Gustav. Wolf Kampmann
ja noch zur Musterungsuntersuchung.«
Gustav war wütend. Schlapp und schmächtig, als ob es darauf ankäme. Dass ihm ausgerechnet seine eigene Familie in dieser Schicksalsstunde so in den Rücken fallen musste. Denen würde er es schon zeigen. Die Szene mit den verräterischen Eltern erinnerte ihn an Hänsel und Gretel.
Am nächsten Tag ging es zur Musterungsuntersuchung. Dazu musste Gustav ein paar Straßen weiter zu Doktor Bernhard gehen, der sich um ihn gekümmert hatte, solange er zurückdenken konnte. Husten, Masern, Scharlach, der Blinddarm, eine Stirnhöhlenentzündung, weil er immer den Rotz hochgezogen hatte, ein Hornissenstich, eine ausgekugelte Schulter, nachdem er von der Schaukel gefallen war – immer war Doktor Bernhard zur Stelle gewesen.
Der schmale und doch athletisch wirkende Mann mit der hohen Stirn und dem streng nach hinten gescheitelten Haar flößte Gustav Vertrauen ein. In seinem männlich galanten Auftreten erinnerte der große Blonde ihn an den Schauspieler Hans Albers. Nach jeder Behandlung durfte er in eine grüne Metalldose greifen, um ein Bonbon oder ein Stück Zucker zu ergattern. Daran hatte sich nicht einmal in den Jahren des Mangels etwas geändert. Seit einiger Zeit trug Doktor Bernhard unter seinem weißen Kittel Schaftstiefel und eine SA-Uniform. Diese Kombination aus Barmherzigkeit und Kampfeswillen rang dem angehenden Rekruten nur noch mehr Respekt ab.
Am liebsten wäre Gustav allein zu Doktor Bernhard gegangen. Aber die Mutter wollte unbedingt mit. Von dem Besuch bei Bernhard versprach sie sich ein Wunder, denn der Arzt stand neuerdings in einem besonderen Verhältnis zu Familie Bülow. Der Mediziner, eine der angesehensten Persönlichkeiten in Dresden-Cotta, pflegte seit einigen Monaten eine intime Beziehung mit Inge. Das durfte natürlich niemand wissen, denn Bernhard war verheiratet. Doch, so munkelte man schon lange, die Ehe des Doktorenpaars lief nicht gut. Er wäre in der heutigen Zeit nicht der Erste, der sich ein zweites Mal verheiraten würde.
Clara Bülow konnte den arroganten Lackaffen zwar nicht leiden und der Vater ging sowieso nicht zu diesem Bonzen, aber Inge, das wusste Mutter, konnte in diesen Tagen des Umbruchs nicht besser fahren. Seit sie ihre Ausbildung hatte abbrechen müssen und zurück im elterlichen Haus war, traf sie sich regelmäßig mit dem wesentlich älteren Arzt. Auch das war Gustav peinlich, vor allem heute, weil er sich mithilfe der Lasterhaftigkeit seiner Schwester nicht vor der Pflicht drücken wollte.
»Na, junger Mann, jetzt wird’s ernst«, begrüßte ihn der Doktor in einer Mischung aus förmlicher Freundlichkeit und feierlichem Missionseifer. Er stand hinter dem Schreibtisch auf, streckte seinem Patienten die Hand entgegen und zwinkerte ihm vertraulich zu. Die Mutter wollte ihren heimlichen Schwiegersohn kurz ins Nebenzimmer bitten, aber der setzte ein breites Grinsen auf, das zum akkuraten Krachen seines Stiefelleders passte, und bot ihr mit einer Geste, die keinen Widerspruch duldete, einen Stuhl im Behandlungszimmer an. Clara Bülow verstand sofort, was die Stunde geschlagen hatte. »Mein Gott, sehen Sie doch mal, wie schmächtig der Junge ist. Der hält an der Front keine zehn Minuten durch.«
Das Betteln der Mutter war Gustav unerträglich. »Lassen Sie das mal meine Sorge sein, liebe Frau Bülow«, entgegnete der Arzt herablassend. Und dann wandte er sich mit einem Zwinkern in Gustavs Richtung: »Der Krieg hat noch niemandem geschadet. Sie werden Ihren Jungen nachher nicht wiedererkennen. Gerade wer ein bisschen schwach auf der Brust ist, kommt von der Front als ganzer Mann zurück. Oder, Gustav?«
Der Angesprochene wäre am liebsten im Erdboden versunken. Diese Mütter. Die Untersuchung ging ganz schnell, ein bisschen Abhören, ein paar Kniebeugen, ein Seh- und Hörtest, das war’s. »Meinen Glückwunsch, du kannst einrücken und dem Führer deinen Mut beweisen. Glückwunsch auch an Sie, Frau Bülow, Sie können stolz auf diesen Prachtkerl sein. Er wird uns allen Ehre machen.«
Geschafft, seufzte Gustav innerlich. Ab Montag wird er Soldat im Ehrendienst für Volk und Vaterland sein. Mit seinen Fähigkeiten und seiner Wendigkeit in der Natur wird ihn der Feind schon nicht erwischen. Der Waldgeist ist stets auf seiner Seite.
Zurück in der Wohnung, brach zwischen den Eltern und Inge ein heftiger Streit aus. »Du musst mit deinem Verlobten noch mal reden, er darf Gusti nicht in den Krieg schicken«, flehte die Mutter ihre Tochter an, doch Inge blieb kalt.
