Kupidos Chronik. Andre Brink

Kupidos Chronik - Andre  Brink


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weißt du denn schon vom Leben?«

      »Ich weiß nur, wie es hier ist. Und das kann nicht Leben sein.«

      »Du weißt überhaupt noch nichts.«

      »Was ich weiß, habe ich von dir gelernt. Leben ist bestimmt wie Heitsi-Eibib. Heute hier, morgen irgendwo anders, immer an einem anderen Ort, immer in anderer Gestalt. Mann, Löwe, Tauchervogel, dann Gottesanbeterin oder Schmetterling oder Schildkröte oder Blutstein; an dem einen Tag ist er ein Mond, am nächsten ein Stern. Er bleibt nie der Gleiche, und er bleibt nie an einem Ort. Du musst mich gehenlassen, Ma.«

      Sie wollte das nicht sagen, aber plötzlich bricht es aus ihr heraus, ein Gedanke, den sie seit dem Tag seiner Geburt in ihrem Inneren gehegt hat: »Warte lieber auf den Adler, der dich mitnimmt und von hier wegbringt.«

      »Welcher Adler?«, fragt er.

      Sie würde lieber schweigen, doch sie weiß, er wird sie nicht in Ruhe lassen, wenn sie es ihm nicht sagt. »Schau, Kupido, du erinnerst dich doch an den Vogel, von dem ich dir erzählt habe, an den Adler?«

      »Du hast so viele Geschichten erzählt.«

      »Schon, aber die mit dem arend. Der Adler, der dich hoch oben am Himmel in seinen Krallen gehalten und dann in meinen Schoß fallen lassen hat.«

      »Ist das so passiert?«

      »Kupido, ich kann dir nicht mit Sicherheit sagen, ob es so war. Ich sage nur, wenn es so war, dann musst du warten, bis eines Tages ein anderer arend kommt und dich wieder holt. Dann brauchst du dir keine Gedanken mehr wegen einem Wagen zu machen. Wenn du erst einmal fliegen kannst, wirst du viel weiter kommen, als du es je mit einem Wagen schaffen würdest.«

      Und dann erzählt sie ihm eine andere ihrer Geschichten. Von dem Farmer, der nach einem Sturm auf seiner Farm in allen Ecken und Winkeln nach einem verirrten Kalb suchte und ein eben erst geschlüpftes Adlerjunges fand, das aus seinem Nest in den Bergen gefallen war. Der Farmer nahm das kleine Ding mit nach Hause, wo es im Hinterhof zusammen mit den Küken aufwuchs. Wie das andere Federvieh scharrte es nach Körnern und Würmern, und abends hockte es sich zum Schlafen auf eine Stange. Bis eines Tages ein Mann kam, den seltsamen Vogel nur kurz ansah und ausrief: »Das ist ja gar kein Huhn, das ist ein arend!« Die Leute wollten ihn aufhalten, aber er schüttelte sie ab und nahm den Adler mit in die Berge. Zuerst weigerte sich der Vogel, auch nur den kleinsten Flugversuch zu unternehmen. Schließlich brachte der Mann an einem herrlichen Sommertag den Vogel bei Sonnenaufgang auf den höchsten Gipfel und sagte zu ihm: ›Schau, dort ist dein Platz. Dort oben am Himmel, bei der Sonne, nicht hier unten auf der Erde.‹ Und mit diesen Worten schleuderte er den Vogel zum Himmel hinauf, gerade als die riesige rote Sonne sich vom Horizont löste. Und der arend breitete seine mächtigen Schwingen aus und stieg empor, frei wie eine Wolke und so hoch wie der Wind, weit über die Sonne hinaus. Denn nun hatte er endlich begriffen, was es bedeutete, ein Adler zu sein.

      Kupido sitzt da und lauscht, ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken, fast ohne zu atmen. Die Geschichte setzt in seinem Kopf eine ganze Kette von Gedanken in Gang, die über die Jahre hinweg immer länger wird. Er fängt an, das Buschland von einem Ende zum anderen zu durchforschen, und sammelt so viele Federn, wie er finden kann, und versteckt sie im Dachstroh auf der Hütte seiner Mutter. Bis er dann zu dem Schluss kommt, dass er jetzt genügend hat. Er reibt sich Gummiharz von Dornenbüschen und klebrigen Wurzeln auf Schulterblätter und Arme und mischt – nur um sicherzugehen – Honig aus einem großen Ameisenhaufen darunter. Mit Federn bedeckt, wirklich ein seltsamer Vogel, klettert er vorsichtig auf den Felsvorsprung hinter dem Gehöft des Farmers, stellt sich auf die höchste Kante, schließt die Augen und springt.

      Als er nach ungefähr drei Wochen wieder herumhinken kann, humpelt er sogleich in den Busch und fängt erneut an, Federn zu sammeln.

      Nach dem dritten Absturz findet er sich, ein wenig traurig, damit ab, dass er seiner Mutter glauben und warten muss, bis der arend kommt und ihn holt.

