Gustav. Wolf Kampmann
Wie bitte? Das wäre ja noch schöner. Den Augenblick seines Abgangs will Gustav immer noch selbst bestimmen. Als hätte er sich jemals etwas vorschreiben lassen. Wenn seine Gliedmaßen ihm gehorchen würden, dann würde er es diesem ungehobelten Kerl zeigen. Soll ihn doch der Teufel holen. Lustige Vorstellung: Der Teufel holt den Tod. Gustav versucht sich vorzustellen, wie das in einer Theaterinszenierung aussehen würde. Welche Rolle würde er lieber spielen, Teufel oder Tod? Er entscheidet sich für den Teufel. Mephisto hatte er nie spielen dürfen, immer nur Faust.
Er weiß nicht, ob er zwischendurch wieder eingeschlafen war. Das Zimmer ist dunkel. Ist der Graue noch da? Gustav kann ihn nicht mehr sehen. Besser so. In diesem Erlösung verheißenden Moment des unwiderruflichen Loslassens hat er nämlich ganz plötzlich noch etwas anderes zu klären. Er gerät in Panik.
Da steht diese eine Frage im Raum, vor deren Beantwortung er sich ein Leben lang erfolgreich gedrückt hat. Seine Augen sind wieder geschlossen. Gustav hat das Gefühl, immer leichter zu werden, abzuheben und von einer Anhöhe aus ein letztes Mal auf sich selbst herabzublicken, wie er da unten in seinem Bett liegt. Doch die Züge seines Spiegelbilds beginnen sich in ihrer Umgebung aufzulösen.
Er versucht seinen Blick für diese allerletzte Begegnung zu fokussieren wie das Teleobjektiv seiner Kamera, die ihn über all die Jahre ebenso treu begleitet hat wie seine Hunde, und sich selbst in ein Gespräch zu verwickeln. Aber wer soll den Anfang machen? Gustav weiß nicht, ob er es laut ausspricht oder einfach nur die Atemluft unter seinen Bartstoppeln hervorstößt. »Wer bin ich?«
Hat er tatsächlich eine Antwort erwartet? Statt abschließender Klarheit breitet sich ein verklärtes Lächeln in seinen Zügen aus. Na klar, er ist immerhin ein Auserwählter. Während alle anderen vor, hinter und neben ihm nur stupide ihrem Lebensfaden folgen, dessen einzige vorgegebene Richtung keinerlei Abweichung zulässt, hat er nicht ein, sondern viele Leben gelebt. Gustav hat es besser gemacht. Aber jetzt – buchstäblich im Angesicht des Todes – muss er eine Entscheidung treffen. »Wer?«, fleht es immer eindringlicher in ihm. Er möchte aufspringen, die Arme hochreißen, doch die Kräfte verlassen ihn.
Da spürt er auf seiner Haut wieder den Atem seines Gastes, der ihn umhüllt wie einst die Mutter, wenn sie ihn ein ganzes Menschenleben zuvor mit einem Tuch aus der Badewanne hob. Gerade noch die liebe Mutter und jetzt der Tod. Sein Herz schlägt an, er will erschauern, doch der Hauch des Todes riecht nicht etwa verfault oder muffig, nein er riecht nach Wald, Moos, morgendlichem Nebel und den nassen Felsen des Elbsandsteingebirges. Bald wird ein Baum aus seinen Eingeweiden wachsen. Und Gustav wird zu Hause sein. Er atmet tief ein. Bevor er die allerletzte Möglichkeit verpasst, will er sich ein einziges Mal zu dem winzigen Krümelchen Lebenswirklichkeit bekennen können, das ihm geblieben ist. Gleich, gleich …
2.
Wenn sich Gustav Bülow an seine Kindheit erinnerte, hatte er ein unübersichtliches Mosaik vor Augen, das sich aus Hunderten zusammenhangloser Einzelbilder aufbaute. Nur der verbindende Kitt der elterlichen Erzählungen machte daraus einen kontinuierlichen Film der Ereignisse mit Anfang und viel zu frühem Ende. Aus der Sicht des Erwachsenen konnte Gustav natürlich nur schwer unterscheiden, welche Szenen auf eigener Erinnerung beruhten und welche von den Begleitern seiner unbeschwerten Kindheitstage ergänzt worden waren.
Doch das machte ihm gar nichts, denn zu diesen beiden Säulen des Denkens an seine ersten Tage kam noch eine dritte tragende Komponente hinzu, die seine Lebenschronik erst zu dem machte, was sie war. Eine Unzahl von gehörten, angelesenen und in Wachträumen ersehnten Begebenheiten, die sich genau so zumindest hätten ereignet haben können und auf deren Glorie Gustav keineswegs verzichten wollte, verdichtete seine Kindheit zu einem einzigen langen Abenteuer. Doch wer wollte ihm das jetzt noch vorhalten? Der Schleier der Lebensjahre hatte die Grenzen zwischen Sehnsucht und Wahrheit ohnehin längst aufgehoben.
Gustav Bülow durfte auf eine knallbunte Kindheit zurückblicken. Seine Erinnerungen hatten so gar nichts gemein mit den im Kino oft in Schwarzweiß getunkten Rückblenden, mit denen die Vergangenheit im Auge des Betrachters von der Gegenwart abgesetzt werden soll, als ließe sich die Erinnerung in eine Ära vor und nach Einführung des Farbfernsehens einteilen.
