Einsatz über den Wolken. Jenny Schuckardt
an und musterte mich mit säuerlichem Grinsen. »Wo wollen Sie hin, wo kommen Sie überhaupt her? Wissen Sie nicht, dass für 14 Uhr ein Sonderappell angesetzt ist?«
Ich wusste tatsächlich nichts davon, wollte nach meiner Entlassung aus dem Bau einfach nur nach Versailles und feiern. Daraus aber wurde nichts.
Am nächsten Tag wurde ich wieder zum Staffelkapitän zitiert und musste mir Einiges anhören: »Ich bestrafe den Gefreiten Thyben mit fünf Tagen verschärftem Arrest, weil er sich nach seiner Haftentlassung nicht bei der Einheit zurückgemeldet hat und anstatt bei einem Sonderappell zu erscheinen, auf dem Weg nach Versailles angetroffen wurde.«
Vom 12. bis 17. Mai 1942 wanderte ich mit meiner Zahnbürste erneut in den Bau. Die fünf Tage fühlten sich an wie eine Ewigkeit. Mir war sterbenslangweilig, und die Geräusche der Flugzeuge draußen auf dem Platz bereiteten mir Seelenpein. Aber das war nichts gegen die Strafe, die er außerdem verhängte. Es war das Schlimmste, was er mir antun konnte, denn er befahl meine Ablösung vom fliegerischen Dienst. Ich wurde vor die Wahl gestellt, Propellerputzer oder zur Bodenverteidigung eingesetzt zu werden. Meine Entscheidung fiel auf das Erstere. Also wurde ich ausquartiert zu den Mechanikern. Ich saß dann mit ihnen auf der Bude und durfte die Flugzeuge zumindest anfassen.
Mein gesamter Ausbildungsjahrgang wurde weiter ausgebildet und dann an die Westfront geschickt, wo zum ersten Mal die US-Airforce auftauchte. Die Amerikaner hatten hervorragende Maschinen in großer Zahl wie die P-47 Thunderbolt, die dank ihres mächtigen Abgasturboladers in großen Höhen deutlich bessere Leistungen aufwiesen als unsere Jagdmaschinen – ganz zu schweigen von den britischen Spitfire und ihrer überlegenen Wendigkeit im Luftkampf. Wir hatten gegen die alliierte Übermacht keine Chance. Die Mehrzahl meiner Kameraden, all die Jungs, mit denen ich meine Ausbildung angefangen hatte, wurden nach und nach abgeschossen und haben den Krieg nicht überlebt. Mir hatte mein kaputter Zahn wohl das Leben gerettet.
Schließlich kam es zu einem Wechsel in der Führung unserer Jagdschulstaffel, und damit wehte auch ein neuer Wind. Mein verhasster 150-prozentiger Nazi-Staffelpeiniger, der in seiner Offiziersuniform mehrmals Beispiele dafür gegeben hatte, wie man sich im besetzten Feindesland nicht verhalten sollte, wurde versetzt. Wie ich später erfuhr, sollte es seine letzte Versetzung gewesen sein. Er hielt sich für einen Super-Germanen und flog in 12 000 Meter Höhe ohne Sauerstoff. Dabei wurde er, wie nicht anders zu erwarten, ohnmächtig und stürzte ab. Seine sterblichen Überreste mussten aus dem Boden gebuddelt werden. Ich muss gestehen: Als mir dies zu Ohren kam, ging ich zum Proviantlager, ließ mir die beste Flasche Wein geben und trank sie ganz allein aus.
Verbandsflug während der Ausbildung in der Jagdfliegerschule auf Arado 96
Ein Hauptmann Ehrenberg übernahm das Kommando, groß und schlank, sehr blass mit auffällig dunklen Augenringen. Ich war immer noch bei den Mechanikern untergebracht, doch mein Ablösungsantrag lag bereits beim Ausbildungsleiter. Schließlich wurde ich zum Rapport zu Hauptmann Ehrenberg gerufen. Hoffnungsfroh trat ich an.
Mit ernstem Gesicht, die Hände auf dem Rücken, musterte er mich lange. »Thyben, Ihr Fall ist mir bereits bekannt, und ich fürchte, dass da wohl kaum mehr was rückgängig zu machen ist. Auf jeden Fall werden Sie sich erst einmal bei mir im Schloss Le Loges als Ordonnanz bewähren müssen.«
In den folgenden zwei Monaten durfte ich im Schloss Le Loges nächtigen, doch wie gerne hätte ich diesen Komfort wieder gegen die Schülerbaracke eingetauscht.
Überflüssig zu sagen, dass ich als Ordonnanz nicht besonders erfolgreich war. Gerade hatte ich wieder einmal zwei zu hart gebratene Spiegeleier zurückbekommen und war gerade dabei, es besser zu machen, als Hauptmann Ehrenberg im Ordonnanzbereich erschien. »Thyben, ab nächsten Ersten werden Sie wieder in die Schulung genommen! Zufrieden?«
Zufrieden? Ich war überglücklich und fühlte mich dem Offizier zu größtem Dank verpflichtet. Denn praktisch war ich ihm mein weiteres Fliegerleben zu verdanken. Hauptmann Ehrenberg fiel am 10. Mai 1943, nachdem er zehn Luftsiege errungen hatte, über Tamara am Schwarzen Meer im Süden der Ostfront. Er wurde von einer Flakkanone vom Boden abgeschossen.
