RAG MEN. Rocky Alexander

RAG MEN - Rocky Alexander


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»Ich glaube nicht, dass sie daheim ist, Dre.«

      Kaum dass er zurückgetreten war, fing es im Haus zu poltern an, und zwar in schnellem Rhythmus – schwere Schritte auf dem Fußboden, als trample ein Ochse über den Flur. Dabei vibrierten die Fensterscheiben. Ross zuckte erschrocken zusammen, als sich Miss Wallace gegen das Glas warf und mit blutigen Fingerspitzen daran kratzte, sodass rote Streifen auf der Innenseite zurückblieben.

      Ihre Lippen sahen aus wie mit weißem Puder verklebt, blutverschmiert und gespickt mit Holzsplittern. Das Fleisch in ihrem Mund war schwarz, einige Zähne fehlten, die übrigen waren angesprungen beziehungsweise abgebrochen. Ihre dunkle Haut wirkte rings um die Augen noch dunkler – Augen, die aus den Höhlen hervorstanden und Ross derart eindringlich anstarrten, dass ihm die kalte Winterluft noch eisiger vorkam. Die Frau schnappte ein paarmal mit dem Mund nach dem Glas und stieß dann einen animalischen Schrei aus, der immer schriller und lauter wurde, sodass Ross glaubte, er müsse den Verstand verlieren. Dabei nahm er nur am Rande wahr, dass Andre hektisch am Türknauf zog, augenscheinlich nicht wissend, dass sie nach innen aufging, und Worte schrie, die für Ross aufgrund seiner Verwirrung genauso gut aus einer Fremdsprache hätten stammen können. Miss Wallaces unmenschlicher Schrei erstarb abrupt in Würgelauten und einem Gurgeln, sie spuckte einen Schwall Blut aus.

      Ross stolperte einige Schritte rücklings. Er rief zu Andre, der nun gegen die Tür trat: »Stopp, warte!« Seine Worte wurden jedoch nicht erhört. Sie ist krank. Scheiße, scheiße, sie hat das Virus.

      Da zerbrach die Scheibe und Miss Wallace streckte die Arme hindurch nach Ross aus wie eine Ertrinkende, die um Hilfe bat, doch ihre Hände griffen ins Leere. Ein weiterer markerschütternder Schrei.

      Ross sah Andre zum Fenster treten. Er wollte seiner Mutter helfen, und als sie sich ihm zukehrte, hörte ihr Schreien auf. Einen Augenblick lang herrschte schaurige Stille, doch als der Junge seine Hand behutsam auf den Unterarm seiner Mutter legte, entstieg ein tiefes, kehliges Knurren ihrem Hals, und sie erging sich abermals in abscheulichem Geschrei. Miss Wallace packte das Handgelenk ihres Sohnes und zerrte kräftig daran. Gleichzeitig schlug sie mit dem Kopf durch die hölzerne Fenstersprosse, um Andre mit ihren schartigen Zähnen zu beißen.

      Ross stürzte vorwärts, schlang die Arme um den Jungen und riss ihn aus der Umklammerung seiner Mutter. Andre wehrte sich, aber Ross war stark und schwerer als er. Er zog ihn fort, warf ihn auf dem Rasen nieder und befahl ihm, liegenzubleiben.

      »Deine Mom ist krank; ich rufe einen Arzt.« Händeringend suchte er in den Taschen seiner Jacke nach seinem Handy, bis ihm einfiel, dass er es im Van liegengelassen hatte. »Rühr dich nicht vom Fleck, Dre, ich hole schnell mein Telefon. Wir rufen gleich Hilfe.« Andre stand auf, machte aber keinerlei Anstalten, sich fortzubewegen.

      Ross schnappte sich das Handy von der Ablage, wählte die Notrufnummer und erklärte dem Bediensteten am anderen Ende der Leitung die Situation, während er im Laderaum nach dem Verbandskasten suchte. Ihm fiel ein Paket Desinfektionsmittel in die Hände, aus dessen Plastikhülle er eine Sprühflasche entfernte und sie rasch zusammen mit einem Badetuch zu Andre brachte. Dort stellte er fest, dass Miss Wallace vom Fenster verschwunden war. Er hörte sie an die Haustür hämmern und am Holz kratzen, während er Andre Spray und Tuch zuwarf, damit er sich damit abrieb. In der Ferne heulten Polizeisirenen. Der Typ vom Rettungsdienst wies ihn an, nicht aufzulegen, bis seine Kollegen eintrafen.

      Ross stand auf dem Rasen, unterhielt sich mit dem Mann am Telefon und hörte zugleich die Schreie aus dem Haus, die sein Blut in den Adern gefrieren ließen. Dann kündigten erneut donnernde Schritte an, dass Miss Wallace nahte: Sie stürzte mit einem Satz durchs Fenster, ging in einem Schauer aus Scherben und Holz auf der Erde nieder, wo sie einen Moment liegenblieb und krampfartig sowohl mit dem Kopf als auch Armen und Beinen zuckte, als ringe sie mit dem Tod. Schließlich schaute sie mit einem Blick um sich, der auf irrsinniges Staunen hindeutete, als sei sie nicht von dieser Welt, und raffte sich schwerfällig auf. Ross ließ es voller Ehrfurcht geschehen, dass sich die alte Frau schwankenden Schrittes auf ihn zubewegte. Dann rannte sie los.

