was er wohl falsch gemacht hatte. Gleich würde sich ein häusliches Gewitter entladen. Aber die Mutter schickte ihn nur aus dem Zimmer und rief nach Inge.

      Er rannte zu seinen Bäumen und Wiesen. Was sich an diesem Nachmittag genau zwischen Mutter und Schwester abgespielt hatte, sollte er nie erfahren und vorsichtshalber wollte er auch nicht fragen.

      Am Abend schaute Ingeburg ihn ein einziges Mal kurz aus den Augenwinkeln an, doch dieser Blick erschütterte ihn bis ins Mark. Danach sprach sie drei Wochen lang kein einziges Wort mit ihm. Sie schien es nicht einmal zu bemerken, wenn er im Raum war. Gustav stellte die Schachtel mit seinen Bonbons offen auf den Tisch des gemeinsamen Zimmers, doch Inge rührte nichts von dem Naschzeug an. Diese Strafe war schlimmer als alle Drangsalierungen, die er zuvor seitens der Schwester zu erdulden hatte.

      Inge konnte unerbittlich sein. Gustav liebte sie, aber er fürchtete sich auch vor ihr, weil sie der einzige Mensch auf der Welt zu sein schien, dem er nichts vormachen konnte. In Sekundenschnelle vermochte sie ihn mit ihren Röntgenaugen zu durchdringen, ihm jedes Geheimnis zu entlocken, noch bevor er sich dessen selbst bewusst war. Ihre kühle, unnachgiebige Art hatte sie vom Vater. Am meisten störte ihn ihre herablassende Nachsicht. Wenn er ihr begeistert vom Wald erzählte und sie ihm nichts anderes entgegnete als: »Ach Gustav, du musst noch viel lernen«, spürte er, wie es in ihm kochte.

      Fast täglich dachte er sich neue Geschichten aus, um die Schwester zu beeindrucken. Zwei größere Jungs hätten ihm an den Obstbäumen aufgelauert. Er hatte sie nicht bemerkt, und als er sich nach Äpfeln und Birnen bückte, gingen sie plötzlich von hinten auf ihn los. Gustav versuchte, nach einem Knüppel zu greifen, doch die beiden Großen waren schneller und wollten zuschlagen.

      Da kam Gustav plötzlich eine Idee, wie er seine Überlegenheit ausspielen könnte. Auf der den Angreifern abgewandten Seite einer angefaulten Birne bemerkte er zwei Wespen, die er blitzschnell als Waffe einzusetzen beschloss. Er tat so, als wolle er nach der Birne greifen, bewegte sich aber so langsam und auffällig, dass es den beiden Wegelagerern nicht entgehen konnte. Einer der beiden trat auf seinen Arm und langte nun selbst ganz langsam und seine Überlegenheit auskostend nach dem Stück Fallobst. In dem Augenblick, als er aber zugriff, stachen Gustavs unfreiwillige Alliierten zu. Der Junge schrie laut auf, seine Hand zuckte zurück. Gustav nutzte den Moment der Verwirrung seiner Kontrahenten, griff nach dem Knüppel und zog dem Unversehrten der beiden eins über den Schädel. Heulend suchten die zwei viel Größeren das Weite.

      Je ausführlicher Gustav dieses oder andere Abenteuer schilderte, desto mehr glaubte er die Geschichte selbst. Er spürte buchstäblich die Blessuren der Keilerei. War es nicht so passiert, dann wäre es doch genau so und nicht anders geschehen, wenn ihm wirklich zwei Größere aufgelauert hätten.

      Und Ingeburg? Die wandte sich nicht einmal von ihrem Spiegel ab und ließ nur ein lakonisches »Aha, Gusti der große Held von Dresden« vernehmen. Er kam gegen diese Mauer der Dominanz seiner Schwester nicht an, fühlte sich hilflos und ausgeliefert.

      Manchmal fügte er sich selbst leichte Verletzungen zu, um seinen Geschichten mehr Nachdruck zu verleihen – niemals so, dass es wirklich wehtat, denn vor körperlichem Schmerz hatte er große Angst. Oder er zog ein Bein nach, wenn er aus dem Wald nach Hause kam, spulte mit einstudierter Beiläufigkeit seine Geschichte ab, wie er mit einem Wildschwein aneinandergeraten oder von einem Felsvorsprung gefallen war, nur damit Inge ihm anschließend belustigt hinterherrief: »Gusti, hinken nicht vergessen!«

      Familie Bülow erhielt selten Besuch. Waren doch mal Gäste im Haus, betonten seine Eltern immer wieder lauthals, wie sehr Inge dem Vater ähnelte. Gustav fand diese Bemerkungen unerträglich. Er glich angeblich seiner Mutter, dabei hätte er doch auch so gern wie der Vater ausgesehen. Vor dem Spiegel übte er heimlich den ernsten Blick und die würdevolle Haltung seines Vaters, aber so sehr er sich auch mühte, es wollte ihm nicht gelingen. Wie würde er wohl wirken, wenn seine Wangen etwas kantiger wären und nicht so rundlich und mädchenhaft wie bei seiner Mutter? Er versuchte in seinem Mund ein Vakuum zu erzeugen, um so das weiche Wangenfleisch nach innen zu ziehen. Aber so konnte er ja nicht ewig herumlaufen. Vielleicht war es ja einfach nur eine Frage des Alters, wann er es mit dem Äußeren seines Vaters aufnehmen könnte.

      Einen Bart würde er sich später wachsen lassen, daran hatte er keinen Zweifel. Wenn er in den Spiegel schaute, was er freilich nur tat, wenn er sich unbeobachtet wusste, versuchte er sich vorzustellen, wie sein Gesicht mit Bart aussehen würde. Er deckte Kinn, Wangen und Oberlippe mit Tüchern und Lappen ab, um dieser Fantasie mehr Realität zu verleihen. Ein wenig schämte er sich für diese Bartschau, denn genau genommen mochte er es überhaupt nicht, sich im Spiegel zu betrachten. Das war etwas für Mädchen. Hätte Vogelscheuche jemals einen Spiegel benutzt? Gustav fand es viel spannender, sich im Wasser eines Baches zu spiegeln, wenn die sich kräuselnden Wellen und die unter der Oberfläche liegenden Steine das Abbild bis zur Unkenntlichkeit verfremdeten. Man brauchte


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