RAG MEN. Rocky Alexander
Eines Abends war sie hereingekommen, um sich für ein paar Boxstunden anzumelden, die ihr Cam zu einem unschlagbaren Preis anbot. Er hatte sich ständig beschwert, nicht genügend Frauen im Verein zu haben, und eine hübschere Person als Monika war noch nie durch die Eingangstür gekommen. Allein ihr Aussehen zog gewiss mehr männliche Mitglieder an, und sie versprach, ihre Freundinnen zu ermutigen, es ebenfalls einmal zu versuchen. Ross hatte nicht erwartet, dass sie weitere Frauen mitbringen würde, doch nach ein paar Tagen erkannte er stets, wenn sie zugegen war, weil fast jeder der anwesenden Kerle sie umschwärmte wie Bienen eine Honigwabe. Ross selbst, ein üblicherweise sehr fokussierter und disziplinierter Mensch, ließ sich einmal von ihr ablenken, während er gegen einen schlagfertigen Profi aus einem anderen Club antrat. Im Nu schlug ihn ihr Anblick in den Bann, als sie etwa drei Meter neben dem Ring auf einen Sandsack einschlug. Sie hatte ihr blondes Haar zum Pferdeschwanz zusammengebunden, sodass man die sexy Linien ihres Halses sah, und ihre strahlend blauen Augen funkelten vor Entschlossenheit, die helle Haut glänzend vor Schweiß …
Dann war alles schwarz geworden.
Ross hatte den linken Haken nicht gespürt, der sein Kinn erschütterte, genauso wenig wie den Aufprall seines Schädels am Boden des Rings. Nur die Stimme von Big Al, seinem Coach, hörte er, der schrie: »Was machst du da, verdammt nochmal, du Trottel? Sieh zu, dass du den Arsch von der Matte kriegst und dich auf die Siegesprämie konzentrierst!« Dies war einer von Big Als Lieblingssprüchen – die Siegesprämie im Auge zu behalten, aber Monica war viel begehrenswerter, weshalb Ross den Blick nicht von ihr abwenden konnte. Mit der Zeit bemerkte er mit Freude, dass auch sie ihn immer wieder beäugte.
Irgendwann ging er dazu über, ihr Lektionen im Boxen zu erteilen, eine Gelegenheit für die beiden, sich besser kennenzulernen. Wie sich herausstellte, war sie genauso intelligent wie hübsch, hatte ein abgeschlossenes Masterstudium in Psychologie und arbeitete an der Universität von Washington auf einen Doktortitel hin. Es dauerte nicht lange, da ging Ross mit ihr aus. 20 Monate später, nachdem Monica ihr Programm an der Universität abgeschlossen hatte, heirateten sie. Zur gleichen Zeit zog sich Ross, damals 35 Jahre alt, aus dem Profisport zurück, weil er mit seinen Knieproblemen nicht mehr boxen wollte. Sie zogen nach Wenatchee, um der Hektik Seattles zu entkommen, und Ross eröffnete einen eigenen Club, während Monica eine Stelle im Reha-Zentrum des Valley Hospital annahm. Die folgenden sechs Jahre verliefen so wunderbar, wie es sich Ross nicht im Traum vorgestellt hätte, doch dann änderte sich alles in einem einzigen Augenblick mit jenem Telefonanruf vor sieben Tagen.
Jetzt stand er auf dem kalten Betonboden und versuchte, nicht in Selbstmitleid zu ertrinken. Leiden war ihm nicht fremd, doch Monicas Tod überstieg alles, was er zu verkraften in der Lage war. Mit ihr waren seine Träume und Vorstellungen für die Zukunft gestorben. Jetzt fand er sich allein in einem turbulenten Chaos voller Unwägbarkeiten wieder und betrachtete das schiere Dasein als Marter. Was bist du?, drängte eine Stimme tief in seinem Unterbewusstsein. Diese Frage stellte er selbst für gewöhnlich den Boxern, die er betreute, wenn er bemerkte, dass das Feuer in ihren Augen erlosch. »Ich bin ein echter Fighter, Mann«, gab er sich selbst laut zur Antwort. Allerdings fühlte er sich nicht so, sondern eher wie ein Verlierer, der auf einer Bahre aus dem Ring getragen wird.
Seine Gedanken wanderten zu der Epidemie, die gegenwärtig die gesamte Menschheit in Dunkelheit tauchte. Er versuchte sich vorzustellen, wie es sei, wenn man sich infiziert hatte. Die Sprecher aller Nachrichtensender verglichen die ersten Symptome grob mit jenen der Grippe, doch Kranke wurden innerhalb von drei bis vier Tagen rasend vor Wahnsinn und starben. Er dachte wieder an den Spatz am Fenster. Konnten Vögel das Virus übertragen? Vielleicht waren sie sogar für den Ausbruch verantwortlich – irgendeine Vogelgrippe, die zu einem Supervirus mutiert war und sich nun daran machte, die Bevölkerung zu dezimieren, bis niemand mehr lebte, den es infizieren und töten konnte. Die Wissenschaft hielt dies für ausgeschlossen, aber Ross war überzeugt davon, dass niemand wirklich Bescheid wusste.