Während meine Kameraden in den Westen versetzt worden waren, schickte man mich aufgrund dieser Verzögerung an die Ostfront, wo der Hasardeur Hitler die Wehrmacht in ein Abenteuer getrieben hatte, das ihre Kräfte zwangsläufig überfordern musste – auch wenn sie in der Anfangsphase wieder von Sieg zu Sieg eilte. Dieses Verbrechen hat zahllose deutsche und sowjetische Soldaten das Leben gekostet und auch der Zivilbevölkerung unendliches Leid zugefügt.
Ich wurde auf die Krim versetzt. Die Ukraine war für die Sowjetunion vor Kriegsbeginn von zentraler wirtschaftlicher Bedeutung. Sie lieferte Stahl, Eisenerz und Kohle und trug als »Kornkammer« der Sowjetunion entscheidend zur Versorgung der Menschen bei. Die Luftwaffe hatte sich dort dank der technischen Überlegenheit ihrer Maschinen eine gewisse Luftüberlegenheit erkämpft und traf auf Gegner, die noch wenig Kampferfahrung hatten und meist stur nach Dienstordnung flogen. So hatte ich die Möglichkeit, als Jagdflieger schnell Erfahrungen zu sammeln. Diese Wochen waren für mich und meine weitere Laufbahn ungemein wichtig, denn in diesem Umfeld war mir möglich, Sicherheit zu gewinnen und mein Selbstbewusstsein als Jagdflieger zu stärken.
Warten auf den ersten Einsatz
November 1942. Nun sollte es für mich ernst werden. Denn es ging an die Front über Kiel und Berlin weiter nach Krakau. In Kiel besuchte ich meine Eltern, die allen Differenzen zum Trotz immer noch zusammenwohnten. In meiner schmucken Uniform und mit dem Flugzeugführerabzeichen stellte ich mich als ausgebildeter Jagdflieger vor. Die Begeisterung war unbeschreiblich. Was waren sie stolz auf ihren Jungen! Meine Mutter weinte Tränen der Freude.
Ich sah dem ersten Fronteinsatz mit gemischten Gefühlen entgegen. Von nun an wurde scharf geschossen, und so mancher kam nie wieder zurück. Aber ich war auch voller Erwartung. Was würde jetzt kommen? Wie würde alles sein? Wir bekamen ja nur pathetische Berichte über ruhmreiche Siege zu hören, die unsere tapferen Soldaten errungen hatten. Die Wochenschau zeigte beeindruckende Bilder und verhieß den alsbaldigen vollständigen Sieg über Russland. Vor allem die deutschen Fliegerasse wurden gefeiert. »Jagdkampf in der Luft, das ist Fechten mit Ausfall und Parade in allen Raumdimensionen, es ist einfach Kampfkunst. Nur ein ganzer Mann kann in die scharfe Schneide eines herausragenden Schwertes blicken, ohne zu zucken«, tönte die Propaganda.
Um die erfolgreichsten Jagdflieger entwickelte sich ein wahrer Starkult. Man konnte Postkarten kaufen mit den Porträts von Hans-Joachim Marseille, Theo Osterkamp, Werner Mölders oder Adolf Galland. Jeder wollte so heldenhaft sein wie sie. Ich auch. Die passende Uniform und das Flugzeugführerabzeichen besaß ich ja schon.
Der Abschied von meinen Eltern fiel mir schwer. Es ging auf Weihnachten zu, und so gerne hätte ich dieses wunderschöne Fest zu Hause gefeiert. Meine Mutter hatte schon ihre Weihnachtsbäckerei gestartet, ein feiner Plätzchenduft hing in der Küche. Mein Vater hatte die Schachteln mit der Weihachtsbaumdekoration aus dem Keller geholt und auch schon einen Baum im Wald geschlagen. Diese stolze Tanne wartete nun im Garten darauf, geschmückt zu werden. Aber leider nicht von mir, ich musste weiter. Von Berlin nahm ich die Reichsbahn nach Krakau, wo wir auf Flugzeuge von der Flugzeugschleuse in Wien warten mussten, mit denen wir dann auch im Geschwader eingesetzt werden sollten.
Am 13. Dezember 1942 erfolgte meine Versetzung zum 6. Jagdgeschwader 3 »Udet«, benannt nach Generaloberst Ernst Udet, der im Ersten Weltkrieg nach Manfred von Richthofen der zweiterfolgreichste deutsche Jagdflieger gewesen war. Als ich in Krakau eintraf, war das Wetter extrem schlecht. Die Luft lag scharf und kalt über dem Land, sogar die Zweige der froststarren Bäume schienen unter der grimmigen Kälte zu erzittern.
Die Frage: »Wie wird das Wetter da und dort sein?«, bildete die Grundlage eines jeden Einsatzbefehles, da vom Wetter nicht nur wir, sondern auch die feindlichen Luftwaffen abhängig waren. Das Wolkengelände, die »Landschaft des Himmels«, war immer wechselhaft, oft voller Tücken, und bei bestimmten Wetterlagen war der Einsatz nicht möglich. Wir konnten also nicht viel mehr unternehmen