      7

      Der Knabe steht mit gespreizten Beinen hinter der gedachten Linie zwischen dem zweiten und dritten Base, während er die Abdrücke seiner Stollen im weichen, feinen Sand betrachtet. Das Licht der Flutscheinwerfer hoch oben an den Masten leuchtet so grell aufs Feld, dass er weiße Flecke sieht, wenn er direkt hineinblickt. Diese verschwinden nur langsam, aber er kann es trotzdem nicht lassen, von Zeit zu Zeit hochzuschauen. Warum, weiß er nicht. Die Tribünen sind heute Abend sehr voll; die ganze Stadt muss gekommen sein, um sich das Spiel anzusehen. Auch Lyle ist da und sitzt in einer der mittleren Reihen hinterm Schlagmal, wo die hohen Zäune zusammenlaufen. Der Junge mag ihn nicht, wünscht sich aber dennoch, dass Lyle stolz auf ihn ist, denn dann würde er sich ihm gegenüber vielleicht nicht andauernd so gemein verhalten. Vielleicht. Ach, wäre seine Mom doch bloß hier, statt in der Stahlfabrik arbeiten zu müssen … Shortstop-Spieler wollte er schon immer sein, und da er heute endlich die Gelegenheit dazu bekommt, ist es schade, dass sie nicht kommen kann, um ihn zu sehen. So schlimm findet er es aber nicht; wenn sie heimkommt, wird er ihr davon erzählen. Dann plötzlich der aufregende Knall, als der Schläger den Baseball trifft, und die Fans losjubeln. Es handelt sich um einen Line Drive, der direkt auf ihn zufliegt – schnell. Er hebt den Handschuh, um ihn zu fangen, aber wegen der hellen Flecke vor seinen Augen ist es schwierig, den Ball zu sehen. So erwischt er ihn am rechten Wangenknochen. Er fällt auf die Knie hält sich das Gesicht und strengt sich nach Kräften an, nicht in Tränen auszubrechen, die letztlich aber doch fließen. Leute rufen ihm zu, er solle sich den Ball schnappen, aber er kann nicht. Nein, er schafft es einfach nicht, denn es tut zu sehr weh. Endlich beruhigt sich das Publikum, und auf einmal ist sein Trainer da, der ihn fragt, ob alles in Ordnung sei. »Ich denke, mein ganzes Gesicht ist gebrochen«, jammert er. Dann kommt Lyle aufs Feld, obwohl der Junge glaubt, dies sei Eltern gar nicht gestattet, doch niemand versucht, ihn zurückzuhalten. Vermutlich haben sie Angst vor Lyle. Das kann der Kleine nachvollziehen, auch wenn sein Stiefvater kleiner als viele andere Männer ist. Einmal meinte jemand, er sei hinterhältig wie eine Schlange. Der Junge kennt sich nicht mit Schlangen aus, doch ihm fällt wirklich niemand ein, der so fies ist wie Lyle. »Geht es dir gut?«, will Lyle von ihm wissen. »Hab mir sehr wehgetan, ich muss bestimmt ins Krankenhaus.« Der Mann besieht sein Gesicht. »Nein, musst du nicht, das wird bloß ein kleines Veilchen. Steh auf und reiß dich zusammen.« Als der Trainer fragt, ob er weiterspielen könne, verneint der Knabe, also sagt Lyle zu ihm, er solle seine Sachen zusammenpacken und mit zum Auto kommen. Auf dem Nachhauseweg fragt er den Erwachsenen, was ein Veilchen sei, doch Lyle antworte nicht.

      Tags darauf, bevor der Junge zur Schule aufbricht, betritt Lyle sein Zimmer und gibt ihm ein abgetragenes, altes Kleid, das aussieht, als sei es einmal ein Männerhemd gewesen. Er solle es anziehen, meint der Stiefvater. »Was?« »Du hast mich genau verstanden: Zieh es an, und ich sage es nicht noch einmal. Wenn du dich anstellst wie ein Mädchen, musst du auch so herumlaufen.« Der Knabe weigert sich, da schlägt ihm Lyle auf den Mund. »Ich will, dass Mom kommt«, schluchzt er, woraufhin er noch eine Ohrfeige bekommt, diesmal fester. »Deine Mutter schläft noch. Wenn du sie weckst, wird es dir leidtun, geboren zu sein.« Der Junge tut, wie ihm befohlen, während Lyle zuschaut. Nachdem er das Kleid angezogen hat, begleitet ihn der Erwachsene die Einfahrt hinunter bis zum Gehweg und wartet mit ihm auf den Schulbus. »Bitte lass mich nicht so fahren«, heult der Junge. Lyle erwidert, er solle sein verdammtes Maul halten; nachdem er abgeholt worden ist, hören die anderen Kinder nicht mehr auf zu lachen.

      ***

      Nach dem Schuss, der Roosters Hand erzittern ließ, sackte Reggie sofort auf die Knie und kippte vornüber auf den Bürgersteig. Der mit der großen Klappe, der an den Hinterläufen des Hundes gezogen hatte, ließ los und trat ein paar Schritte zurück, wo er verharrte. Rooster richtete die Waffe sofort auf den dritten Typen, um ihn zu erschießen, bevor er sich mit seinem Proviant davonmachen konnte, doch der Armleuchter hatte die Säcke schon abgesetzt und sprintete die Straße hinunter. Überraschenderweise verlor Lotto das Interesse an Roosters Arm und lief dem Flüchtigen hinterher.

      Der Beifahrer duckte sich auf der anderen Seite des Schleppers, während sein Begleiter aufs Trittbrett sprang und wieder einsteigen wollte, dann aber innehielt, da Rooster auf ihn zielte. Er war schon im


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