RAG MEN. Rocky Alexander

RAG MEN - Rocky Alexander


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über vier Jahren einen Stein bei ihm im Brett. Damals war er 16 gewesen und ging noch zur High School. Zwar hatte er den Mitgliedsbeitrag nicht zahlen können, aber mit solchem Feuereifer boxen wollen, dass ihm Ross Stunden gab, wenn er im Gegenzug einige der lästigen Reinigungsarbeiten übernahm. Seine Ungeschicklichkeit machte ihn weder zu einem guten Boxer noch Hausmeister, doch Ross mochte sein Engagement und hatte ihn gerne um sich, obwohl Andre dazu neigte, ihm gelegentlich auf die Nerven zu fallen.

      »Also, worüber musst du nun mit mir sprechen?«, fragte Ross.

      »Ich wollte dich nur um einen Gefallen bitten.«

      »Das tust du ständig.«

      »Ich weiß, aber du hast noch nie einen abgeschlagen.«

      »Worum geht es, Dre?«

      »Ich würde gerne eine Weile bei dir bleiben.«

      »Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist, weil ich momentan erhebliche persönliche Probleme habe.«

      »Mann, die haben wir alle. In meiner Nachbarschaft hungern manche Menschen und können nicht mal ihre Babys ernähren. Niemand hat Benzin oder kann Medikamente auftreiben. Keiner arbeitet mehr, und das wenige, was noch vorhanden ist, reißt man sich gegenseitig aus der Hand. Neulich erst ist ein Freund von mir ausgenommen worden.«

      »Die Tatsache, dass jeder mit Problemen kämpft, macht meine eigenen nicht weniger schwierig, Dre. Es gibt wohl kaum jemanden, der mit mir tauschen würde. Falls du Geld, zu Essen oder sonst irgendetwas brauchst, kann ich dir helfen, aber …«

      »Hör zu, Mann, du begreifst nicht. Meine Mom hat mich zu Hause ausgesperrt, und nachdem ich bei meiner Ex und ihrer Mom untergekommen war, wollten die auch, dass ich mich verziehe. Ich weiß nicht mehr wohin, und draußen ist es kalt. Du bist wie ein Vater für mich, deshalb bitte ich dich.«

      »Aus welchem Grund setzt dich deine Mutter mitten im Winter vor die Tür? Das ergibt für mich überhaupt keinen Sinn. Du musst da was missverstehen. Ich weiß, dass du manche Dinge in den falschen Hals kriegst.«

      »Da gibt es nichts misszuverstehen: Vor ein paar Tagen schickte sie mich zum Einkaufen, aber der Laden war geschlossen, also kehrte ich nach Hause zurück. Als ich dort ankam, stand eine Tüte mit meinen Klamotten vorm Eingang. Ich versuchte, mir Zugang zu verschaffen, aber Mom kam ans Fenster und meinte, ich dürfe nicht reinkommen, sondern müsse mir was Anderes suchen.«

      »Den Grund dafür hat sie nicht genannt?«

      »Nein.«

      Ross lenkte in die Auffahrt seines Hauses ein und stellte den Motor ab.

      »Hast du seitdem noch einmal versucht, wieder daheim einzuziehen?«

      »Als ich gestern erneut hinging, kam sie gar nicht erst zur Tür.«

      »Wenn das so ist, lass mich kurz ein paar Sachen zusammenpacken; wenn ich fertig bin, fahren wir gemeinsam zu deiner Mom und schauen mal, ob sie dich nicht doch reinlässt.«

      Andre schien damit zufrieden zu sein. Ross nahm die beiden Seesäcke, die zwischen den Sitzen klemmten, und stieg aus. »Kommst du mit, oder willst du warten?«

      »Nein, nein, ich komme mit dir. Kann deiner Frau ja Hallo sagen, oder ist sie noch in England?«

      Ross kam es vor, als schnüre ihm jemand die Kehle zu. »Frankreich – sie flog nach Frankreich, Dre. Und ja, sie ist nach wie vor dort.«

      »Oh, und wann kommt sie zurück?«

      Ross biss sich auf die Unterlippe, holte tief Luft und widerstand dem Drang, sich noch vor dem Haus hinzuwerfen und wie ein Kleinkind zu heulen. Was bist du? Ich bin ein echter Fighter. »Kommst du jetzt, oder was?«, drängte er.

      Drinnen drückte Ross Andre einen der Säcke in die Hand und wies ihn an, nicht verderbliche Lebensmittel aus der Küche zusammenzutragen, während er selbst ins Schlafzimmer ging, um ein paar Kleider, seine Pistole und zwei Schachteln .38er Patronen zu holen.

      »Sag mal, willst du längere Zeit verreisen?«, fragte Andre.

