Gustav. Wolf Kampmann
der Schwan, alle waren ganz deutlich zu sehen. Irgendwo dort oben wollte er jetzt in einer ganz anderen Welt sein. Langsam schoben sich Wolken vor die Sterne, als gelte auch fürs Firmament Verdunkelungspflicht. Gustav probierte aus, was bei dieser Finsternis an der Redensart dran wäre, dass man die Hand nicht mehr vor den Augen sehen könne. Tatsächlich konnte er nichts sehen, wenn er sie nicht unmittelbar vor die Augen hielt.
Wie spät mochte es jetzt sein? Gustav hatte keine Ahnung, wie lange er noch so harren musste. Orientierung gab ihm nur das gleichmäßige Rauschen der Polenz. Er beschloss, am Ufer auf und ab zu laufen, möglichst eine große Strecke, damit die Stunden bis zum Wecken schneller vergingen. Würde es ihm gelingen, sich nur mit dem Gehör am Ufer entlang zu bewegen? Er schloss die Augen und verlegte seine ganze Aufmerksamkeit in die Schuhspitzen und Ohren. Angespannt bis zum Äußersten setzte er einen Fuß vor den anderen.
Schon nach wenigen Schritten stieß er mit dem rechten Fuß gegen eine Wurzel, wich kurz entschlossen nach rechts aus, trat jedoch ins Leere. Hastig griffen seine Finger nach dem nahen Baum, doch dort, wo er ihn vermutet hatte, war nichts als das Nichts. Gustav fiel. Jeder Moment dehnte sich unendlich aus. Obwohl es stockdunkel war, hatte der Strauchelnde den Eindruck, er könne sich selbst ganz deutlich beim Fallen zusehen. Für eine halbe Unendlichkeit war keine einzige Stelle seines Körpers mehr mit der Erde verbunden, dann landete er mit dem Rücken zuerst in der eiskalten Polenz.
So flach der Fluss auch war, Gustav schluckte literweise Wasser und wäre um ein Haar ertrunken. Nur mit Mühe konnte er sich wieder in die Senkrechte bringen. Schnell raus aus dem Wasser, offensichtlich hatte niemand sein Missgeschick bemerkt. Ans Ufer kletternd, verlor er auf dem schlüpfrigen Untergrund ein zweites Mal den Halt und plumpste nun bäuchlings ins Wasser, wobei er sich an einem Strauch das Gesicht zerkratzte. Ohnehin pitschnass, ging er ein Stück flussabwärts, bis das Ufer ein wenig flacher war. So ein Mist, wie sollte er das vor den Kameraden verborgen halten? Aber im Erfinden von Geschichten war er schon immer gut gewesen …
5. Das Untier
Es war so dunkel, dass man nicht mehr die Hand vor den Augen erkennen konnte. Das ist nicht nur so ein Spruch, ich habe es wirklich ausprobiert. Erst mit gespreizten und dann mit geschlossenen Fingern. Gesehen habe ich nichts. Es muss so gegen Mitternacht gewesen sein. Mond und Sterne waren hinter dichten Wolken verschwunden, es war totenstill. Außer dem Rauschen der Polenz und hin und wieder dem Schrei eines Käuzchens war nichts zu hören.
Habt ihr schon mal den Schrei eines Käuzchens gehört? Das klingt seltsam. Schrill, aber zugleich abgehackt und erstickt. Irgendwie gruselig. Gar nicht wie eine Eule, sondern als würde jemand versuchen, dich aus deiner Sicherheit zu locken. Kein Irrlicht, eher eine Art Irrklang. Ich habe mich an all die Gruselgeschichten erinnert, in denen ein Käuzchen mit seinem Schrei auf dem Friedhof die Toten aufweckt.
Mein Vater hat mir mal die Geschichte von einem Betrunkenen erzählt, der gedacht hatte, er hätte den Ruf einer schönen Jungfrau vernommen. In Wirklichkeit folgte er dem Schrei eines Käuzchens und merkte in seinem Suff nicht, wie er ein offenes Friedhofstor durchschritt. Hypnotisiert von der lockenden Schönen, die er sich in den verführerischsten Bildern ausmalte, gelangte er immer weiter auf den Friedhof, bis er in ein offenes Grab stolperte, das am Vorabend ausgehoben worden war. Er fiel so tief und war so betrunken, dass er sofort das Bewusstsein verlor.
Als die Totengräber am nächsten Morgen bei einer Beerdigung den Sarg hinabließen, merkten sie nicht, dass sich schon jemand da unten zur Ruhe gebettet hatte. Sie schaufelten das Grab einfach zu. Dabei war ihnen, als hätten sie ein leises Klopfen gehört. Offenbar war der Säufer aufgewacht, als der Sarg auf ihm gelandet war, und versuchte sich jetzt durch Klopfen bemerkbar zu machen. Vergeblich. Seine Angehörigen ließen jahrelang nach dem nächtlichen Spaziergänger suchen, doch irgendwann gaben sie auf. Erst als nach Jahrzehnten die Grabstelle aufgehoben und der Rest des Sarges entfernt wurde, fand man darunter ein zweites Skelett, das die linke Hand zur Faust geballt hatte.
