RAG MEN. Rocky Alexander
einen großen Müllsack schnappte und mit Nahrungsmitteln von den Küchenregalen und mehreren Halbliterflaschen Pepsi aus dem Kühlschrank füllte. Nachdem er alles zusammengetragen hatte, was in den Sack passte, zog er seine Jacke an und stopfte deren Taschen mit weiteren Lebensmitteln voll. Zuletzt ging er ins Wohnzimmer zurück und tastete die Leichen ab. Bis er sie ausgenommen hatte, vergingen ein paar Minuten, doch der Aufwand wurde mit weiteren 27 Dollar in Scheinen und Jamels Autoschlüsseln belohnt. Ein rot gefärbter Hasenfuß baumelte daran. So viel zu deinem Glück, dachte Rooster.
Er legte den Sack, den Kissenbezug und die Flinte in der Diele ab, ehe er hinausging und nachsah, wie voll die Tanks der Fahrzeuge noch waren. Beim Öffnen schlug die Tür gegen Jamels angeschwollenen, blutüberströmten Kopf, aber Rooster konnte sie weit genug aufziehen, um seinen hochaufgeschossenen Körper ohne allzu große Mühe hindurchzuzwängen. Die Tankanzeige von Timbos Jeep Cherokee stand knapp unter einem Viertel, was wahrscheinlich ausreichte, um Rooster zu seinem gewünschten Ziel zu bringen, doch weil Treibstoff in diesen Tagen rasch zu einem seltenen und wertvollen Gut wurde, hätte er Jamels Impala ungern zurückgelassen, falls dessen Tank voll war. Als er feststellte, dass die Nadel ebenfalls nur ein Viertel anzeigte, war er milde enttäuscht. Wenn es an der Zeit zum Aufbrechen war, so entschied er, würde er den Jeep nehmen. Was oder wen er auf dem Weg zu seinem Bestimmungsort überfahren musste, konnte er nicht voraussehen, doch in jedem Fall war dieser Wagen besser dazu geeignet.
Er schaute auf seine Uhr: Neun Minuten vor zwei. Die im gesamten Gebiet geltende Ausgangssperre galt von Sonnenuntergang bis zum Morgengrauen. Jeden, der nachts auf den Straßen ertappt wurde, nahm man fest – oder stellte Schlimmeres mit ihm an. Gerüchten zufolge führten Soldaten und Polizeibeamte Hinrichtungen durch. Er wusste nicht, ob sie der Wahrheit entsprachen, hatte es aber bereits selbst eines Nachts riskiert und war noch nicht gewillt, es weiter auf die Spitze zu treiben. Die Sonne ging schätzungsweise um 07:30 Uhr auf, also in etwa fünfeinhalb Stunden. Dann kann ich es mir genauso gut noch eine Weile gemütlich machen, fand er, kehrte ins Haus zurück, schloss die Eingangstür ab und wartete darauf, dass es hell wurde.
4
Der kleine Junge steht mit seinem Stiefvater in der Schlange. Er ist acht Jahre alt und kann es kaum erwarten, seine zweite Baseball-Saison in der Little League anzutreten. Er hat im Laufe des letzten Jahres hart trainiert, um sich zu verbessern, und möchte unbedingt jedermann zeigen, wie viel dabei herausgekommen ist. Seine Mutter betet ihm ständig vor, er könne, wenn er weiter an sich arbeitet, sogar gut genug werden, um irgendwann einmal mit den Profis zu spielen. Er glaubt ihr, weil er weiß, dass sie ihn liebt und ihn niemals belügen würde. »Ja, Mom, ich werde eines Tages zu den Profis gehören«, sagt er zu ihr. »Ich weiß, dass ich werden kann, was ich will, wenn ich gute Noten schreibe und mich anstrenge, nicht wahr?« »Richtig, mein Sohn, ganz richtig.«
Sie kommen nur langsam voran, weshalb Lyle, sein Stiefvater, ungeduldig wird. Er fängt an, leise vor sich hin zu fluchen. Der kleine Junge betet, Gott möge Bewegung in die Schlange bringen, bevor Lyle ausfallend wird, doch mehrere Minuten vergehen, und die Anmeldung sieht immer noch unheimlich weit entfernt aus. Einige der anderen Eltern unterhalten sich und lachen miteinander, wohingegen Lyle auf der Stelle trippelt, sich über die Stirn fährt und so leise mit sich selbst spricht, dass der Knabe nicht versteht, was er sagt. Letzten Endes packt der Erwachsene ihn am Arm und kündigt an, dass sie aufbrechen werden. Der Kleine möchte aber nicht gehen. Falls sie das tun, ohne die Formulare auszufüllen, darf er nicht in der Little League spielen, was Lyle aber egal ist. »Du kannst nächstes Jahr mitmachen«, behauptet er.
Der Junge weint, während der Stiefvater ihn nach draußen auf den Parkplatz schleift. Überall stehen Leute, und ihm fallen ein paar seiner Klassenkameraden auf, die auf dem Gehweg Fangen spielen. Einer von ihnen fragt, ob er sich für die Little League eingetragen hat, und als er verneint, dreht er den Kopf zur Seite, um seine Tränen zu verbergen. Er bettelt Lyle an, nur noch ein bisschen länger zu warten; doch der Mann hört ihm nicht zu. Dem Knaben ist klar, dass seine Mutter, wäre er mit ihr hier, so lange ausharren würde, wie es sein muss, aber leider ist sie nicht da, und er sehnt sich nach der Zeit zurück, als er noch keinen Stiefvater hatte – früher, als alles besser war.
