Gorbatschow. Gerhard Wettig
Schöllgen, Hermann Wentker und Andreas Wirsching ausgewählt wurden.28
Auf sowjetischer Seite haben, neben Gorbatschow29 selbst, seine Mitarbeiter Anatolij Černjaev30 und Georgij Šachnazarov31 sowie Außenminister Ėduard Ševardnadze32 und Stellvertreter Georgij Kornienko, zusammen mit Marschall Sergej Achromeev,33 ebenso wie der im Verlauf des Geschehens zunehmend oppositionell gestimmte Nikolaj Ryžkov34 Erinnerungen verfasst. Als Akteure der zweiten Reihe haben aufschlussreiche Rückblicke auf ihre Tätigkeit veröffentlicht: der KGB-Resident in Ost-Berlin, Ivan Kuz’min,35 der Leiter der Internationalen Abteilung beim ZK der KPdSU, Valentin Falin,36 die Botschafter in Bonn, Julij Kvicinskij,37 und Ost-Berlin, Vjačeslav Kočemasov38 und sein Stellvertreter, Igor’ Maksimyčev, der sich auch gemeinsam mit dem letzten SED-Regierungschef, Hans Modrow, geäußert hat.39 Wichtige Einblicke in die Entwicklung des Verhältnisses zur UdSSR bietet der Bericht des letzten Botschafters der DDR in Moskau, Gerd König.40 Wie sich Markus Wolf erinnert, versuchte er nach seinem Rücktritt als Leiter der DDR-Auslandsspionage 1986 vergeblich, über seine KGB-Kontakte Gorbatschow zur moralischen Unterstützung der innerparteilichen Fronde zu veranlassen, die Modrow statt Honecker an die Spitze stellen wollte.41
Auf westlicher Seite blicken als oberste Führungspersönlichkeiten Bundeskanzler Helmut Kohl42 und US-Präsident George H. W. Bush43 auf die Zeit der großen Wende im Verhältnis zur UdSSR zurück. Auch dessen politische Berater Philip Zelikow und Condoleezza Rice44 sowie Robert Blackwill,45 Außenminister James Baker46 und der amerikanische Botschafter in Bonn, Vernon Walters,47 haben Erinnerungen veröffentlicht. Weiterhin geäußert haben sich Kohls außenpolitischer Mitarbeiter Horst Teltschik48 und der in Moskau tätige Diplomat Joachim von Arnim, der zu ihm in einem kritischen Moment Verbindung aufnahm.49 Als britischer Botschafter beobachtete Rodric Braithwaite aufmerksam die Umwälzungen in der UdSSR und ihre Auswirkungen auf die internationalen Verhältnisse.50
Neben diesen und weiteren Veröffentlichungen, die im Publikationsverzeichnis aufgeführt werden, liegen dieser Untersuchung Dokumente aus folgenden Archiven zugrunde: aus dem Russischen Staatsarchiv für Zeitgeschichte in Moskau (RGANI) und aus der Stiftung Archiv Parteien und Massenorganisationen [der DDR] im Bundesarchiv [Berlin] (SAPMO).