»Erstens ist Doktor Bernhard nicht mein Verlobter«, sagte sie mit gespielter Beiläufigkeit, »was sich zwischen uns abspielt, geht außer uns beiden niemanden etwas an. Und zweitens, frag doch mal deinen Gusti, was er selbst will. Der kann’s ja gar nicht abwarten, Krieg zu spielen. Wenn du mich fragst, weiß der nämlich viel besser als du, was er sich und uns allen schuldig ist. Oder willst du etwa, dass die Bolschewiken über uns herfallen und uns alle schänden? Du hast doch selbst gehört, was im Osten an der Tagesordnung ist. Guck dir doch mal diese armen Frauen am Hauptbahnhof an. Die können dir haarklein erzählen, was du von den Russen erwarten kannst, diesen Untermenschen!«
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Walter Bülow immer erregter, aber trotzdem noch still zugehört. Seine Nasenflügel bebten, sein Unterkiefer rotierte wie ein Mühlstein, der die Bemerkungen seiner Tochter pulverisierte. Aber er hielt sich zurück, solange er konnte. Bei Inges letztem Ausspruch konnte der Mann, der sonst stets die Form wahrte und sich lieber jeden Kommentar verbiss, nicht mehr an sich halten.
Er sprang aus dem Sessel auf, raste auf seine erwachsene Tochter zu und packte sie fest bei den Oberarmen, um sie ungewöhnlich scharf anzuherrschen. »Es reicht! Merkst du eigentlich, wie du mit deiner Mutter redest? Wenn du bei deinen Parteibonzen bist, kannst du solchen Mist quatschen, aber in diesen vier Wänden behältst du deine Nazi-Scheiße für dich. Das ist keine Bitte, sondern eine klare Anordnung. Wenn du damit nicht leben kannst, ist das deine Sache, aber dann mach, dass du hier wegkommst, auf der Stelle, hast du mich verstanden? Und jetzt geh mir aus den Augen, sonst vergesse ich meine Kinderstube und die Tatsache, dass du meine Tochter bist!«
Clara Bülow duckte sich, als müsste sie vor den verbalen Geschossen ihres Mannes in Deckung gehen. Inge aber blieb wie angewurzelt stehen. So hatte der Vater nicht mehr mit ihr gesprochen, seit sie zehn war. Nur Gustav sah zu, dass er das Weite gewann, bevor auch er noch sein väterliches Fett abkriegte. Zur Schule musste er für den Rest der Woche nicht mehr. Er konnte sich die Zeit in der Zschone vertreiben, die jetzt von einer dicken Schneeschicht bedeckt war. Vorsichtig stapfte er durch die Vorstadtstraßen. An manchen Stellen spürte er unter dem frischen Pulverschnee Glatteis. Bloß nicht noch vor der Einberufung ausrutschen und ein Bein brechen. Das könnte als Selbstverstümmelung gewertet werden, und darauf stand seit kurzer Zeit die Todesstrafe.
Kaum war er im Wald angelangt, wurde ihm bei der Erinnerung an Vogelscheuche und Wolf ein wenig klamm. Seinen alten Freund hatte er seit Jahren nicht mehr gesehen. Als der Schäfer eines Tages nicht mehr da war, dachte Gustav noch, er sei mit seiner Herde weitergezogen, weil alles abgegrast war, und würde selbstredend nach ein paar Wochen wiederkommen. Aber er kam nicht.
Einer seiner Klassenkameraden, dessen Vater, so wurde behauptet, bei der Gestapo arbeitete, meinte, den alten Zigeuner hätten sie wohl abgeholt. Gustav mochte sich gar nicht vorstellen, was das bedeutete. Abgeholt. Und wieso Zigeuner? Das machen sie doch nur mit den Juden. Und den Kommunisten. Die hatten’s ja auch nicht besser verdient. Aber Vogelscheuche? Wer konnte etwas gegen diesen mürrischen, zotteligen Herumtreiber haben, der niemandem im Weg war? Vielleicht würde er ihn ja nach dem Krieg wiedertreffen?
Gustav erwischte sich dabei, wie er sich wehmütig von Bäumen, Lichtungen, Felsen und dem Bach verabschiedete. Auf der kleinen Brücke, die über das schmale Bächlein führte, blieb er eine Weile stehen und sah dem Wasser unter der dünnen Eisschicht beim Fließen zu. Jetzt war der Krieg bei ihm angekommen.
War er wirklich so mutig, wie er vorgab? Ist es nicht doch ein großer Unterschied, von Kriegsabenteuern zu träumen und tatsächlich in die Schlacht zu ziehen, wo sie einem die Eingeweide aus dem Leib schießen, ein Schrapnell einem das halbe Gesicht wegreißen kann oder man in der Gefangenschaft wie ein Vieh krepiert? Das Wasser fließt einfach immer weiter, egal ob er heil von der Front zurückkommt oder nicht. Plötzlich schossen ihm Tränen aus den Augen.
Er weinte und weinte und weinte, hier, wo er sich unbeobachtet wusste und noch ein letztes Mal Junge sein durfte. Was war das für ein Scheißdreck mit diesem Krieg? War Adolf Hitler nicht auch irgendwann mal ein Junge gewesen,