»Ich hasse dich«, bekennt er. Lyle schlägt ihm vor allen Augen mit der Faust gegen die Wange, was den Jungen benommen macht, und das einzige, was ihn am Zusammenbrechen hindert, ist die schmerzhaft zudrückende Hand des Mannes an seinem Arm. Er schaut sich unter all den glotzenden Gesichtern um und fragt sich, warum keiner der Erwachsenen hilft. Einige tun so, als bekämen sie nichts mit, aber der Kleine erkennt anhand ihrer Mienen, wie unangenehm es ihnen ist. Er lässt beschämt den Kopf hängen, während Lyle ihn zum Wagen zerrt. »Sag nie wieder, dass du mich hasst«, droht er mit zusammengebissenen Zähnen.
Auf dem Nachhauseweg herrscht vollkommenes Schweigen. Als er ins Haus läuft, fragt seine Mom, warum er weint. Er schildert ihr, was geschehen ist, und bemerkt dabei, wie rot sie vor Zorn wird. »Keine Bange, ich fahre mit dir zurück und melde dich für die Little League an.« Sie tut es wirklich, und der Junge ist ganz hingerissen, doch als sie wieder daheim ankommen, fängt Lyle sie auf dem Hausflur ab und schlägt seiner Mutter ins Gesicht. Als sie zu Boden geht, tritt er wieder und wieder auf sie ein, während sie schreit. Zuletzt zieht er sie hoch und versetzt ihr einen weiteren Fausthieb. Blut rinnt von ihrem Kinn, während Lyle sie dafür verantwortlich macht, dass er ihr dies antun muss. Der Junge schaut abseits dastehend zu und wünscht sich, er könne seiner Mom helfen, weiß aber zugleich, dass er bei dem Versuch, sich einzumischen, ebenso verdroschen wird. Er schließt die Augen, hält sich die Ohren zu und träumt vom Baseballspielen in der Little League.
***
Ross fuhr aus einem Albtraum hoch, in welchem er über das aufgesprungene Pflaster einer Straße in einer längst verlassenen Stadt am Fuß eines Gebirges gegangen war, während sich Dutzende von geisterhaften Armen durch die Fenster zerfallener Gebäude zu beiden Seiten des Wegs nach ihm ausgestreckt hatten.
Rums! Das Geräusch rührte von dem großen Panoramafenster neben dem Sofa her, auf dem er schweißgebadet trotz der Kälte lag. Es stand im rechten Winkel zu der Wand, und nachdem sich der Knall noch zweimal wiederholt hatte, zwang sich Ross zum Aufstehen, weil er wissen wollte, was los war. Er glaubte, jemand habe irgendetwas hoch gegen das Fenster im Obergeschoss geworfen, um ihn aufmerksam zu machen, sah aber dann, dass es sich um einen Vogel handelte – einen kleinen braunen Spatz, der mit dem Kopf gegen eine der Scheiben flog.
Rums!
»Hau ab!«, rief Ross heiser. »Es ist zu früh für diesen Scheiß.«
Rums! Abermals prallte das Tier vom Fenster ab und hinterließ einen Blutfleck. Ross beobachtete verwirrt, wie die kleine Kreatur weiterhin alle paar Sekunden gegen dieselbe Stelle am Glas schlug und jedes Mal mehr Blut, mehr glibberige Masse zurückließ, bis sie außer Sicht abstürzte und nicht mehr wiederkehrte. Einen Moment lang fragte sich Ross, was um alles in der Welt dort draußen den Vogel dazu bewog, so dringlich zu versuchen, ins Gebäude zu gelangen, dann glaubte er, die Antwort wohl zu kennen: Es ist das verdammte Ende der Welt.
Er biss von einem Protein-Schokoriegel ab, der annähernd so hart war wie ein Backstein, während er die Treppe hinunter in die Trainingshalle ging. Gewohnheitsmäßig schnappte er sich einen Kehrbesen aus dem Putzschrank und fing an, die 2.000 Quadratmeter Betonboden des Raumes zu fegen, besann sich dann jedoch eines Besseren. Der Club war seit einer Woche geschlossen, und wie lange es dauern würde, bis Ross ihn wieder öffnen konnte – falls überhaupt – ließ sich nicht abschätzen. Niemand außer ihm selbst machte sich einen Kopf über Staub am Boden.
Er stellte den Besen beiseite und nahm ein Springseil sowie je ein Paar schwarze Bandagen und schwarz-weiße Grant-Boxhandschuhe aus seinem Spind im Duschraum. Nachdem er letztere mit dem Seil auf eine Bank zum Gewichtheben gelegt hatte, verband er sich die Hände, stellte eine Stoppuhr auf drei Minuten ein und begann sein tägliches Trainingsritual. Obwohl er vor über sechs Jahren zum letzten Mal professionell geboxt hatte, waren solche Work-outs schon seit seiner Zeit als Teenager eine Konstante in seinem Leben – genaugenommen die einzige überhaupt, zumindest bis er Monica kennengelernt hatte.
Er wusste noch genau, wie es war, als er sie vor acht Jahren zum ersten Mal gesehen hatte. Damals trainierte