Gorbatschow. Gerhard Wettig
target="_blank" rel="nofollow" href="#ulink_2b9d4e28-fe7f-5110-90d1-4e7c74f40f48">55 nicht nur auf die hohen finanziellen Zuflüsse aus der Bundesrepublik angewiesen war, die sie aufgrund der Berlin-Vereinbarungen und weiterer Arrangements erhielt, sondern sich zudem noch so sehr im Westen verschuldete, dass sie Anfang der 1980er-Jahre insolvent geworden wäre, wenn ihr nicht Bonner Unterstützung aus der Patsche geholfen hätte. Auch Polen und Ungarn mussten sich vom Kreml ihre hohen Westkredite vorhalten lassen.
Gegenüber dem Westen führte die immer schwerer zu tragende Bürde der Militärausgaben dazu, dass die UdSSR in den Verhandlungen über die KSZE-Folgetreffen die „militärische Entspannung und Abrüstung“ in den Mittelpunkt zu rücken suchte, um angesichts des Abbaus angeblicher Überkapazitäten der NATO den Kostenanstieg auf der eigenen Seite bremsen zu können. Ab 1979/80 geriet die Sowjetunion durch die Finanzhilfen für die antiwestlichen Bewegungen in der Dritten Welt und für Fidel Castros Kuba sowie durch den Krieg in Afghanistan zusätzlich unter Druck. Deswegen sah man sich im Kreml außerstande, auf die Bedrohung des kommunistischen Regimes in Polen durch die Gewerkschaft Solidarność mit militärischer Intervention und der damit verbundenen Übernahme der vollen Verantwortung zu reagieren. Wiederholte Bekundungen der Bereitschaft dazu sollten Warschau zum Einsatz der eigenen Sicherheitskräfte bewegen. Als General Jaruzelski nach eineinhalb Jahren schließlich dazu bereit war, erzielte er trotz ausgebliebener sowjetischer Mithilfe Erfolg. Dennoch war die UdSSR die Last nicht völlig los: Es wurde nötig, das polnische Regime vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch zu retten. Im Kreml sah man sich aber je länger, desto weniger zu ausreichender Hilfe in der Lage. Jaruzelski blieb nichts anderes übrig, als im Westen, auch in den USA, finanzielle Unterstützung zu erbitten. Er sah sich daher genötigt, die Repression abzuschwächen und gefangengesetzte Solidarność-Aktivisten freizulassen.
Die Politiker im Kreml sahen mit Unwillen, dass die Verbündeten, von Rüstung und Raumfahrt abgesehen, der UdSSR im wirtschaftlichen und technischen Bereich keine Führungsrolle zubilligten. Sie bezogen zwar gerne die von ihr gelieferte Energie und viele Rohstoffe, doch wenn es um Industriegüter des zivilen Bedarfs ging, waren ihnen die Erzeugnisse aus dem Westen lieber. Diese Präferenz hatte Folgen, die weiter reichten als ein Imagedefizit und Mindereinnahmen beim Export. Es entstanden Lieferketten, mit denen Warschauer-Pakt-Staaten dem östlichen Wirtschaftsverbund RGW den Rücken kehrten und ihrerseits benötigte Produkte in westliche Länder ausführten. Käufe im Westen erhielten Vorrang; den dafür benötigten Devisen wurde ein vielfacher Wert dessen beigemessen, was östlichen Währungen zugestanden wurde. Als die UdSSR an der Wende von den 1970er- zu den 1980er-Jahren wieder einmal Getreideimporte aus dem Westen benötigte, bezahlte sie mit Erdöllieferungen, weswegen die Kontingente der Verbündeten, insbesondere auch der DDR, eingeschränkt wurden. Das zog Spannungen nach sich: Die Führungsmacht begann, auf die Interessen der anderen Paktmitglieder weniger Rücksicht zu nehmen.
Die Entspannungspolitik, welche die Sowjetunion seit den späten 1960er-Jahren betrieb, schuf weitere Probleme. Es ließ sich nicht verhindern, dass außer der benötigten wirtschaftlichen Kooperation mit dem Westen auch Kontakt, Kommunikation und Informationskanäle über die Systemgrenze hinweg zunahmen. Das galt ganz besonders für das Verhältnis der DDR zur Bundesrepublik. Seit 1970–72 deren Moskauer Vertrag mit der UdSSR, die Regelung des Berlin-Problems und die Neugestaltung der deutsch-deutschen Beziehungen Breschen in ihre „Abgrenzung“ geschlagen hatten, entwickelten sich enge Verflechtungen zwischen beiden Staaten. Das lag außer an ihrer nationalen Gemeinsamkeit, der die DDR mit der These der „sozialistischen Nation“ vergeblich die Wirkung zu nehmen suchte, an der finanziellen Bedürftigkeit des SED-Regimes. Dessen Chef, Erich Honecker, suchte die Bevölkerung durch Subventionen für Waren des täglichen Gebrauchs politisch zu gewinnen, verfügte aber, als der erwartete Produktivitätsanstieg ausblieb, nicht über die notwendigen Mittel und sah keine andere Möglichkeit als die Inanspruchnahme der materiellen Vorteile, die das neue Verhältnis zur Bundesrepublik bot, wofür er auf deren Verlangen nach „menschlichen Erleichterungen“ eingehen musste. Der stetig wachsende Aufwand seiner Konsumpolitik machte ihn, anders als zunächst gedacht, permanent von dem Geld aus Bonn abhängig. Er war ständig bemüht, den Zufluss durch ökonomische Kooperation und politisches Entgegenkommen zu mehren.