Für Gustav war es genau umgekehrt. Je weiter sich sein Alltag von der unverschämten Grenzenlosigkeit der Knabenzeit entfernte, desto praller wurde deren retrospektive Farbenpracht. Die schwarzen und graubraunen Tage, von denen es nicht wenige gab, blendete er einfach aus. Damals war er ein Abenteurer, stets auf der Suche nach neuen Herausforderungen, ein später Kumpan von Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Mit dem kleinen Unterschied, dass er beide gleichzeitig sein durfte.
Am nordwestlichen Stadtrand von Dresden herrschte sommers wie winters Idylle. Die Elbe schleppte sich träge und ölig dahin, überflutete in manchen Jahren die sie umfangenden Wiesen, um den Stadtteil Cotta erstreckte sich ein Gürtel von Parks, Wäldern und Feldern. Als Junge genoss Gustav alle erdenklichen Freiheiten – solange er allein war. Nach Erledigung seiner schulischen Pflichten, die ihm im Grunde ziemlich egal waren, rannte er, so schnell ihn seine Füße trugen, in den nahe gelegenen Zschoner Grund, ein Wäldchen, das trotz seiner relativ geringen Ausdehnung mit Bächen, Hängen und Felsen wie das endlose Labyrinth eines amerikanischen Canyons wirkte. Was er am Abend zuvor in den Büchern Karl Mays oder Friedrich Gerstäckers gelesen hatte, konnte Gustav nach dem Unterricht sogleich in handfestem Spiel nacherleben. Im Zschoner Bach wusch er Gold, auf der Wiese zwischen den Hängen erlegte er Büffel und manchen Desperado brachte er furchtlos zur Strecke.
In der Erinnerung herrschte in der Zschone, wie Gustav sein Wäldchen liebevoll nannte, immer Spätsommer. Noch Jahrzehnte später hörte er die Melodie der Grillen über dem von der Sonne verbrannten Gras. Woran mag es liegen, dass dieses Zirpen nie wieder jenen verführerischen Klang der Weite Afrikas hatte wie in jenen Jahren zwischen zehn und vierzehn, die Gustav als die glücklichsten seines Lebens abspeicherte?
Die Schleuse zwischen den letzten villenartigen Häusern von Cotta und der Zschone bestand aus einigen herrenlosen Obstbäumen hinter einem niedergetrampelten Lattenzaun, an deren zu Boden gefallenem Überfluss er sich schadlos halten konnte. Äpfel, Birnen und Pflaumen, so viel er wollte und die Wespen zuließen. Vor den Stechinsekten hatte er einen Mordsrespekt, denen wollte er nichts von dem Fallobst streitig machen. Und doch liebte er die kleinen Flügeltiere wegen des akkuraten Schwarzgelbs ihres Streifenkostüms und nicht zuletzt auch wegen ihrer Wehrhaftigkeit. Die Natur war doch ein famoser Maler, dessen Form- und Farbenpracht keine Grenzen kannte. Gustav hielt in Zeichnungen fest, was er sah.
Mehr noch, er sprach mit den Bäumen, konnte stundenlang auf Rehe warten, die früher oder später an einer bestimmten Lichtung vorbeikommen mussten, beobachtete den Mäusebussard, wenn er ein Kaninchen in seinen Horst in den Wipfeln trug. Von den Augen in der Buchenrinde fühlte er sich beobachtet, in jeder Astgabel vermutete er eine Eule. In der Dämmerung verfolgte er den Flug der Fledermäuse und versuchte Nachtfalter zu kategorisieren. Es wäre ihm nicht im Traum eingefallen, eines der schönen Tiere zu fangen und zu töten. Nein, er liebte die Natur lebend, wurde zum Teil von ihr. Hier im Wald war er zu Hause, und seine Eltern ließen ihn gewähren, solange er draußen war.
Zeit existiert in der Kindheit nicht. Kinder lernen die Uhr lesen, wollen aber nicht einsehen, wozu. Warum etwas messen wollen, das man nicht festhalten kann? Zeit ist eine Erfindung der Erwachsenen, die nur dazu dient, das Unendliche einzugrenzen. Etwas völlig Unbegreifliches, in jeder Hinsicht Überflüssiges. Ein Tag, eine Woche, ein Jahr, das machte überhaupt keinen Unterschied. Im Spiel konnte Gustav Jahrhunderte überspringen.
Nur einmal im Jahr, wenn der Geburtstag naht, wird Zeit wichtig. Wie lange noch? Und wie würde es sich anfühlen, wenn man wieder ein Jahr älter wäre. Wenn man aber nachmittags auf dem Rücken liegend nichts tut, als die Wolken über sich hinweg ziehen zu lassen, gibt es weder Morgen noch Gestern und schon gar kein nächste Woche. Jeder einzelne Augenblick dehnt sich im Universum aus. Spielt es für die Wolke eine Rolle, wie lange sie braucht, um ihre Gestalt zu verändern? Wie würde es sich anfühlen, eine Wolke zu sein? Eben noch ein Krokodil, das einen Vogel verschlingt, und im nächsten Augenblick ein riesiger Hase, eine Dampflok oder ein gewaltiger Blumenkohl. Gustav würde gern zum Himmel aufsteigen und wie eine Wolke seine Umrisse wechseln.