Gorbatschow. Gerhard Wettig
auf den Machtapparaten Partei, Staatssicherheit und Militär beruhenden Anti-Zivilgesellschaft einen Umsturz von oben darstellten, den zusammen mit Gorbatschow Teile der kommunistischen Herrschaftskreise in Gang setzten, während die Opposition von unten schwach gewesen sei und sich weder als Gesellschaft konstituiert noch als politische Kraft organisiert habe. Mangels handlungsfähiger Organe habe sie keinen bestimmenden Einfluss ausgeübt, sei inkompetent gewesen und habe damit Anteil am Scheitern der Reformen. Mithin liege diesem Zusammenbruch nicht nur Gorbatschows Verzicht auf den Gebrauch von Gewalt zugrunde.1 Diese Ansicht vertreten auch Gerhard und Nadja Simon in ihrem Buch über den „Verfall und Untergang des sowjetischen Imperiums“. Sie machen weiterhin geltend, die auf Enttäuschung beruhende Abkehr der Bevölkerung vom Sozialismus habe als Bewusstseinswandel weithin den Boden für Gorbatschow bereitet.2
Kotkin erörtert, wieso die Weltkatastrophe, das Armageddon der biblischen Apokalypse, nicht eingetreten ist, und kommt zu dem Schluss, dass mit dem Zusammenbruch der UdSSR, der schon zwei Jahrzehnte vorher begonnen hatte und bis zu Putins Machtübernahme weiterging, eine Lage entstanden war, die es nicht zum Krieg zwischen den Blöcken kommen ließ. Aufgrund der Lähmung der Führung im Kreml durch innere Konflikte konnten die spannungsträchtigen, auf Gewalt beruhenden sowjetischen Positionen im Osten Europas beseitigt werden, ohne dass es zum Krieg kam. Der herrschende Parteiapparat habe sich fortlaufend selbst zerlegt. Die Reformen, die Gorbatschow in Gang setzte, seien wegen Halbherzigkeit von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Die Weigerung, eine Marktwirtschaft zuzulassen, habe zum ökonomischen Ruin geführt. Seine Innenpolitik sei in jeder Hinsicht inkonsequent gewesen. Die eingeführten parlamentarischen Gremien hätten keine klaren Funktionen erhalten; seiner Präsidentschaft habe der administrative Unterbau gefehlt; die Justiz sei unentwickelt und oft auch abhängig geblieben; die Strukturen des überentwickelten Sicherheitsapparats hätten ohne Änderung überdauert. Insgesamt seien Liberalisierung und Demokratisierung Fremdkörper in den alten Institutionen gewesen. In dem Maße, wie die „ideologische Selbstzerstörung“ des Sowjetregimes fortgeschritten sei, habe sich völlige Rechtlosigkeit verbreitet. Demgemäß, so stellt Kotkin fest, sei das Staatseigentum Anfang der 1990er-Jahre zur Beute privaten Raubes geworden. Das abschließende Fazit lautet, dass Gorbatschow zwar selbst seinem humanitären Ideal treu blieb, aber mit dem Versuch scheiterte, Staat und Gesellschaft daran auszurichten.3
Die Gorbatschow-Biographie von William Taubman stützt sich auf besonders umfangreiche sowjetische wie amerikanische Quellen und zeichnet auf dieser Grundlage ein überzeugendes Bild der politischen Persönlichkeit.4 Kristina Spohr rückt in ihrer Darstellung der Wende ab 1989 die Charaktere und Einstellungen in den Mittelpunkt.5 Die Vorgänge in der UdSSR und die damit verknüpften internationalen Beziehungen im Umbruchjahr 1989 wurden von Helmut Altrichter umfassend behandelt.6 Die exzellente Darstellung der Interaktion mit dem Kreml in der Ära Bush von Robert Hutchings beruht zum einen auf der persönlichen Kenntnis vieler Washingtoner und Moskauer Interna, die er als Sowjetunion-Experte im National Security Council erhielt, und zum anderen auf den umfangreichen Unterlagen, die er bei seinen folgenden Recherchen einsehen konnte.7 Jeffrey Engel zeigt aufgrund amerikanischer und sowjetischer Quellen, wie US-Präsident Bush und Gorbatschow 1989/90 zusammenwirkten.8 Mark Kramer stützt seine sehr substanziellen, weit gespannten Ausführungen über den Zusammenbruch des kommunistischen Systems und der sowjetischen Macht in Osteuropa unter anderem auf Materialien des Russischen Staatsarchivs für Zeitgeschichte in Moskau (RGANI).9