Zugleich jedoch achtete Honecker darauf, die Schleusen des Kontakts, der Kommunikation und der Migration, nicht zu weit zu öffnen. Dabei stützte er sich sowohl auf den fortlaufend ausgebauten Staatssicherheitsdienst, der seine Methoden verfeinerte, um sein Wirken nach außen hin nicht gar zu krass hervortreten zu lassen, als auch auf die bewaffnete, nach innen gegen die eigene Bevölkerung gerichtete Grenze (mit der „Berliner Mauer“ als öffentlich sichtbarem Kernstück), mit der die DDR sich sowie die anderen Warschauer-Pakt-Staaten vor der Attraktivität des Westens schützte. Die nach innen gerichtete Abwehrfunktion der Grenze war für sie wegen familiärer und sonstiger Bindungen zwischen den Menschen auf beiden Seiten sogar besonders wichtig. Das galt umso mehr, als die Bundesrepublik ihre Staatsbürgerschaft den Ostdeutschen automatisch zuzubilligen bereit war und deswegen alle „Republikflüchtigen“ sofort aufnahm und ihnen alle erforderliche Unterstützung gewährte, was den Entschluss zur Übersiedlung sehr erleichterte. Auf das Verlangen, diesen Standpunkt aufzugeben, ging man in Bonn nicht ein, war doch der Wille, durch die Aufnahme speziell „innerdeutscher“ Beziehungen die Einheit der Nation im Zustand der Zweistaatlichkeit zu bewahren, ein wesentliches Motiv der „neuen Ostpolitik“.
Angesichts der Entspannung begannen viele KP-Funktionäre dem Systemgegensatz zum Westen weniger Gewicht beizumessen. Die Tatsache, dass die Sicherheit der Warschauer-Pakt-Staaten durch Übereinkünfte mit westlichen Vertragspartnern gefestigt wurde, rückte stärker ins Bewusstsein. Ein Symptom des Wandels war die Bereitschaft, Sicherheitsprobleme mit sozialdemokratischen Politikern zu erörtern, die man stets des Verrats am Sozialismus bezichtigt hatte. Hochrangige sowjetische Funktionäre beteiligten sich an der Independent Commission on Disarmament and Security des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme und wirkten an deren Konzept der „gemeinsamen Sicherheit“ mit. Auf Anregung von Kadern an der DDR-Akademie der Wissenschaften kam es von Februar 1984 bis Juni 1989 zu einem „Dialog“ mit der Grundwertekommission der SPD über den „Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“. Das Ergebnis waren eine bedeutsame politische wie persönliche Annäherung und ein darauf beruhender Bericht, der von Honecker unterzeichnet wurde, aber nur wenig Eingang in seine Vorstellungswelt fand.
Seit Anfang der 1980er-Jahre stand die UdSSR sogar auf militärischem Felde vor wachsenden Herausforderungen. US-Präsident Ronald Reagan drängte sie in der Dritten Welt zurück und leitete einen Rüstungswettlauf ein, den sie selbst mit größter, stark belastender Anstrengung nicht gewinnen konnte. Besonders gravierend war seine Entscheidung, die Kernwaffen der amerikanischen Truppen in Europa mit Neutronensprengköpfen zu bestücken, die den östlichen Panzerkeilen ihren Wert zu nehmen drohten und damit das Offensivkonzept infrage stellten.56 Geradezu Entsetzen rief im Kreml seine Strategic Defense Initiative hervor. Es war zwar zweifelhaft, ob das erklärte Ziel, durch weltraumgestützte Waffensysteme die USA vor allen Nuklearschlägen zu schützen, zu erreichen sei, doch war mit wehrtechnischen Innovationen zu rechnen, denen die UdSSR nichts entgegenzusetzen hatte. Zudem zeichnete sich im Westen die Entwicklung nicht-nuklearer Kampfmittel ab, die ebenso wirksam wie Kernwaffen waren und daher bei einem bewaffneten Konflikt ohne Verstrahlungssorgen sofort eingesetzt werden konnten. Vor diesem Hintergrund begannen sich die Militärs in Moskau darauf einzustellen, dass der vorgesehene Vorstoß bis zum Atlantik zunehmend illusorisch wurde.
Im Kreml setzte man alle Hoffnung darauf, dass der Druck der SS 20 auf Westeuropa einen sicherheitspolitischen Ausgleich herstellen würde. Nicht zuletzt deshalb erschien es nötig, der NATO die Durchführung ihres Doppelbeschlusses vom 12. Dezember 1979 unmöglich zu machen. Dieser sah vor, dass entweder die UdSSR ihr SS-20-Konzept aufgeben müsse, oder man mit einer „Nachrüstung“ reagieren werde. Im Blick darauf begannen die USA Mittelstreckenraketen für die Stationierung jenseits des Atlantiks, vor allem in der Bundesrepublik, zu entwickeln und zu produzieren. Diese waren dazu bestimmt, Ziele in weiten Gebieten der UdSSR zu treffen und damit die Bedrohung Westeuropas durch eine Gegenbedrohung der Sowjetunion zu neutralisieren. Die sowjetische Führung erwartete zuversichtlich, vor allem die – seit