Gustav. Wolf Kampmann
wie ihm geschah. Hunderte von Fackeln loderten dem pechschwarzen Himmel entgegen, Funken huschten wie bewegliche Sterne durch die hell erleuchtete Dunkelheit. Gustav fürchtete sich vor Feuer, aber diese Angst durfte er sich hier keinesfalls anmerken lassen. Ab heute würde er Hitlerjunge sein.
Seit Jahren hatte er diesem Feiertag entgegengeträumt. Hitlerjunge, wenn auch vorerst nur im Jungvolk, eine Uniform tragen, die er nicht am Faschingsabend wieder ausziehen musste, wenn die Füße in den Schuhen festgefroren waren. Nein, diese Uniform, bestehend aus braunem Hemd, schwarzer kurzer Hose, schwarzem Halstuch und dem Fahrtenmesser am Gürtel würde er tragen können, so oft er wollte. Das Wort Pimpf gefiel ihm nicht. Das klang wie Käferchen, das für immer zum Kleinbleiben verurteilt war. Pimpf erinnerte ihn an Pups. Er wollte nicht niedlich und schon gar kein stinkendes Lüftchen sein, er wollte kämpfen. Noch steckte sein braunes Hemd akkurat, aber harmlos in der Hose, ohne von einem Riemen gehalten zu werden. Für dieses Zeichen der Tapferkeit und körperlichen Härte würde er sich erst im sportlichen Wettkampf bewähren müssen. Aber das hatte noch Zeit.
Es war der 19. April 1940, der Tag vor dem Führergeburtstag. Aus der Ferne ertönte eine Stimme. Gustav steckte in seinen eigenen Gedanken, die wie durch einen Wall geschützt waren. Schlagworte wie Führer, Kampfschar, Treue, Einsatz, Blutzeuge oder Leben drangen an sein Ohr. Sie bedeuteten ihm nichts und doch galten sie ihm grundsätzlich alles. Er war bereit, für den Führer das Leben zu geben. Mehr noch, er hoffte, diese Bereitschaft eines Tages unter Beweis stellen zu können, wenn sein Opfer gebraucht würde.
Seit einigen Wochen lag Deutschland im Krieg. Was man so Krieg nennt, wenn die eigenen Truppen drückend überlegen sind. Wer wollte sich der deutschen Wehrmacht schon in den Weg stellen? Die Polen etwa, deren Ulanenmützen noch aus dem 19. Jahrhundert übrig geblieben waren? Wollen die ernsthaft mit ihrer Kavallerie gegen unsere Panzer anreiten? Oder diese dämlichen Dänen, für deren komplette Demütigung man gerade erst einen einzigen Tag gebraucht hatte, ohne dass diese viel Widerstand an den Tag gelegt hätten? Dieser Krieg war ein Spaziergang, Deutschland brauchte wahrlich andere Gegner.
In früheren Zeiten stapelten sich im Krieg noch die Leichen in den Straßen, es stank nach Pulverdampf, Häuser brannten, Frauen schrien. Sein Vater hatte ihm von der Völkerschlacht bei Leipzig erzählt. Er wusste alles über Napoleon. Aber das war über hundert Jahre her. Damals gab es wirklich noch Ulanen. Die Ära der Kriegskunst war ein für allemal vorbei. Heute wurden Feldzüge mit wissenschaftlicher Präzision geführt. Die Front war fern der Heimat. Von der Wirklichkeit des Krieges zeugte nur die Wochenschau, wenn auf schmetternder Marschmusik vom schnellen Vormarsch der deutschen Soldaten die Rede war, die von polnischen Kindern dankbar begrüßt wurden.
Irgendwann würde es auch ihn an die Front verschlagen. Bei diesem Gedanken überkam ihn Gänsehaut. Um ein Haar wäre ihm die Fackel aus der Hand gefallen. Sein Nebenmann warf ihm einen vernichtenden Blick zu, als wäre er mehr Jungvolkjunge als Gustav. Der verscheuchte die Traumbilder, nahm wieder Haltung an und versuchte dem Geschehen zu folgen.
In den Gesichtern seiner Kameraden erkannte er Stolz. Wie schafften die das alle, so ernst auszusehen? Ihr Kinn machte sich im Schein der Fackeln doppelt so stark aus wie sonst, ihre Konturen hoben sich scharf vom Schwarz der Nacht ab. Gustav versuchte seinen Unterkiefer nach vorn zu schieben und einen entschlossenen Blick aufzusetzen. Diese Jungs hier waren nicht mehr die Mitschüler, die ihn auf dem Schulhof gehänselt hatten, sondern bildeten mit ihm gemeinsam die zuverlässige Reserve des Führers, nicht nur zu allem entschlossen, sondern von nun an durch den Fahneneid fest verbunden. Ab heute würden sie nicht mehr seine Feinde sein.
Was Gustav an diesem Tag empfand, hatte er so noch nie unter Menschen gefühlt. Er hatte die ausgelassenen Stunden mit Vogelscheuche geliebt, aber das hier war etwas anderes. Weder der zottelige Schäfer noch sein gelehriger Hund Wolf würden verstehen, was es heißt, sein Leben in den Dienst des Volkes zu stellen. Heute liebte es Gustav, ein Mensch zu sein.
