Kupidos Chronik. Andre Brink

Kupidos Chronik - Andre  Brink


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sich daranmachen konnten, ein Grab zu schaufeln; die Erde war hart wie Fels. Um die Zeit war der Mond herausgekommen, ein bloßer Lichtsplitter am Himmel, und die Milchstraße war übersät von Sternenstaub, der den Weg bezeichnete, den der böse Gott Gaunab eingeschlagen hatte, als er vom Ort der letzten von vielen mit dem guten Gott Tsui-Goab ausgefochtenen Schlachten floh, um ungesehen in Frieden zu sterben. Sie wickelten den toten Säugling in einen zerlumpten alten Mantel, den man einer Vogelscheuche auf dem Bohnenfeld ausgezogen hatte, und legten ihn an den Rand des flachen Grabes, damit die Männer erst noch Erfrischungen zu sich nehmen konnten, ehe sie mit der Zeremonie weitermachten.

      Angeblich gehörten zu diesen Erfrischungen aus Honig gebrautes Karie-Bier, so stark, dass es eine Straußeneischale auflösen konnte, eine gehörige Menge Dagga oder wilder Hanf und ein Schaf, das sie sich aus dem Kraal des Baas geholt hatten (ein Vergehen, das dem Farmer später sicherlich genügend Gelegenheit böte, seine neue Nilpferdpeitsche zu gebrauchen – doch in ihrem Taumel des Trauerns und Feierns konnten sie sich nicht allzu viele Gedanken über das Morgen machen). Schwer zu sagen, ob dies irgendetwas mit dem zu tun hatte, was gegen Ende des Festes geschah, als sich am Himmel bereits der erste blutrote Schimmer der Morgendämmerung zeigte. Doch als die jetzt beträchtlich lauter krakeelenden Arbeiter sich erneut zu dem Grab begaben, neben dem das winzige Bündel nach wie vor geduldig ihrer Rückkehr harrte, nahm das Geschehen eine höchst unerwartete Wendung. Als die kleine, nun völlig hemmungslos singende und tanzende Schar bei dem flüchtig ausgehobenen Loch ankam und die Mutter sich vorbeugte, um ihr totes Kind zur Ruhe zu betten, taumelte sie voll heiliger Scheu zurück. Auf dem unförmigen kleinen, fest in sein Leichentuch aus dem Mantel der Vogelscheuche gewickelten Bündel thronte eine leuchtend grüne Gottesanbeterin, inbrünstig ins Gebet versunken.

      Wie jedermann weiß, wird in der Welt der Khoikhoin die Gottesanbeterin als Glücksbringerin verehrt; der afrikaanse Name, hotnotsgot, bedeutet sogar ›Hottentotten-Gott‹. Die Leute wichen, urplötzlich nüchtern, zurück. Dann schlurften sie weg, setzten sich schließlich nieder und warteten. Gerade als die Sonne sich über den niedrigen Hügeln am östlichen Horizont zeigte, stieß einer einen schrillen Schrei aus und deutete mit dem Finger. Alle schauten. Und alle sahen es. Die Gottesanbeterin war verschwunden. Vielleicht war sie gar nicht da gewesen. Nur dass alle sie gesehen hatten. Sie war da gewesen.

      Mehr noch – als die Mutter sich ein zweites Mal dem Bündel näherte, regte es sich. Wie um ganz sicherzugehen, dass sie nicht glaubten, sich zu irren, gab es sogar ein schwaches kleines Wimmern von sich. Und als man die schwarzen Fetzen des Vogelscheuchenfracks auffaltete, war der Säugling am Leben und sah sie leicht belustigt an. Die Mutter entblößte eine Brust und presste den Kümmerling dagegen. Unverzüglich begann er, gierig an der Brustwarze zu saugen, die wie der geschuppte Kopf einer Schildkröte an seinem kleinen Mund lag. Mittlerweile stand die Sonne schon zwei Handbreit über den Hügeln, und es war schon weit über der Zeit, zu der man mit der Tagesfron hätte beginnen müssen.

      Wie unter einem Bann trudelten die Leute zu dem schmuddeligen kleinen Haus aus unbehauenem Stein, das ihrem Herrn und Meister gehörte. Als sie im Hinterhof anlangten, tauchte er in der Stalltür auf und rieb sich die Augen, als wäre er gerade aufgewacht. Nie zuvor hatte er je verschlafen, und er schien gar nicht zu merken, dass sie alle viel zu spät zur Arbeit dran waren. So wie er auch nie merkte, dass im Kraal ein Schaf fehlte. Wahrhaftig, wunderliche Dinge geschahen in dieser Welt.

