Gorbatschow. Gerhard Wettig
href="#ulink_174d8651-3a4d-551f-88ba-37a9b6c4c78f">57 In der Tat erschien dies überaus wahrscheinlich angesichts der zunehmenden Massenproteste im ganzen Land, die den Eindruck allgemeiner Ablehnung der westlichen Raketen erweckten, und der unzähligen Widerstandsaktionen, die seit Sommer 1983 nahezu überall durchgeführt wurden.
Als dennoch in Bonn am 24. November die Stationierung beschlossen wurde, suchten dies „Friedenskämpfer“ aktiv vor allem dadurch zu verhindern, dass Großaufgebote von Protestierenden den Zugang zu den Aufstellungsorten und zum Verteidigungsministerium blockierten. Das veranlasste die Regierung jedoch nicht zum Nachgeben, sondern zum Einsatz von Hubschraubern zum Transport von Personen und Raketen. Das bot der Friedensbewegung Paroli – und kurz danach zerbrach ihre Einheit. Damit scheiterte sie endgültig. Der Kreml brauchte viele Wochen, bis er sich auf die neue Lage einstellte. Nach einer Phase des Schwankens fasste er schließlich den Entschluss, die Bundesrepublik mit heftiger Ablehnung zu bestrafen. Die DDR beteiligte sich nicht und rechtfertigte das mit der Parole einer „Koalition der Vernunft“. Dem lag zugrunde, dass die finanziellen Bedürfnisse Honeckers durch die vertraglich festgelegten Zahlungen nicht befriedigt wurden und dass er sich von einem Zusammenwirken mit Bonn noch weitere Devisenzuflüsse versprach. Die UdSSR sah sich außerstande, die Lücke zu schließen. Als Gorbatschow am 10. März 1985 an die Spitze der UdSSR trat, hatte ihr die „Nachrüstung“ der NATO die langfristig angestrebte Option genommen, ihre vielen Schwächen durch militärische Überlegenheit auszugleichen.
Fragestellung
Als Michail Gorbatschow am 10. März 1985 vom Politbüro zum Generalsekretär der KPdSU gekürt wurde, hatten sich in einer langen Phase der politischen Stagnation (wie es in maßgebenden Kreisen hieß) gravierende Probleme im Lande, im Warschauer Pakt und gegenüber dem Westen aufgestaut. Sein Bemühen um Korrekturen konnte daher nicht überraschen. Der Verlauf, die Ausrichtung und die Ergebnisse der Reformen, die den Warschauer Pakt betrafen oder sich auf ihn auswirkten, sind das Thema des zweiten Hauptteils. Bei diesem Vorgehen stützte sich Gorbatschow zu Anfang auf eine unangefochtene Machtposition, geriet dann aber zunehmend unter den Druck ungewollter Folgewirkungen und stand zum Schluss dem Geschehen ohnmächtig gegenüber, als sich 1991 zuerst der Warschauer Pakt (das „äußere Imperium“) und dann auch die UdSSR (das „innere Imperium“) auflösten. Die in diesem Teil des Buches vorgelegte Darstellung wurde verfasst, ohne dabei zunächst die Frage nach der generellen Logik des fortgesetzten, sich vor allem ab 1989 beschleunigenden Machtverfalls zu stellen. Erst nachdem ohne diese Überlegung die Darstellung der sukzessiven Entscheidungen Gorbatschows, ihrer Voraussetzungen, Motive und Konsequenzen formuliert worden war, wurde im Anschluss das zugrundeliegende Problem ins Auge gefasst, wieso die Reformpolitik nicht zur Festigung der sowjetischen Macht und zur Stärkung des sozialistischen Systems, sondern zu deren Auflösung geführt hat. Diese Logik des Geschehens herauszuarbeiten, ist das Ziel des nachträglich verfassten dritten Hauptteils.