Er schaltete das Radio ein, das auf einem Regal in der Nähe der Tür zur Servicetheke im Empfangsbereich stand. Die gesichtslose Stimme des Live-Ansagers dröhnte aus allen Wandlautsprechern im Gebäude: »Das Heimatschutzministerium dementiert Vorwürfe, denen zufolge die Sperrung aller Video-Webseiten, Filesharing-Plattformen und Sozialen Netzwerke einen Versuch darstelle, Informationen und freie Meinungsäußerung zu zensieren, denn die Maßnahme sei in Wirklichkeit ergriffen worden, um die für wichtige Dienste wesentliche Nutzbandbreite zu erhöhen. Im Rahmen einer Pressekonferenz im Laufe des Nachmittags wird sich der Präsident in einer Ansprache zu diesem Problem äußern. Zu den Lokalnachrichten: Ein Polizist in Wenatchee erschoss heute einen Mann, der ihn laut eigener Aussage auf dem Wohnwagenstellplatz Shady Groves in der Crawford Avenue angegriffen hatte. Gemäß Präsidiumssprecher Cheryl Rodriguez habe der Beamte früh am Morgen einen seltsamen Anruf erhalten, als er von jemandem angefallen und niedergerungen worden sei. Während der Auseinandersetzung soll er seine Waffe gezogen und mehrmals auf den Mann geschossen haben, der daraufhin noch vor Ort starb. Der Beamte wurde ins Valley Hospital befördert, doch über seine Verletzungen ist nichts bekannt. Rodriguez versichert, die Ermittlungen in diesem Fall liefen bereits, und bislang könne von Verschulden des Beamten keinerlei Rede sein.«
Die Stimme des Moderators hätte beim Vorlesen der Speisekarte eines Fastfood-Restaurants nicht emotionsloser klingen können, als er sich Berichten über Nahrungs- und Kraftstoffknappheit sowie der erhöhten Rate von Verbrechen und zivilen Unruhen widmete. Ferner gab er die Bitte des Bürgermeisters an die Bevölkerung vor Ort weiter, sich zusammenzureißen und einander zu helfen in dieser unvorhergesehen, aber bald überwundenen Krise.
Ross hörte zu, bis er es nicht mehr ertragen konnte. Dann schob er eine CD in den Player und betäubte seinen Kummer mit den treibenden Industrial-Rhythmen von Caustics ›White Knuckle Head Fuck‹, doch auch trotz der kraftvollen Musik, die durch die Wandboxen polterte, wirkte der Club unheimlich ruhig. Ross vermisste die lärmige Geräuschkulisse eines vollen Hauses: 20 bis 30 Paar Boxhandschuhe, die gegen pendelnde Ledersäcke klatschten; das Knirschen der Holzbohlen, wenn die Kämpfer über den Boden des Rings schlurften oder rutschten, der in der Mitte der geräumigen Halle stand; der Stakkato-Rhythmus von Boxbällen, die auf ihren Platten aus Kunstharz federten; das Klappern von Eisengewichten und verchromten Langhanteln; das Grunzen, Ächzen und Schnaufen von Männern, Frauen und Jugendlichen jeglicher Couleur mit jeweils unterschiedlichen, einzigartigen Beweggründen, die sich zu einer kollektiven Symphonie der Träume verdichtete. An solchen Tagen war die Musik bloß Hintergrundrauschen, egal in welcher Lautstärke.
Nach einer halben Stunde Training hörte Ross jemanden an die Eingangstür klopfen. Er zog seine Handschuhe aus, drehte die Musik leiser und ging in den vorderen Bereich des Gebäudes. Durch das Schaufenster am Empfang sah er, dass neben seinem Van ein dunkelblaues Polizeiauto parkte. Der Beamte an der Tür trug einen weißen Mundschutz und winkte, als er Ross durch die Scheibe erblickte.
»Guten Morgen, Coach«, grüßte er, nachdem ihm geöffnet worden war.
Auch mit der Gesichtsmaske ließ sich seine Stimme eindeutig identifizieren: Es war Mickey Rivera, ein Amateurboxer und schon seit fast zwei Jahren Kunde im Club, der bei einigen von Ross ausgerichteten Turnieren als Sicherheitsmann gearbeitet hatte. Mickey gehörte der Polizei Wenatchee seit fünf Jahren an, seit kurzem auch dem Sondereinsatzkommando des County.
»Was machst du mit diesem BH-Körbchen vorm Gesicht, Mann?«, fragte Ross. »Weißt du nicht, dass sich das Virus auch durch die Augenschleimhäute überträgt?«
Mickey kicherte. »Ich bin mir nicht sicher, ob irgendjemand das faktisch bestätigen kann, aber wie dem auch sei: Die Maske dient eher deinem Schutz als meinem.«
Ross ließ diese Bemerkung ein paar Sekunden auf sich wirken, ehe er fortfuhr: »Bist du krank?«
»Kein bisschen, im Gegenteil. Fit wie ein Turnschuh.«
»Dann nimm das beknackte Ding ab.«
Mickey zog den Mundschutz bis ans Kinn herunter und schenkte Ross ein breites Lächeln. »Wir haben uns eine ganze Weile nicht gesehen, Coach. Als ich deine Kiste vor dem Studio sah, dachte ich: Schau doch mal bei ihm vorbei. Wie geht’s dir?«
»Hab definitiv schon bessere Zeiten erlebt«, antwortete Ross. Er bat Mickey herein und