Diese und ähnliche Geschichten schossen mir durch den Kopf, als ich es plötzlich unmittelbar hinter mir laut knacken hörte. »Wer da?«, rief ich. Schließlich ging es ja darum, das Lager zu bewachen. Stille. Wie gesagt, sehen konnte ich nichts. Das hatte natürlich den unschätzbaren Vorteil, dass auch ich nicht gesehen werden konnte. Vorsichtshalber ging ich trotzdem hinter einem Baum an der Polenz in Deckung. Die rechte Hand hatte ich am Messer. Man weiß ja nie. Das Knacken ertönte abermals und danach raschelte es. Irgendjemand schlich ums Lager. Sollte ich den Führer wecken, der mir doch die Verantwortung für die ungestörte Nachtruhe der Kameraden in die Hand gelegt hatte? Nein, ich musste mich erst vergewissern, ob wirklich keine Gefahr drohte.
Ich verließ mein Versteck und schlich vorsichtig mit gezücktem Dolch in die Richtung, aus der ich das Geräusch vernommen hatte. Auf mein Gehör kann ich mich ja zum Glück verlassen. Dabei musste ich höllisch aufpassen, denn in der Dunkelheit konnte ich weder Stock noch Stein sehen und hätte leicht stolpern und mich verraten können.
Eine Weile war nichts zu hören. Keine Stimme, kein Knacken, kein Rascheln. Nichts. Vielleicht doch nur ein Tier? Gerade wollte ich mich entspannen, da hörte ich es wieder ganz deutlich, diesmal ein Stück weiter oben aus dem Wald. Hoffentlich ist das kein kommunistischer Partisan, der hier sein Unwesen treibt. Und wenn doch, ist es an mir, ihn auszuschalten. Ich biss die Zähne zusammen und lief in gebückter Haltung an die Waldgrenze. Jetzt konnte ich es ganz deutlich hören, ein tiefes Rufen, dazu Schritte und ein Rascheln wie von Hosenbeinen, die aneinander reiben, wenn jemand rennt.
Mir war echt beklommen zumute. Das konnte alles sein, aber ich war fest entschlossen, die Verfolgung aufzunehmen. Ich musste den steinigen Hang hinauf und dabei immer noch jedes Geräusch vermeiden. Solange ich lautlos blieb, war ich meinem unsichtbaren Gegner gegenüber im Vorteil.
Bald gelangte ich an den Rand der Felsen. Mit den Händen ertastete ich einen Kamin, drückte mich mit dem Rücken gegen die eine Wand und schob mich mit den Beinen an der gegenüberliegenden empor. Um die Finger freizubekommen, nahm ich das Messer zwischen die Zähne. Der kalte Stahl ließ mich erschauern. Würde ich damit zustechen müssen, womöglich einen Menschen töten? Ja, ich gebe es zu, ich hatte Angst.
Zurück konnte ich nicht. Ich schob mich weiter hoch, folgte dem Geräusch. Nach einer Weile mündete der Kamin als Felsspalte auf einem kleinen Plateau, über dem schräg ein abgestorbener Baum lag. Nach dem dunklen Schacht konnte ich dort oben wenigstens vage Umrisse erkennen. Von meinem Gegner war nach wie vor nichts zu sehen, dafür nahm ich einen beißenden Geruch wahr, der mich an den Zoo in Dresden erinnerte. Richtig, es roch nach totem Fleisch. War ich in einen Hinterhalt gelockt worden? Mein Herz schlug bis zur Schädeldecke. Gleich würde es zur offenen Auseinandersetzung kommen, das spürte ich ganz deutlich. Ich versuchte alle Richtungen gleichzeitig im Blick zu behalten, ohne dass ich wirklich viel sehen konnte.
Kennt ihr das Gefühl von Gefahr? Man kann sie nicht hören, man kann sie nicht sehen, man kann sie nicht riechen. Und trotzdem ist sie greifbar. Sie liegt in der Luft wie eine elektrische Ladung, die nach Erdung sucht.
Ich bedauerte meine Entscheidung, dem Knacken gefolgt zu sein. Was hätte ich darum gegeben, mich jetzt in der Nähe meiner Kameraden zu wissen, statt auf mich allein gestellt hier oben zu sein. Mich beschlich die Ahnung, dass mein unsichtbarer Feind mich längst im Visier hatte. Nur hatte ich keinen Schimmer, von wo aus er mich erwartete und vielleicht gleich angreifen würde. Zu alldem musste ich auch noch aufpassen, dass ich in der Dunkelheit nicht in den Abgrund stürzte. Halt fand ich auf dem glibberigen Sandstein nicht. Unter meinen Füßen fühlte es sich an, als hätte gerade jemand einen Eimer Seifenlauge ausgekippt.
Und dann passierte, was ich unbedingt vermeiden wollte. Ich trat auf einen trockenen Ast. Der zerbrach mit einem derart lauten Knall, als hätte sich ein Schuss gelöst. Anfangs dachte ich sogar, auf mich wäre geschossen worden, ich hechtete zur Seite. Im nächsten Augenblick sah ich, wie etwas Großes auf mich zuschoss. Mir blieb das Herz stehen, als ich gewahr wurde, dass es keine Arme hatte, sondern Flügel. Zwei riesengroße Augen rasten auf mich zu, die irgendwelches Licht reflektierten. Ich vernahm einen Schrei, von dem mir nicht ganz klar war, ob er von meinem Angreifer kam oder ich ihn selbst ausgestoßen hatte.
Erst als das Wesen mit ausgestreckten