      »Und das alles nur wegen der Gottesanbeterin«, sagte die Mutter, nicht so sehr, als habe sie sich mit all dem abgefunden, sondern eher hellsichtig-wissend, vielleicht beflügelt von den letzten Resten des Karie-Biers. Und fügte mit einem Blick auf das sich windende kleine Wesen an ihrer Brust hinzu: »Dieser Winzling wird einen langen Weg durch diese Welt gehen. Über die Grenzen dieser Farm hinaus, über die Hügel und Berge, über alles hinaus. Wenn ihr mich fragt – er ist dazu erwählt, ein Mann zu werden wie kein anderer. Er wird nicht so sein wie ich, wie irgendeiner von uns, er wird ein freier Mann sein.«

      3. Stimmen im Dunkel

      Nach der Geburt, wenn es denn eine Geburt war, als in der frühen Morgendämmerung alle wieder auf den Feldern waren, band die Frau sich das Kind in einem Tragetuch auf den Rücken und brachte es weit hinaus in den Busch, zu einem tiefen Einschnitt zwischen den Hügeln, wo die Leute ihres Volks einen Steinhaufen aufgeschichtet hatten, einen heitsi-eibib; ein heitsi-eibib war es, der vom Anbeginn der Zeit stammte, als die Welt noch ganz neu und noch nass von der Geburt war. Jene Zeit war es gewesen, in welcher der Jäger-Gott Heitsi-Eibib noch unbeschwert unter den Menschen umherging, viele Male und auf vielerlei Art starb und immer und überall wiedergeboren wurde. Und wer an einem solchen Haufen vorbeikam, musste einen Stein dazulegen, um mit den Menschen eins zu werden, die vor ihm gelebt hatten und jetzt lebten und noch leben würden, vereint im Sterben und Leben Heitsi-Eibibs. Dies sicherte dem Vorüberkommenden ein glückliches Leben. Die Frau legte also einen Stein für sich und einen, nur einen Kieselstein, für das Kind dazu.

      An dem Abend blieb sie, als alle schon schlafen gegangen waren, im Dunkeln ihrer Hütte sitzen. Sie hatte die Gabe des zweiten Gesichts, und sie sah den langen Weg, den ihr Volk gegangen war, vorbei an all den für Heitsi-Eibib errichteten Steinhaufen weit und breit im ganzen Land, um dort anzulangen, wo sie jetzt war und auf ihrem Schoß das kleine Wesen stützte, das sie nicht gewollt und nicht erwartet hatte, das aber irgendwie jetzt ihres war. Vieles sah sie mit ihren anderen Augen. Nicht nur, was geschehen war, sondern auch, was in den Jahren, die noch kämen, geschehen würde. Zum Beispiel wie eines Nachts in sechs, vielleicht acht Jahren der Junge hinausgeht, um im Mondschein ganz für sich allein zu spielen, lange nachdem alle anderen Kinder schon hineingegangen sind. Und wie er sich schließlich hereinschleicht und in der Hand etwas Glänzendes hält.

      »Was ist das, was da so glänzt?«, fragt sie ihn.

      Zuerst versucht er, es zu verstecken, aber dann erklärt er: »Es ist ein Stern, Ma. Ich habe ihn gepflückt.«

      »Wie bist du denn an den rangekommen?«

      »Um diese Jahreszeit, im Sommer, hängen sie mos so niedrig, dass sie einem in den Weg geraten.«

      »Dann geh und häng ihn wieder auf.«

      »Wenn man einen Stern gepflückt hat, kann man ihn nicht wieder aufhängen.«

      »Du hättest ihn gar nicht erst pflücken dürfen. Nicht, solange er noch grün ist. Du solltest warten, bis er reif ist und von selber runterfällt.«

      »Und was soll ich jetzt damit machen? Jetzt hab ich ihn nun mal.«

      »Dann bring ihn raus, damit er von selbst zurückfindet. Zwei Sachen bringt man nie mit herein: einen Stern und eine Gottesanbeterin. Sie bringen Glück, beide, aber wenn man sie mit reinbringt, gerät man in Schwierigkeiten. Draußen gehören sie Tsui-Goab. Aber drinnen nimmt Gaunab sie weg und bringt sie in den schwarzen Himmel der Nacht, wo er haust.«

      »Ist gut, Ma.«

      Aber es ist dunkel, und sie kann nicht sehen, wie er den Stern wieder loswird.

      Ein anderes Bild, das an ihren Augen vorbeizog, war wahrscheinlich aus sehr ferner Zukunft gekommen, denn darauf sah sie ihr Kind als verschrumpelten alten Mann, der sich durch eine leere, ausgedörrte Landschaft schleppt. Er wedelt mit den Armen, auf und ab, auf und ab. Und sie sieht, wie aus seinen langen, spindeldürren Armen Federn sprießen, lange Federn, braune, und andere, weiß gestreifte wie die des Gauklers, und vor ihren Augen hebt er vom Boden ab und fängt an zu fliegen, fliegt höher als der Wind. Und auf irgendeine unerklärliche Weise war sie neben ihm und sah alles, was er sah, unbekannte Flüsse und Bergketten, die unter ihnen vorbeizogen, ferne Länder und Orte, die von seltsamen Menschen und Tieren bevölkert waren. Sie sah fliegende Elefanten und Trappen mit Rhinozeroshörnern und Leute, denen der Kopf aus der Brust wuchs, und hochgewachsene Frauen mit riesigen funkelnden Diamanten an ihren großen Zehen. Sie sah Dinge, die sie nie für möglich gehalten hätte: einen Löwen und ein Schaf, die friedlich nebeneinander lagen, eine Kuhantilope, die eine Gans säugte, einen Leoparden, der ein paar Küken hütete, eine Elenantilope und eine Gottesanbeterin, die sich paarten.

      Zuerst ängstigte sie, was sie sah. Doch schnell beschloss sie, sich dem zu überlassen und keine


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