RAG MEN. Rocky Alexander

RAG MEN - Rocky Alexander


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13 Punkte auf der Karte gewesen, sieben für Los Angeles und zwei für San Francisco sowie je einer über den Städten Seattle, Las Vegas und Chicago. Jetzt – nur drei Wochen später – konnte man sie gar nicht mehr zählen. Rote Anhäufungen in fast allen Bundesstaaten und am dichtesten an der Westküste. Nord- und Süddakota sowie ein paar der kleineren Neuengland-Staaten waren bislang verschont geblieben, doch Ross glaubte nicht, dass dies noch lange so bleiben würde. Das Virus verbreitete sich wie ein Lauffeuer bei heißem Sommerwind, und anscheinend konnte niemand irgendetwas unternehmen, um es aufzuhalten.

      Er bewegte den Cursor über die Karte und zoomte den zentralen Bereich des Staates Washington heran. Es erleichterte ihn, dass Wenatchee und das Umland sauber waren – zumindest fürs Erste, denn die Lage änderte sich andauernd. Er spielte mit dem Gedanken, seinen Van mit Lebensmitteln vollzuladen und die Stadt zu verlassen, um die Sache an einem abgeschiedenen Ort auszusitzen, konnte sich aber nicht so recht vorstellen, wo dieser sein mochte. Wohin sollte man sich zurückziehen, wenn die ganze Welt vor die Hunde ging? Sein Onkel Charlie besaß eine Sommerhütte an einem kleinen Angelsee in der Nähe von Eatonville, 300 Kilometer weiter westlich, doch dorthin zu gelangen, erwies sich womöglich als Herausforderung. Die Strecke führte über die Cascade Mountains und durch die Vororte von Seattle – eine Stadt, die man momentan mit der Hölle gleichsetzen konnte. Auch falls er sich dazu durchrang, dieses Wagnis einzugehen, blieben die Zu- und Ausfahrten in diesem Bereich unter Ausnahme des notwendigsten Verkehrs abgesperrt.

      Sich nicht vom Fleck zu rühren war vermutlich das Beste. Im Lager des Studios standen kistenweise Wasser und isotonische Getränke, Proteinpulver und Energieriegel, im Erdgeschoss ein Kühlschrank voller Sojamilch und Tiefkühlwurst im Gefrierfach sowie eine Palette Thunfisch obendrauf. Zu Hause hatte er ebenfalls noch Vorräte, obwohl er nicht beabsichtigte, dort zu bleiben, weil es ihn an sie erinnerte. Er nahm sich vor, seiner Waffe wegen zurückzukehren und zusammenzupacken, was er vielleicht sonst noch brauchte, bevor er wieder herfuhr und abwartete, wie sich die Situation entwickeln würde. Das Schlimmste, was ihm passieren konnte, war zu sterben. Doch als Problem erachtete er dies beileibe nicht; ein wenig Glück, und er brauchte sich nicht selbst zu richten.

      Ross legte sich aufs Sofa im hinteren Teil des Büros, zog sich eine dicke Decke unters Kinn und schloss die Augen. Bald sank er in einen tiefen, tröstlichen Schlaf. Er träumte von ihr und weinte – jedenfalls in diesem Traum.

      2

      Rooster stand auf der Terrasse des ebenerdigen Bungalows im Craftsman-Stil auf der 57th Avenue im Bezirk Rainier Beach von Seattle. Während der Monate, die seit seinem letzten Besuch hier vergangen waren, hatte sich überhaupt nichts verändert: derselbe größer werdende Haufen Zigarettenstummel am Fuß der Treppenstufen, dieselbe verblasste, von den Wänden abblätternde Farbe, unter der sich altersgraues Holz zeigte, derselbe verdammte Müll im Vorgarten. Nachdem er seine noch glühende Marlboro auf den Haufen geschnippt hatte, klopfte er an.

      Ein Schwarzer, den er als ungefähr so groß wie King Kong empfand, öffnete die Tür.

      »Was wollen Sie?«

      »Ich möchte Timbo sprechen.«

      »Wer sind Sie überhaupt?«

      »Rooster.«

      »Rooster? Was ist das denn bitte für ein Name?«

      »Sagen Sie ihm einfach Bescheid.«

      Kong musterte ihn argwöhnisch, ehe er die Tür wieder zumachte. Wenige Sekunden später jedoch kam er zurück und ließ Rooster hinein.

      Im Haus roch es, als sei ewig nicht gelüftet worden, dazu nach Marihuana, Methamphetamin und Frito-Chips. An die Fensterrahmen im Wohnzimmer hatte man mehr schlecht als recht Decken getackert, in den Wänden klafften faustgroße Löcher, teils behelfsmäßig repariert und überstrichen mit Farbe, die nicht zum ursprünglichen Ton passte. Das Wasser in einem Aquarium in der Ecke war so schmutzig, dass sich Rooster nicht vorstellen konnte, etwas darin lebe noch, und auf einem Fernsehtisch vor dem nicht benutzten Kamin stand ein 42-Zoll-LCD-Monitor, der nur ein blaues Bild zeigte. Auf dem fleckigen Teppichboden lagen überall Essensverpackungen, Bierdosen und weiß Gott was sonst.