      5. Granatäpfel und Quitten

      Eines Tages, als Kupido sich mehr oder weniger erholt hat, schickt man ihn mit einem Korb voller Granatäpfel zur benachbarten Farm, wo die Schwester der Nooi wohnt. Das bedeutet, bei Sonnenaufgang aufzubrechen und zu gehen, bis die Sonne direkt über einem steht. Einen Erwachsenen kann der Baas nicht von der Arbeit wegholen, und die Nooi kann nicht selber gehen, weil sie mit den neugeborenen Zwillingen im Bett liegt. Also muss Kupido los.

      Sie schickt einen Korb mit zwölf rotglänzenden Granatäpfeln, zusammen mit einem zusammengefalteten Brief für die Frau auf der benachbarten Farm.

      Er geht und geht und geht. Als ihm das Gehen zu viel wird, macht er im Schatten eines großen Steinbrockens auf dem Felsvorsprung eines niedrigen Berges Rast. Nachdem er gründlich darüber nachgedacht hat, isst er zwei von den Granatäpfeln. Kein Mensch wird das je erfahren.

      Das hat er sich so ausgerechnet. Aber als er bei der Nachbarsfarm ankommt und den Korb übergibt und die Schwester der Nooi den Brief auffaltet und liest, kommt sie noch einmal an die Küchentür und fragt: »Wo sind die beiden anderen Granatäpfel?«

      »Von was reden Sie denn da?«, fragt er aschfahl vor Angst. »Das sind alle, die sie mir mitgegeben hat.«

      »In dem Brief da steht, dass deine Madam einen Korb mit zwölf Granatäpfeln geschickt hat. Und jetzt sind es nur noch zehn. Ich will also wissen, was mit den beiden anderen passiert ist.«

      Kupido verschlägt es die Sprache, dass der Brief eine solche Macht hat. So verwirrt ist er, dass er selbst die zwölf Schläge mit der Nilpferdpeitsche des Nachbarn kaum spürt, die ihm ins Hinterteil und den Rücken schneiden wie Messerhiebe. Den ganzen Heimweg über – erst jetzt spürt er den Schmerz so richtig – zupft und zerrt sein Verstand am Geheimnis des zusammengefalteten Briefes. Seiner Mutter sagt er jedoch kein Wort davon, verbirgt es in seinem Inneren. Als sie ihn nach den Striemen und Schnitten auf seinem Rücken fragt, antwortet er einfach nicht, und da sie damit vertraut ist, wie unergründlich die Verhaltensweisen weißer Leute sind, dringt sie nicht weiter in ihn.

      Etwa ein Jahr später wird er erneut auf einen Botengang zu der Schwester auf der Nachbarsfarm geschickt. Diesmal wegen eines Todesfalls in der Familie (eines der Kinder ist von einer Giftschlange gebissen worden); in dem Korb sind zwanzig Quitten. Und ein zusammengefalteter Brief.

      Unterwegs überkommen ihn Müdigkeit und Hunger. Der Geschmack einer Quitte ist nichts im Vergleich zur Süße eines Granatapfels. Aber er kann der Versuchung nicht widerstehen. Er weiß, er findet keine Ruhe, wenn er nicht vorher eine Quitte kostet. Diesmal wird er sich aber nicht ertappen lassen wie beim letzten Mal. Er nimmt also zuerst den Brief, den die Nooi mitgeschickt hat, und versteckt ihn unter einem flachen Stein hinter einem großen Felsbrocken. Und erst, als er die Quitte aufgegessen und sorgsam alle Spuren seines Festmahls beseitigt hat, holt er den zusammengefalteten Brief unter dem flachen Stein hervor und macht sich wieder auf den Weg.

      Aber dann kommen sie ihm, so sicher, wie es Heitsi-Eibib gibt, auch diesmal auf die Schliche und fragen nach der fehlenden Quitte.

      Mit Tränen in den Augen erklärt er der Frau, was alles für Vorkehrungen er mit dem Verstecken des Briefes getroffen hat. Bestimmt hat Gaunab, so erklärt er, den Brief mit einem Fluch belegt, um ihn zu verderben. Zu seinem Erstaunen bricht die weiße Frau in Lachen aus, bis auch ihr Tränen über die Wangen rinnen.

      »Jetzt hör mal gut zu, Kupido«, setzt sie an, und er merkt an ihrer Stimme, dass er diesmal nicht ausgepeitscht werden wird. »Nicht der Brief hat dich ausspioniert. Aber beim letzten Mal hat deine Madam geschrieben, dass sie dich mit zwölf Granatäpfeln, und heute, dass sie dich mit zwanzig Quitten losgeschickt hat.«

      »Aber der Brief ist doch stumm«, wendet er ein. »Er hat keinen Mund, er kann nicht sprechen.«

      »Nein, Mund hat er keinen. Aber ich werde dir zeigen, auf welche Weise er spricht. Hör gut zu.« Und langsam und deutlich, Wort für Wort liest sie ihm vor, was der Brief sagt.

      Kupido versteht das immer noch nicht so recht. Er weiß nur, das ist etwas, das größer ist als er. Auf


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