Gustav. Wolf Kampmann

Gustav - Wolf Kampmann


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Die Mutter fragte interessiert nach, der Vater hing ostentativ anderen Gedanken nach. Wenn Gustav aber leidenschaftlich den rechten Arm anwinkelte und sein akkurates »Heil Hitler« brüllte, sowie sie einem Offizier der Wehrmacht, einem SS-Mann oder auch nur einem vierzehnjährigen Gruppenführer begegneten, war der Alte wieder voll da. »Muss das denn sein?« Es sei seine Pflicht, zu salutieren, entgegnete Gustav entrüstet. »Kann ja sein, aber doch nicht so, verdammte Scheiße.« Der Vater wurde dünnhäutiger, verlor schneller die Fassung, als Gustav es gewohnt war.

      Eines Tages im Frühjahr 42 kam Gustav nach Hause und spürte sofort, dass etwas Schwerwiegendes vorgefallen sein musste. Die Mutter saß weinend in der Küche und brachte kein Wort hervor. Der Vater stand reglos in der Stube und blickte zum Fenster hinaus. Inge lehnte am Ofen und überschüttete das Familienoberhaupt mit Vorwürfen, als hätte sie jetzt das Regiment übernommen. »Es musste ja so kommen. Mit deinem undeutschen Verhalten bist du dem Führer in den Rücken gefallen. Das ist Hochverrat, und das mitten im Krieg. Du, der du für diesen tatterigen Kaiser im Weltkrieg den Kopf hingehalten hast. Sei froh, dass sie dir nur die Fabrik weggenommen haben.« Sie klatschte sich die flache Hand mit solcher Wucht auf die Stirn, dass unter dem kurzen Pony eine rote Stelle zurückblieb. Der Vater atmete hörbar tief ein, schaltete aber sonst auf Durchzug.

      Gustav traute seinen Ohren kaum. Vater hatte dem Führer den Gehorsam verweigert? Es stellte sich heraus, dass sich Walter Bülow geweigert hatte, in seiner Gießerei Rüstungsgüter herzustellen. Erst hatte man es ihm freundlich angetragen, ihn dann aber per Befehl dazu aufgefordert. Bülow änderte seine Ablehnung nicht. Er werde sich mit seiner Fabrik nicht an der Kriegsmaschinerie beteiligen. Die Antwort der Behörden ließ nicht lange auf sich warten. Als er an diesem Morgen in die Firma kam, war sie bereits von SS-Leuten besetzt. Bülow durfte nicht einmal sein Büro betreten. Ihm wurde nur wortlos ein mit dem Reichsadler unterstempeltes Dokument ausgehändigt, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass seine Gießerei als kriegswichtige Einrichtung ab sofort unmittelbar dem Rüstungsministerium unterstellt sei. Mit anderen Worten, er war enteignet worden.

      Vor Gustavs Augen blinkte ein und dasselbe Wort immer wieder auf wie die Leuchtreklame vor der Verdunkelung. Schande! Wie sollte er morgen seinen Kameraden und Lehrern gegenübertreten? Wie konnte er sich mit dem Verräter noch im Park oder anderswo sehen lassen?

      Die Angst war unbegründet. Seltsamerweise schien in der Schule niemand zu wissen, was vorgefallen war. Der Vater brachte ihn auch nicht weiter in Verlegenheit, weil er, um die Familie zu ernähren, die Geschäftsführung einer Druckerei im fernen Füssen übernahm. Er kam nur noch alle zwei Wochen für den Sonntag nach Dresden. Da die Feldlager inzwischen von Samstagmittag bis Sonntagnachmittag ausgedehnt worden waren, bekam Gustav den Vater kaum noch zu Gesicht. Wenn er zu sich selbst ehrlich war, war ihm das auch ganz lieb so. Er ertrug nicht die immer noch autoritäre Verachtung seines Erzeugers allem gegenüber, was ihm wichtig und heilig war. Und er mochte sich nicht die Frage beantworten, wem er mehr Treue und Gehorsam schuldete, dem Führer oder dem Vater.

      Draußen im Lager musste er sich solche Gedanken nicht machen. Da waren nur die Natur, die Kameraden, der Traum vom Endsieg und er. So verflog die Zeit, und nicht nur Gustav verlor das Gefühl dafür, dass der Krieg immer näher rückte. Sterben wurde selbstverständlicher, genauso wie die täglichen Einschränkungen, die Abstriche beim Essen, das Frieren im Winter. Auch der Krieg selbst lief längst nicht so glatt wie damals, als er in die HJ aufgenommen worden war.

      Die Briten und Amis kamen mit ihren Flugzeugen über den Ärmelkanal, deutsche Städte wurden bombardiert, einige seiner Kameraden hatten ihre Väter oder Brüder an der Front verloren. Auch die Lehrerschar war deutlich dezimiert. Männer unter 50 gab es nicht mehr, dafür wurden Greise aus dem Ruhestand zurückgeholt, die gar nicht erst zu kaschieren suchten, dass sie den ihnen Anvertrauten hoffnungslos unterlegen waren. Die Jungs saßen hinter den Bänken einfach nur noch die Zeit ab und warteten auf ihre Einberufung, einige euphorisch, andere voller Angst. Unter der Bevölkerung machte sich Verbitterung breit. Durch die Straßen liefen Menschen mit Trauerbinden, es wurde viel geflüstert, geschwiegen und geweint.