      Timbo saß in einem orangen Lehnsessel gegenüber einer Sofagarnitur, die rings um einen großen Couchtisch in der Mitte des Zimmers stand. Seinen Bademantel aus rot-weißem Flanell hatte er nicht zugebunden, weshalb man sein dreckiges, ehemals weißes T-Shirt und schwarze Shorts darunter sah. Auf dem Sofa hatten drei dünne, tätowierte Frauen Platz genommen. Rooster kannte Christie und Timbos Frau Susan, allerdings nicht die Schwarze mit den blondgefärbten Dreadlocks. Sie musste zu King Kong gehören, wie er annahm. Zwischen ihr und Christie hockte ein Langhaariger mit aberwitzig buschigen Koteletten. Er war ihm ebenfalls ein Begriff: Mark Rogers, einer der intelligentesten Menschen, die er je kennengelernt hatte, zugleich durchgeknallt, von Selbsthass zerfressen und ein drogenabhängiger Einsiedler. Rooster konnte ihn nicht ausstehen.

      »Hey, Rooster!«, grüßte Timbo, ohne aufzustehen. »Hätte nicht vor dem Sommer oder so wieder mit dir gerechnet, falls überhaupt.«

      »Einige von uns, die nur kurze Haftstrafen abbüßen, lassen sie früh wieder raus, um Platz für die Randalierer zu schaffen.«

      »Na dann kannst du ja von Glück reden! Schätze, es gibt immer noch Lichtblicke. Freut mich, dich zu sehen.« Er wandte sich an King Kong: »Jamel, sei so gut und hol Rooster was zum Sitzen aus der Küche, ja?«

      Der Mann grunzte, trottete hinaus und brachte einen Stuhl mit rissigem Polsterbezug aus rotem Vinyl, den er neben das Sofa stellte, wo die Frau mit den Dreads saß. Nachdem sich Rooster allen vorgestellt hatte, hob Timbo eine aufgeschlagene Zeitschrift vom Tisch, unter der eine Glaspfeife und ein Beutel mit feinen Meth-Kristallen lagen. Erstere und ein Zigarettenanzünder gab er seinem Gast. »Probiere mal.«

      Rooster nahm die Pfeife entgegen und zog daran. Er genoss die Wärme, die sich umgehend vom Hals über die Schultern ausbreitete und auch seine Kopfhaut kribbeln ließ. Oh Mann, das tut gut. Die anschließende Euphorie war derart eindrücklich, dass er, wenn er die Augen schloss, das Gefühl hatte, der leiseste Windzug könne den Geist von seinem matten Körper befreien und an einen weit entlegenen Ort, in ein verzückendes Arkadien tragen. Er bezweifelte, es gebe irgendeine schönere Empfindung als diese. Timbo bot ihm an, noch einmal zu ziehen, was er dann auch tat.

      »Wann bist du rausgekommen, Rooster?«, fragte Susan.

      »Um zehn, gestern Morgen«, antwortete er beim Ausatmen des übelriechenden, chemischen Rauchs. »Die haben mir nicht mal vorher Bescheid gesagt, dass sie mich freilassen, sondern kamen einfach zur Tür rein und meinten, ich solle meine Sachen packen und so. Eine Stunde später ging ich die Straße hinunter.«

      »Gott, Alter«, stöhnte Mark. »Die haben dich einfach so mitten in dieser Anarchie ausgesetzt? Hätten dir wenigstens ein Taxi spendieren können.«

      Rooster nahm ein Päckchen Zigaretten aus seiner Jackentasche und tippte mit der flachen Hand dagegen. »Im Moment kriegst du nirgends mehr ein Taxi, und genaugenommen fährt so gut wie niemand mehr westlich der Interstate 5 herum; jedenfalls hab ich bisher kein Schwein gesehen. Viele Straßen wurden von Soldaten oder Cops abgesperrt, und die anderen stehen voller Wracks und Trümmer, ganz zu schweigen von den angepissten Leuten, die aussehen, als wollten sie dich kaltmachen, nur um herauszufinden, welche Farbe dein Blut hat.« Er steckte sich die nächste Marlboro an und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Und ihr spielt hier Verstecken, oder wie?«

      »Ja, wir verlassen das Haus selten«, bestätigte Timbo. »Was wir brauchen, beschränkt sich ja eigentlich nur auf Stoff, Zigaretten und ein bisschen Futter. Wenn wir sparsam damit umgehen, haben wir genug, um es eine Weile hier auszuhalten. Wenn uns die Vorräte ausgehen … na ja, dann müssen wir eben schauen, wo wir bleiben. So läuft es ohnehin auf der Welt, in der wir jetzt leben, Rooster: Jeder ist sich selbst der Nächste. Durch die Gegend zu ziehen bedeutet, sich womöglich was einzufangen, und Mann, ich hab die Bilder, die ganzen Videos gesehen. Wenn ich eines nicht will, dann so enden. Es ist angeblich wie die Tollwut: Man kriegt Schaum vor den Mund, frisst sich selbst die Finger ab und wird völlig bescheuert. Gerade neulich gab es diesen Typen in Spokane, der auf einen Busbahnhof kam – wohlgemerkt


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