      »Nein, ich bleibe vorübergehend im Studio.«

      »Hat man dich rausgeschmissen, oder was?«

      »Nein, Dre, nichts dergleichen; ich will mich momentan einfach dort aufhalten.«

      »Warum kann ich dann nicht hierbleiben? Wäre ja sonst niemand da.«

      »Weil du dich um deine Mom kümmern musst.«

      »Aber meine Mom lässt mich nicht rein.«

      »Ich erkläre dir das später, jetzt packst du brav ein paar Sachen für mich zusammen, dann verschwinden wir wieder.«

      Ross füllte seinen Seesack, hängte sich einen Stoß T-Shirts über den Arm und brachte alles nach draußen in den Van. Dann ging er wieder hinein, um Handtücher und Decken, ein wenig Angel- und Campingausrüstung, Batterien und eine Videospielkonsole zu holen, dazu ein paar Games, CDs und DVDs, einen Kanister Bleichmittel, Seife, Zahnpasta sowie andere grundlegende Bedarfsartikel. Nachdem er alles in den Kofferraum geladen hatte, bereitete er in der Küche zwei Tiefkühlfertiggerichte in der Mikrowelle zu, während Andre im Schneckentempo Konserven einsammelte.

      »Mann, dass du nicht auch noch die Spüle ausbaust, ist alles«, bemerkte der Junge.

      »Ich weiß ja nicht, wie übel es ausgeht … ob ich sechs Monate oder vielleicht ein ganzes Jahr im Studio bleiben muss, falls ich nicht sogar zum Campen in den Bergen gezwungen werde. Keine Ahnung, wie ich sterben werde, Andre, aber eines kann ich dir sagen: Ich will weder verhungern noch verdursten oder mich von einem beschissenen Virus killen lassen, das wahrscheinlich in irgendeinem Labor gezüchtet wurde. Bis infizierte Menschen hier in Wenatchee auftauchen, ist es nur eine Frage der Zeit, und wenn es soweit ist, wird alles noch viel schlimmer.« Ross schob eine Schale Spaghetti mit Fleischbällchen über die Arbeitsfläche zu Andre und reichte ihm eine Gabel. »Hier, Kumpel, iss erst mal was.«

      Sie aßen im Stehen. Danach nahm Ross ein Bettlaken aus dem Wäscheschrank und breitete es über dem Esszimmertisch aus. Die Lebensmittel, die noch in den Schränken standen, legte er in die Mitte, bevor er die vier Enden des Lakens zusammenknotete. Dann steckte er die Sachen aus dem Kühlschrank in zwei Einkaufstüten. »Das nehmen wir als Friedensangebot mit zu deiner Mom«, erklärte er Andre. »Was auch immer du angestellt hast, um sie zu verärgern, wird vergeben und vergessen sein, wenn wir mit dem Futter bei ihr aufkreuzen.«

      »Danke, Sir. Ich wusste gleich, dass dir was einfällt.«

      »Freu dich nicht zu früh; vielleicht will sie dich trotzdem nicht wieder ins Haus lassen – und nenn mich nicht Sir. Da komme ich mir vor wie ein alter Sack.«

      »Okay, Sir.«

      Bevor sie die Wohnung verließen, nahm Ross noch ein gerahmtes Foto von einem Regal im Wohnzimmer. Es zeigte ihn mit Monica an ihrem Hochzeitstag beim Händchenhalten vor einem 10 Meter hohen Wasserfall in den Cascade Mountains, er in einem cremefarbenen Anzug mit einer Calla als Ansteckblume am Revers, sie im ärmellosen, weißen Chiffon-Kleid mit einem Lächeln, das selbst kälteste Herzen erwärmt hätte. Sein Blick blieb an diesem Strahlen hängen, bis er es fast nicht mehr aushielt. Er klemmte sich den Bilderrahmen unter einen Arm und ging zur Tür hinaus.

      Sie hielten sich auf den Nebenstraßen, um vielbefahrene Strecken zu meiden – rein aus Gewohnheit, obwohl von Verkehr, den es zu umfahren galt, kaum die Rede sein konnte. Andres Mutter wohnte in einem kleinen Haus in Appleyard, gleich am südlichen Stadtrand, wo vorwiegend Menschen mit geringem Einkommen lebten. Die Fahrt dauerte weniger als zehn Minuten. Ross fuhr auf den geschotterten Parkplatz vor einer heruntergekommenen, freistehenden Garage und half Andre dabei, die Lebensmittel zur Haustür zu tragen. Er klopfte mehrmals, doch niemand öffnete. »Miss Wallace?«, rief er. »Miss Wallace, ich bin es, Coach Ross. Andre ist bei mir, und wir waren für Sie einkaufen.«

      Keine Reaktion.

      »Komm schon, Mama«, rief Andre ungeduldig. »Mach die Tür auf.«

      Ross beugte sich


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