Gustav. Wolf Kampmann

Gustav - Wolf Kampmann


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an sein Nest oben in den Felsen geraten. Er wiederum vermutete in mir wahrscheinlich eine Gefahr für seine Jungen. Ich sprang zur Seite. Aber dort, wo ich den Boden vermutete, landete ich zu meinem Entsetzen nicht auf den Füßen, sondern spürte, wie ich in die Tiefe stürzte. Das war’s, dachte ich. Es heißt ja immer, im letzten Augenblick vor dem Tod zieht das ganze Leben an einem vorbei. Wenn ihr mich fragt, ich kann mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, was ich in dieser Situation gedacht habe. Ich spürte nur einen stechenden Schmerz im Gesicht. Offenbar hatten mich die Klauen des Vogels noch erwischt.

      In der freien Abwärtsbewegung ruderte ich mit den Armen durch die Luft, inständig hoffend, dass meine Hände irgendeinen Halt finden könnten. Und siehe da, meine Linke verfing sich im Geäst eines dünnen Bäumchens, das ein Stück weit waagerecht aus dem Felsgestein ragte. Für den Moment war ich gerettet. Aber wie sollte ich hier runterkommen. Ich hatte keine Vorstellung, wie hoch ich über dem Grund hing. Alles, was meine Sinne mir zutrugen, war das beharrliche Plätschern unter mir. Ich musste mich also unmittelbar über der Polenz befinden. Zu groß konnte der Höhenunterschied nicht sein, denn das Rauschen des Wassers klang recht nah.

      Ich musste es riskieren. Loslassen. Mich auf meinen Schutzengel verlassen. Unten ankommen würde ich auf jeden Fall, die Frage war nur, in welchem Zustand. Ganz langsam lösten sich meine Finger vom Holz. Die Auseinandersetzung mit dem Uhu war zwar überstanden, aber Angst hatte ich trotzdem noch. Den größten Teil der Strecke hatte ich anscheinend schon zurückgelegt, bevor ich Halt in dem Baum gefunden hatte. Unbeschadet plumpste ich in die Polenz. Ich landete zwar auf meinen Füßen, aber die Wucht des Aufpralls riss mich ins Wasser, von dem ich mehr schluckte, als mir lieb war. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich wieder auf die Beine kam. Das eiskalte Wasser schnitt mir in die Wunden wie ein Rasiermesser, aber ich sage euch, ich war einfach nur glücklich, dass ich alles überstanden hatte.

      Im Lager war alles ruhig, niemand hatte irgendwas bemerkt. Aus einem der Zelte kam ein unregelmäßiges Schnarchen, das wahrscheinlich jede Wildsau in die Flucht geschlagen hätte. Ich entledigte mich meiner Sachen, hüllte mich in eine trockene Decke und musste für den Rest der Nacht keine Angst mehr haben, dass ich einschlafen könnte.

      6.

      Im Januar 1945 sah Gustav seinen großen Moment endlich gekommen. Die Lebensbedingungen in Dresden hatten sich unerträglich zugespitzt. Am 7. Oktober des Vorjahres war auch die sächsische Hauptstadt erstmals englischen Bombern ausgeliefert gewesen. Die Schäden hielten sich zwar in Grenzen, doch von nun an war es mit dem Mythos der Unverwundbarkeit der Elbresidenz vorbei. Die Nahrungsmittel wurden immer knapper und das Wenige galt es auch noch zu teilen. Es gab kaum noch eine Familie, die keine Opfer zu beklagen hatte. Täglich trafen neue Flüchtlinge aus Schlesien ein, die das Gelände um den Hauptbahnhof komplett in Beschlag nahmen. Traurige Gestalten, die im sicheren Dresden zur Ruhe hatten kommen wollen und nun merkten, dass der Krieg sie selbst am vermeintlichen Ziel ihrer Flucht nicht in Ruhe ließ. Ihre Blicke verrieten Angst und Desillusionierung, aber auch Neid und Gier. Die Dresdner trauten ihnen nicht. Besser, man kam ihnen nicht zu nahe.

      Familie Bülow war wieder vollzählig. Der Vater hatte auch seine Stellung in Füssen verloren. Unverbesserlich, wie er war, wollte er sich dem braunen Kadavergehorsam nicht beugen. Entgegen den Anordnungen der Partei hatte er darauf bestanden, die eingesetzten Zwangsarbeiter genauso zu verpflegen und zu behandeln wie die letzten verbliebenen Angehörigen der Stammbelegschaft. »Solange ich hier was zu sagen habe …«

      Aber er hatte nichts mehr zu sagen und niemand stand ihm zur Seite. »Sie lassen sich hier besser nicht mehr sehen, ansonsten müsste ich Sie wegen Kollaboration anzeigen. Sie wissen, was das bedeutet«, hatte ihm ein Vertreter der Partei empfohlen, von dem Bülow nicht genau sagen konnte, ob er es gut mit ihm meinte oder den unbequemen Geschäftsführer einfach nur loswerden wollte. Diesmal machte die Mutter kein Aufhebens um den Verlust des Postens. Sie war froh, ihren Gatten in den Zeiten des Untergangs wieder zu Hause zu wissen.