Die Entwicklungen in den einzelnen „Bruderstaaten“ der UdSSR werden in den Sammelbänden von Wolfgang Mueller, Michael Gehler und Arnold Suppan10 sowie Vladimir Tismăneanu11 dargestellt. Dieser hat auch zusammen mit Bogdan C. Iakob einen weiteren Band mit Beiträgen herausgegeben, die das osteuropäische Geschehen in den historischen Kontext stellen.12 Die Politik Gorbatschows bezüglich der – für das Schicksal des östlichen Bündnisses entscheidenden – Vereinigung Deutschlands und ihrer Folgewirkungen 1989/90 behandeln aufgrund westlicher, vor allem bundesdeutscher Quellen die Veröffentlichungen von Rafael Biermann,13 Andreas Rödder,14 Karl-Rudolf Korte,15 Hanns Jürgen Küsters,16 Werner Weidenfeld17 und Gareth Dale.18 Als Anhänger der Solidarność in Polen hat Artur Hajnicz herausgearbeitet, wie wichtig der Umschwung in seinem Land für die Herstellung der deutschen Einheit war.19 Alexander von Plato, dem die Dokumente der Gorbatschow-Stiftung zur Verfügung standen, wirft dem Kremlchef eine falsche, nämlich den eigenen außen- und sicherheitspolitischen Vorstellungen zuwiderlaufende Ausrichtung vor. Insbesondere habe Gorbatschow, statt gegen alle Widerstände und Hindernisse auf der Schaffung eines die beiden Bündnisse ersetzenden kollektiven Sicherheitssystems zu bestehen, Deutschland der NATO überantwortet.20
Große Bedeutung kommt den veröffentlichten Dokumenten zu. Besonders hervorzuheben sind die zwei von Stefan Karner, Mark Kramer, Peter Ruggenthaler und Manfred Wilke edierten Bände mit internen sowjetischen Analysen während der Wende 1989 und im Kontext der deutschen Wiedervereinigung 1990.21 Die Zusammenhänge und Hintergründe der Außen- und Sicherheitspolitik Gorbatschows und ihre Auswirkungen auf den Warschauer Pakt sind auch das Thema der russischen Unterlagen, die Michail Prozumenščikov zusammen mit Irina Kazarina, Tatjana Kuz’mičeva und Peter Ruggenthaler über den politischen Wandel im Warschauer Pakt und dessen einzelnen Mitgliedsstaaten am „Epochenende“ 1989/90 herausgegeben hat.22
Von der Gorbatschow-Stiftung in Auszügen publizierte Aufzeichnungen von Anatolij Černjaev, Vadim Medvedev und Georgij Šachnazarov über Beratungen des Moskauer Politbüros geben Einblick in interne Entscheidungen zu wichtigen Fragen.23 Svetlana Savranskaya, Thomas Blanton und Vladislav Zubok haben in englischer Sprache einen Band mit sowjetischen und westlichen Dokumenten über das Ende des Kalten Krieges publiziert.24 Von Aleksandr Galkin und Anatolij Černjaev liegt als russischer Originaltext und in deutscher Übersetzung eine Sammlung sowjetischer Archivalien zu Gorbatschows Politik in der deutschen Frage von 1986 bis 1991 vor.25 Auf die Vereinigung Deutschlands 1989/90 beziehen sich eine Auswahl von Akten aus dem Bonner Bundeskanzleramt von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann,26 eine von Andreas Hilger edierte Sammlung von Unterlagen aus dem Auswärtigen Amt27