Fanfarenklänge rissen ihn aus seinen Gedanken. »Vorwärts! Vorwärts! Schmettern die hellen Fanfaren«, ertönte es aus tausend Kehlen um ihn herum. Er hatte den Text hundertfach gesungen, doch jetzt versagte seine Stimme. Er fror und hatte Mühe, einen Hustenanfall zurückzuhalten. Aber bloß keine Schwäche zeigen. Dann folgte der Eid. Der blecherne Ton aus den Lautsprechern war kaum zu verstehen, doch in der Schule hatten sie die Formel so lange geübt, bis auch der Schwächste im Gedichtaufsagen sie draufhatte. »Jungvolkjungen sind hart, schweigsam und treu. Jungvolkjungen sind Kameraden. Der Jungvolkjungen Höchstes ist die Ehre.« Alle konnten diese heiligen Worte. Selbst Walter, der ausgerechnet den Namen von Gustavs Vater trug, hatte sie gelernt.
Walter galt als Halbjude, sein Status war ungeklärt. Seine Duldung in der Volksgemeinschaft hing an einem seidenen Faden. Er hätte alles darum gegeben, wenn auch er die braune Uniform hätte überstreifen dürfen. Im Unterricht war er stets der Eifrigste, wenn es darum ging, die Vita des Führers aufzusagen oder seine Treue zum deutschen Volk zu bekunden. Anfangs hatte sich für Walter wenig geändert. Er war stark, lebenslustig und beliebt.
Langsam und zunächst unmerklich änderte sich jedoch die Situation. Man begann, hinter seinem Rücken zu tuscheln, seine Schulsachen zu verstecken, Tinte über seinen Heften auszukippen, und obwohl die Lehrer wussten, dass die anderen Jungs der Klasse dahinter steckten, musste doch immer Walter vor das Pult treten und duldsam seine öffentliche Bestrafung erleiden. Mit seiner Beliebtheit schienen auch seine Selbstsicherheit und seine Kraft zu schwinden.
Gustav fand das ungerecht. Er wusste schließlich aus eigener Erfahrung, was es hieß, den Spott und die Ablehnung der anderen ertragen zu müssen. Wenn sie in der großen Pause in Zweierreihe im weiten Kreis um die große Linde in der Mitte des Schulhofs laufen mussten, hatten sich die beiden Geschmähten oft zusammengefunden und sich vorsichtig angefreundet.
Inge redete zwar auf ihren Bruder ein, dass es dem Führer kaum gefallen würde, wenn er sich mit einem Judenbengel einließe, aber Gustav beschloss, ihr einfach nichts mehr von Walter zu erzählen, genauso, wie er es bereits seit Langem mit Vogelscheuche hielt.
Auch Walter kam aus gutem Hause, doch seine Kleidung verlor an Form und der Inhalt seiner Brotbüchse wurde immer spärlicher. Gustav spielte seiner Mutter vor, sein Hunger würde immer größer werden. Clara Bülow hörte das gern, denn die spindeldürre Erscheinung ihres einzigen Sohnes machte ihr Sorgen. Doch Gustav gab Walter vom zusätzlichen Brot ab. Heimlich, denn es war verboten, mit den Juden zu teilen. Die beiden Jungs achteten darauf, dass niemand ihren Handel Brot gegen Freundschaft beobachtete. Mit der Zeit wurden sie jedoch unvorsichtig und der Aufseher erwischte sie in der großen Pause, als Walter in Gustavs Brotdose griff.
Beide Jungen mussten gemeinsam vor die Klasse treten. Walter hielt den Kopf stolz erhoben und rührte sich nicht. Gustav hingegen wagte es nicht, seine sitzenden Kameraden anzusehen. Der Lehrer schnaubte vor Wut. Ob der Judenlümmel nicht wüsste, was es für eine deutsche Mutter bedeute, für ihre Familie zu sorgen. Ob es seinem Stamm nicht reiche, die deutsche Volksgesundheit zu unterwandern, und er nun auch noch den Deutschen das Brot stehlen müsse.
Gustav schämte sich, wusste aber nicht, wofür und vor wem. Nachdem Walter seine Abreibung erhalten hatte, war er dran. Der Lehrer müsse seiner Mutter berichten und es könne schwerwiegende Folgen haben, dass Gustav sich den Regeln der Schule und des Anstands widersetze und Juden durchfüttere. »Hast du denn gar keine Ehre im Leib, Bülow? Solche Elemente wie dich können wir im Jungvolk nicht gebrauchen.«
Diese unmissverständliche Drohung traf Gustav wie ein Hammerschlag. Nun wusste er, auf welcher Seite er zu stehen hatte. »Das war nur … das war nur ein … Walter hat mir gedroht, er würde …« Weiter kam er nicht, doch das reichte aus, um ihn zu rehabilitieren.
»Bülow, setzen!«, erklang es streng, aber mit einer Spur Nachsicht.
Gustav schleppte sich mit letzter Kraft zu seiner Bank. Er spürte, wie die Blicke der anderen an ihm hafteten, doch was er sonst als Demütigung empfunden hätte, interessierte ihn heute nicht. Er wusste, dass die Tortur für ihn vorbei war und sich die achtzehn Augenpaare der Klasse gleich wieder nach vorn richten würden, wo jetzt nur noch ein Delinquent stand.
Ein Schwall von Beschimpfungen ergoss sich unter lautstarkem Hohn der Klasse über Gustavs