      Um wenigstens für das Nötigste zu sorgen, schlug sich Walter Bülow als Englischlehrer durchs Leben. Zwar wollte es noch niemand offen zugeben, aber Englisch stand hoch im Kurs. An den Endsieg glaubten nur noch die Wenigsten und sich mit den Siegern verständigen zu können, schadete nichts. Die Angst vor den russischen Barbaren war groß, aber Engländer und Amerikaner gehörten ja zivilisierten Völkern an. Der ehemalige Fabrikbesitzer ließ sich in Naturalien bezahlen, ein paar Kartoffeln hier, ein halbes Brot da, ein Päckchen Butter dort. Man kam über die Runden, so gut es ging. Immerhin war Bülow einer der Wenigen, die in dem allgemeinen Chaos überhaupt noch Arbeit fanden und darüber hinaus weiterhin mit Respekt behandelt wurden.

      Wenn der Vater zu Hause war, blätterte er wie abwesend in seiner Bibel, dem dicken Napoleon-Buch, las immer wieder voller Interesse dieselben Textpassagen, als würde er zum ersten Mal auf sie stoßen, und starrte unter Umständen minutenlang auf einzelne Illustrationen. Hin und wieder nickte er, zuweilen murmelte er auch etwas Unverständliches vor sich hin.

      Was will der Vater mit diesem korsischen Froschfresser, fragte sich Gustav, wenn uns doch der größte Heerführer der Menschheitsgeschichte gerade mit sicherer Hand dem Endsieg entgegenführt. Doch er sparte es sich, seinem Häuptling derartige Fragen zu stellen, denn dessen lakonische Antwort kannte er nur zu gut. Wenn Hitler so ein Genie der Kriegsführung ist, warum wird Deutschland dann von allen Seiten eingekesselt, warum werden unsere Städte in Schutt und Asche gelegt, warum geht eine ganze Generation an der Front zugrunde? Warum haben wir nichts mehr zu fressen und warum arbeiten in unseren Fabriken nur noch Polen, Russen und Juden, obwohl der arische Arbeiter zu ganz anderen Leistungen in der Lage ist? Warum tyrannisiert die Gestapo ihr eigenes Volk?

      Der Vater wollte einfach nicht begreifen, dass eine historische Umwälzung auch Opfer verlangt. Als ob nicht gerade Napoleon am Ende gescheitert wäre, weil er zu weich war. Adolf Hitler weiß, was er tut. Immer und ohne Ausnahme. Scheitern ausgeschlossen. Eines Tages, da war sich Gustav ganz sicher, würde sein alter Herr seine Irrtümer einsehen und ihm, dem Sohn, für seine Standhaftigkeit und seinen Weitblick dankbar sein.

      Die Gelegenheit, seine Liebe zum Vaterland zu beweisen, sollte für Gustav nicht lange auf sich warten lassen. Es war ein Dienstag, einer jener langweiligen Schultage, an denen eigentlich nichts mehr gelernt wurde. Die Schüler saßen die Zeit ab, die Lehrer hatten längst begriffen, dass es für ihre Schützlinge Wichtigeres gab, als den Unterrichtsstoff zu pauken. Eigentlich hätte man auch zu Hause bleiben können.

      Plötzlich ging die Tür auf. Der greise Direktor trat mit einem drahtigen Major der Wehrmacht ein und noch bevor das Schuloberhaupt seine Aufforderung aussprechen konnte, sich von den Plätzen zu erheben, stand die ganze Klasse stramm hinter den Bänken. »Heil Hitler!«, brüllte der abgehetzt wirkende Offizier und die Klasse erwiderte den Gruß, als ginge es ums Leben.

      Tatsächlich ging es auch um nicht weniger als das Leben. In knappen Worten erinnerte der Uniformierte die Jungen an ihren Eid, den sie dem Führer geleistet hatten, und am nächsten Montag hieß es einrücken.

      Die Jungs hatten schon seit Wochen auf diesen Augenblick gewartet. Sie versuchten sich gegenseitig mit Geschichten zu übertrumpfen, wie sie den Iwan mit einem kräftigen Tritt in den Hintern aus Deutschland befördern und den Ami vom Himmel holen würden. Die deutschen Panzer sind die besten und der deutsche Kampfgeist ist sowieso jedem anderen überlegen. Hitlers Befehl, bis zum letzten Atemzug für den Endsieg zu kämpfen, war gerade erst im Radio übertragen worden. Man munkelte, dass er noch eine Wunderwaffe im Ärmel hätte, die das Kriegsgeschehen drehen würde. Der Feind mochte getrost schon Deutschlands Niederlage feiern, bevor der Führer zum vernichtenden Schlag ausholte. Seine Entschlossenheit übertrug sich auf jeden Einzelnen von ihnen. Der deutsche Cäsar hat uns so viel geschenkt, er hat uns Stolz und eine Zukunft gegeben, jetzt heißt es, ihm etwas zurückzugeben. Auf wen soll der Führer sich verlassen, wenn nicht auf uns?

      Gustav schlug das Herz bis zum Hals. Er rannte den halben Kilometer von der Schule nach Hause. Zu seinem Erstaunen fand er die Mutter in Tränen aufgelöst. Sie hatte den Einberufungsbefehl in der Hand und wollte ihren einzigen Sohn in die Arme schließen, doch der Vater hielt sie zurück. »Komm lass«, sagte er knapp, und sein Blick befahl Gustav unmissverständlich, das Zimmer zu verlassen. Der Junge ließ die Tür angelehnt


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