Entwicklungen vor Gorbatschow
Seit dem Ausbruch des Kalten Krieges stützte sich die UdSSR primär auf ihre Militärmacht, die darauf abzielte, Westeuropa im Kriegsfall mit der Perspektive eines raschen Vorstoßes bis zum Atlantik zu konfrontieren, ohne dass das eigene Gebiet dem Risiko der Einbeziehung in die Kampfhandlungen ausgesetzt wurde. Dieses Vorgehen sollte die Präsenz der US-Truppen in Europa beenden. Deshalb sah die Planung für den Fall eines Krieges, der nur als Angriff der „imperialistischen“ Mächte im Westen denkbar erschien, den sofortigen Beginn einer (Gegen-)Offensive vor. Als Stoßkeil standen in der DDR riesige Panzerverbände bereit. Die damit beabsichtigte Einschüchterung sollte die Gegenseite von dem Versuch abhalten, der Sowjetunion durch Ausnutzung bestehender Schwächen, etwa im wirtschaftlichen Bereich, eine Niederlage zuzufügen, sowie eine „Zügelung“ der Aggressivität herbeiführen, die dem „imperialistischen“ System des Westens prinzipiell zugeschrieben wurde. Als Führungsmacht des „sozialistischen Friedenslagers“ erklärte es die UdSSR zu ihrem Auftrag, die Gegenseite durch ein möglichst einseitiges Risiko an der Entfesselung eines Krieges zu hindern.51 Wie Chruschtschow formulierte, sollte die Geiselnahme Westeuropas kriegerische Akte der USA verhindern.52 Die NATO hatte für den Fall, dass ihre Verteidigung ins Wanken geraten sollte, deren Stabilisierung durch einen nuklearen Erstschlag vorgesehen, was den Kreml nicht abzusehende Probleme befürchten ließ. Zwar entzog 1963 Kennedys Entschluss, die „vorne stationierten“ Raketen aus der Türkei abzuziehen, der Maßnahme eine wichtige Grundlage,53 doch die Sorge in Moskau war damit nicht völlig ausgeräumt.
Mit der Stationierung der SS 20 (RS 10 „Pionier“) ab 1975/76 suchte die sowjetische Führung endlich ihr Ziel der unanfechtbaren militärischen Überlegenheit in Europa zu erreichen. Mit einer hinreichenden Anzahl dieser Raketen ließ sich die Verteidigung der NATO sofort ausschalten, ohne dass die – durch diese Kernwaffe von vornherein nicht bedrohten – USA Gelegenheit zum Eingreifen hatten.54 Das lief auf die Abkopplung Westeuropas von dem die atlantische Allianz konstituierenden Schutz der amerikanischen Macht und auf die Schaffung einer hoffnungslos unterlegenen Position gegenüber der Sowjetunion hinaus. Es war zwar nicht zu erwarten, dass man im Kreml Interesse an der Vernichtung und Verstrahlung des westlichen Kontinents hatte, doch ließ sich mutmaßlich mit Androhungen politischer Druck zur Erreichung von Machtzielen ausüben. Aus sowjetischer Perspektive ging es vermutlich vor allem darum, die schwache Position in Bezug auf die wirtschaftliche Produktivität, technische Innovation und soziale Attraktivität zu neutralisieren. Das hieß, der Westen sollte durch eine prekäre Situation zu Zurückhaltung und Entgegenkommen, also zur Unterstützung der UdSSR beim Bemühen um die Lösung ihrer Probleme, zumindest aber zum Verzicht auf die Ausnutzung seiner Überlegenheiten veranlasst werden. Die Grenze zwischen solchen Erwartungen und direkten Pressionen war fließend. Die westliche Seite sah sich daher auch bei dieser defensiven Interpretation der SS-20-Rüstung einer gravierenden Bedrohung ausgesetzt.
Der ungewöhnlich hohe Aufwand für das Militär belastete die UdSSR in extremem Ausmaß. Das wirkte sich auch auf die Beziehungen zu den Verbündeten aus. Diese hatten vielfach vor dem Hintergrund der Ost-West-Entspannung der Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern größere Aufmerksamkeit zugewandt, um mehr Zustimmung zu gewinnen. Die Kosten überstiegen jedoch die beschränkte Kraft der sozialistischen Wirtschaft. Als man sich daraufhin in Moskau um Hilfe bemühte, sah man sich dort dazu wegen eigener materieller Bedrängnis außerstande. Als Ausweg blieb den Partnern die Verstärkung der ökonomischen Zusammenarbeit mit dem Westen und – zumeist in weit größerem Umfang – die Aufnahme von Krediten bei dortigen Banken. Das politische Ergebnis war wechselseitige Frustration. Während die Verbündeten sich in ihren Nöten von ihrer Führungsmacht alleingelassen sahen, warf diese ihnen ständig vor, sich von der Gegenseite abhängig zu machen, was das östliche