In der folgenden Untersuchung der Politik Gorbatschows, soweit sie den Warschauer Pakt berührte, geht es nicht nur darum, relevante neue Fakten zu ermitteln, sondern vor allem auch darum, die Zusammenhänge zwischen den Vorgängen zu klären, die in 18 sich zeitlich überlappende Stadien gegliedert werden. Der danach durchgeführten Analyse ihres Verlaufs liegt die Feststellung zugrunde, dass die UdSSR lange Zeit eine sehr starke, möglicherweise sogar überlegene militärische Position auf dem europäischen Schauplatz besessen hatte, aber stets in fast allen anderen Bereichen schwächer als der ideologisch zum bedrohlichen Feind erklärte Westen gewesen war. Vor allem ihre ökonomische und technische Leistungsfähigkeit sowie ihre soziale Attraktivität waren unterlegen. Das stand in diametralem Gegensatz zum Anspruch auf Überlegenheit des Sowjetsystems und zu den darauf beruhenden politischen Ambitionen. Die Diskrepanz veranlasste das Regime zur Bereitstellung möglichst großer Gewaltpotenziale, um sich nach innen und außen vor den Auswirkungen vorhandener Defizite zu schützen. Umfängliche Sicherheitsapparate und die gegen die eigene Bevölkerung gerichtete Grenze dienten der Abwendung endogener Gefahren, während der Eindruck militärischer Stärke den Westen von der Ausnutzung seiner Überlegenheitsfaktoren abhalten sollte. Die Machtinstrumente verursachten hohe Kosten, welche die schwache Wirtschaft übermäßig belasteten.
Als Gorbatschow an die Spitze der UdSSR gelangte, hatte eine Entwicklung eingesetzt, welche die Aufrechterhaltung der starken militärischen Position – und damit den Ausgleich für die Unterlegenheiten gegenüber dem Westen – zweifelhaft machte: Die NATO hatte die Herausforderung durch die SS 20 erfolgreich abgewehrt und begonnen, ihre Verteidigung durch waffentechnische Innovationen in die Vorhand zu bringen. Gorbatschow stand daher vor der Aufgabe, den allgemeinen Niedergang zu überwinden und die sowjetische Position zu behaupten. Da die Streitkräfte seit jeher dazu dienten, bestehende Defizite zu kompensieren und zu neutralisieren, galt seine Aufmerksamkeit zunächst vor allem dem militärischen Problem, doch wurde ihm zunehmend klar, dass er sich primär um die geringe wirtschaftliche Produktivität, die inferiore Technik und die abnehmende soziale Akzeptanz des sowjetischen Systems als Schwachpunkte kümmern musste. Bei diesen ebenso vielfältigen wie schwierigen Aufgaben stellte sich nicht nur die Frage, welcher er sich zuerst zuwenden solle, sondern es wurden auch Transformationsprozesse nötig, von denen niemand wusste, wie sie zum Erfolg zu führen waren, und bei denen er sich auf vielfach unwillige Parteifunktionäre stützen musste, die sich je länger, desto mehr widersetzten.
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1 Stephen Kotkin, Uncivil Society. 1989 and the Implosion of the Communist Establishment. New York 2009.
2 Gerhard und Nadja Simon, Verfall und Untergang des sowjetischen Imperiums. Mit zahlreichen Dokumenten. München 1993.
3 Stephen Kotkin, Armageddon Averted. The Soviet Collapse 1970–2000. Updated Edition, Oxford/GB 2008.
4 William Taubman, Gorbachev. His Life and Times. New York – London 2015.
5 Kristina Spohr, „Wendezeit“. Die Neuordnung der Welt nach 1990. München 2019.
6 Helmut Altrichter, Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums. München 2009.
7 Robert L. Hutchings, Als der Kalte Krieg zu Ende war. Ein Bericht aus dem Innern der Macht. Berlin 1999.
8 Jeffrey A. Engel, When the World Seemed New. George H. W. Bush and the End of the Cold War. New York 2017.
9 Mark Kramer, Jaruzelski, the Soviet Union, and the Imposition of Martial Law in Poland, in: Bulletin of the Cold War International History Project, 11/Winter 1998, S. 5–14; Mark Kramer, The Collapse of East European Communism and the Repercussions within the Soviet Union, in: Journal of Cold War Studies, 5/4/2003, S. 178–256; 6/4/2004, S. 3–64; 7/1/2005, S. 3–96; Mark Kramer, The Demise of the Soviet Bloc, in: The Journal of Modern History, 83/4/December 2011, S. 788–854.
10 Wolfgang Mueller – Michael Gehler – Arnold Suppan (Hg.), The Revolutions of 1989: A Handbook. Wien 2015.
11 Vladimir Tismăneanu (Hg.), The Revolutions of 1989 (Rewriting Histories). New York 1999.
12 Vladimir Tismăneanu – Bogdan C. Iakob (Hg.), The End and the Beginning. The Revolutions of 1989 and the Resurgence of History. Budapest – New Yok 2012.