      In der Sächsischen Schweiz war von alledem kaum etwas zu spüren. Dort war die Welt selbst im Sommer 1944 noch in Ordnung. Die Sonne ging auf, die Sonne ging unter, die Felsen rochen nach Jahrtausende alter Fäulnis, Vögel sangen, Eidechsen huschten, die Flüsschen plätscherten im Sonnenschein, der Fingerhut blühte, das Springkraut sprang und die Spinnen webten ihre Netze. Die Ostfront war weit und die alliierten Bomber reichten nicht bis Dresden. Am Oberlauf der Elbe war der Krieg immer noch ein Spiel. Zwischen den vertrauten Sandsteinfelsen fand Gustav nicht nur Zuflucht vor dem immer drückenderen Alltag, dort konnte er auch vor den anderen seine Überlegenheit beweisen.

      Anfang Juli sollte im malerischen Polenztal für das Wochenende ein Zeltlager errichtet werden, um einmal mehr die Feldtauglichkeit der Heranwachsenden zu erproben. Gustav fand sich mit den anderen Jungs seiner Klasse wie gewohnt am Samstagmittag auf dem Stellplatz am Hauptbahnhof ein. Es war ein drückender, regnerischer Tag in diesem ungewöhnlich heißen Sommer.

      Gustav hatte Kopfschmerzen und darüber hinaus ein ungutes Gefühl. Sein Missmut sollte schnell Bestätigung finden. Kameradschaftsführer Karl, bei dem er Privilegien als Pfadfinder genossen hatte, erschien nicht. Es hieß, er sei zur Wehrmacht eingezogen worden. Statt seiner war ein neuer Anführer auf dem Platz, der zwar laufend das Wort Kameradschaft im Mund führte, aber ansonsten nur rumbrüllte.

      Mit dem Zug ging es bis Bad Schandau, dann zu Fuß weiter durchs offene Gelände bis ins Polenztal. Der neue Chef hatte es nicht eilig, sich Freunde zu machen. Im Gegenteil, er ließ die Jungs ohne Rast bis zum vorgesehenen Lagerplatz marschieren und sofort nach der Ankunft die Zelte aufbauen. Wer sich für einen Augenblick ausruhte oder nur den Schweiß aus der Stirn wischte, wurde auf der Stelle angeranzt. Lahmärsche, Drückeberger, Muttersöhnchen, jüdische Weicheier und ähnliche Schmähungen fielen am laufenden Band.

      Gustav, der sich aufgrund seiner herausgehobenen Stellung an die Rolle des Mittlers gewöhnt hatte, nahm allen Mut zusammen und baute sich vor dem Neuen auf: »Kamerad, meinst du nicht, dass wir mal ’n paar Minuten Pause gebrauchen könnten?«

      Der Angesprochene hielt die Luft an und verfärbte sich dunkelrot. Gustav hoffte, er würde tot umfallen, aber das tat er nicht. Nachdem er die Fassung zurückerlangt hatte, baute er sich breitbeinig vor Gustav auf, stemmte die Fäuste in die Hüften und fragte statt einer Antwort zurück: »Wie ist der Name?«

      »Bülow, Gustav.«

      »Schon mal was von Haltung gehört in diesem Sauhaufen? Stillgestanden! Fünf Minuten Pause für alle. Außer Bülow. Und weil dir, Bülow, offenbar so sehr am Wohl deiner Kameraden gelegen ist, übernimmst du heute die Nachtwache vom Zapfenstreich bis zum Wecken. Und gnade dir Gott, wenn ich noch ein Wort höre …«

      Gustav spürte, wie ihm die Knie weich wurden und sich ein leichtes Kribbeln in der Blasengegend bemerkbar machte. Um ihn wurde es mucksmäuschenstill. Keiner seiner Kameraden rührte sich, selbst die Vögel schienen für ein paar Augenblicke ihren Gesang einzustellen. Er nahm alle Kraft zusammen, um nicht in Tränen auszubrechen. So gedemütigt hatte er sich noch nie gefühlt, nicht einmal von seiner großen Schwester, die keine Gelegenheit ausließ, ihn zu erniedrigen. Für den Rest des Nachmittags und Abends fühlte er sich wie ein Aussätziger. Niemand sprach mit ihm oder setzte sich auch nur in seine Nähe. Hatte sich so vielleicht Jahre zuvor sein jüdischer Mitschüler Walter gefühlt, als er ihn im Stich gelassen hatte?

      Um zehn war Zapfenstreich. Alle verschwanden in ihren Zelten und das Feuer wurde gelöscht. Der Verdunkelungsbefehl galt schließlich auch im Wald. Der Feind lauerte überall und es war nicht ausgeschlossen, dass hier, in der Unübersichtlichkeit der Bergwelt, kommunistische Späher unterwegs waren.

      »Ich weiß unseren Nachtschlaf in sicheren Händen«, höhnte sein Peiniger, bevor er das Zelt von innen verschloss.

      Es war bedrückend still. Gustav beobachtete die Sterne und hoffte auf eine Sternschnuppe. Würde er eine sehen, würde er dem Führer Glück für den Endsieg wünschen. Sollte ihm noch eine zweite beschieden sein, würde der neue Kameradschaftsführer morgen auch in den Krieg abkommandiert werden. Am liebsten hätte er sich auf den Rücken gelegt, aber er hatte Angst einzuschlafen.


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