Happy Endstadium. Jan Off
jedoch waren in unseren Planspielen nicht vorgekommen.
Was aber, wenn sie in unserem Fall beschlossen hatten, einfach auf bestehende Gesetze zu scheißen? Wenn die Nummer, die sie hier mit mir abziehen, nicht aufhört, also am Ende tatsächlich System besitzt? Abartig genug scheint das, was wir getan haben, in ihren Augen jedenfalls zu sein. Während ich mir diese Möglichkeit ausmale, kriecht mir kalte Angst den Rücken hoch – Angst vor weiteren Schlägen oder schlimmeren Grausamkeiten, aber auch die Angst davor, die anderen ans Messer zu liefern.
Frau Rösner unterbricht meine Gedanken.
»So, nun aber frisch ans Werk«, sagt sie. »Ich bin Ihre ebenso aufmerksame wie geduldige Zuhörerin.«
Sie nimmt ihre Brille ab, fördert aus den Weiten ihrer Strickjacke ein Stofftaschentuch zutage und beginnt, akribisch die Gläser zu polieren.
Unweigerlich muss ich an eine Geschichte denken, die mir Lasse mal erzählt hat. Sie spielt zu einer Zeit, in der er noch bei seinen Eltern wohnte, einem schwerreichen Architekten-Ehepaar mit einer hochmodernen, selbst entworfenen Villa in einem der wenigen Nobelvororte. Lasse hatte damals gerade sein Coming-out gehabt und war von seinen ebenso aufgeschlossenen wie verständnisvollen Erzeugern gebeten worden, ihnen seinen Boyfriend doch gelegentlich vorzustellen. Als der entsprechende Knabe dann tatsächlich vorbeikam, waren die Vorbereitungen für das gemeinsame Abendessen noch nicht abgeschlossen, also sprach nichts dagegen, sich in Lasses Zimmer ein bisschen Oralverkehr zu gönnen. Gerade als Lasse im Mund seines Freundes gekommen war, wurde von unten zu Tisch gebeten, und dorthin begaben sich die beiden Teenager dann auch. Nachdem Getränke gereicht worden waren, eröffnete Lasses Mutter den Smalltalk mit der Frage, welche Schule der Gast denn besuchen würde. Lasses Freund wollte antworten, wurde aber von einem plötzlichen Hustenreiz überwältigt, der sich zu einem Anfall heftigen Ausmaßes auswuchs, bis seiner Kehle schließlich ein Klümpchen milchig-weißen Schleims entstieg, das – von den Konvulsionen in seiner Brust befeuert – über den Tisch hinweg auf die Brillengläser der ihm direkt gegenübersitzenden Fragestellerin geschleudert wurde. Unnachahmlich, wie Lasse am Ende seiner Erzählung die Szene nachgespielt hatte, in der seine Mutter, im vergeblichen Versuch, Haltung zu bewahren, die Brille abnimmt, mit ihrer Damastserviette die Substanz, die keine zehn Minuten zuvor den Schwanz ihres Sohnes verlassen hat, von den Gläsern tupft und an den vom Husten Gepeinigten gewandt, die Aufforderung erklingen lässt, er solle nur ordentlich von den Lachsröggelchen nehmen. Die würden seiner Gesundheit gewiss gut tun.
Ich habe Lasses Mutter nie gesehen, noch nicht mal auf einer Fotografie. Umso leichter fällt es mir in diesem Moment, sie durch Frau Rösner zu ersetzen. Vor meinem inneren Auge sehe ich das Ejakulat in aller Deutlichkeit auf das zerknautschte Gesicht der Beamtin zufliegen. Und das hilft ungemein.
Als sie mir erneut nahelegt, endlich mit einem Geständnis über den Tisch zu kommen, habe ich alle Mühe, mir die Frage zu verkneifen, ob das Sperma von ihrer Sehhilfe denn nun bald entfernt sei.
Im Anschluss tritt eine Pattsituation ein. Frau Rösner poliert weiterhin die Gläser, ich schweige.
Nach einer gefühlten Ewigkeit beendet sie schließlich ihre Tätigkeit, setzt sich die Brille wieder auf und beugt sich vor.
Ich zucke instinktiv zurück, aber diesmal hat sie keine sadistischen Schweinereien im Sinn. Stattdessen tätschelt sie mir nachsichtig die Wange.
»Ein bisschen mundfaul, der Junge, hm?«, sagt sie. Und dann, mit der Strenge eines militärischen Vorgesetzten: »Hören Sie. Ich gebe Ihnen jetzt eine Stunde, damit Sie noch mal in sich gehen und Ihren kleinen Aufsatz ausformulieren können. Danach unterhalten wir uns. Verstanden?«
Ich lasse das unkommentiert.
»Soll ich Degowski wieder reinrufen, damit Sie Gesellschaft haben?«, fragt sie, nachdem sie sich vom Stuhl gequält hat.
»Wen?«, murmle ich verständnislos.
»Degowski, den charmanten Kollegen, den Sie bereits kennengelernt haben.« Sie lacht schallend, während sie auf die Tür zugeht.
»Funkelperlenaugen«
[Pur]
Endlich allein, wandern meine Gedanken augenblicklich zu Julia. Ich sehe sie in einer Zelle, ähnlich der, in der man mich hat schmoren lassen, bevor ich hierher verbracht wurde. Stelle mir vor, wie sie von kleingeistigen Wachteln, die es unter normalen Umständen schon als Gnade betrachten müssten, von ihrer verbrauchten Atemluft umweht zu werden, verlacht und gedemütigt wird. Sicher, Angst kennt sie nicht. Aber die Ohnmacht wird auch ihr zu schaffen machen. Ein Gedanke, bei dem sich mir der Magen zusammenzieht.
Ich versuche, die trostlose Sequenz durch Bilder aus glücklicheren Tagen zu ersetzen, und habe plötzlich wieder Frau Rösners so überaus angenehmes Schnurren im Ohr. »Dann fangen Sie mal ganz von vorne an«, säuselt sie, lockend wie ein Radiojingle, das zum Flatrate-Saufen einlädt. Und genau das tue ich. Ich gehe zurück auf Los und rufe noch einmal die Erinnerung an mein erstes Zusammentreffen mit Julia ab – diese eine Begegnung, die alle auf der weiteren Strecke liegenden Weichen und Signalanlagen dauerhaft außer Funktion zu setzen wusste.
Jan hatte ihren Namen irgendwann ins Spiel gebracht. Er würde demnächst umziehen, erzählte er eines Abends, während ich den Kühlschrank mit dem Bier füllte, das er mitgebracht hatte. Eine neue WG. Zwei Typen, eine Frau. Eine ganz besondere Frau. Julia. Ob ich die kennen würde …
»Nein«, antwortete ich wahrheitsgemäß, denn zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht wissen, dass mir Julia schon ein paar Mal über den Weg gelaufen war.
»Ein Zimmer wäre noch frei. Hast du nicht Lust?«
»Nur wenn mich in nächster Zeit eine Querschnittslähmung oder die Taucherkrankheit befällt«, erwiderte ich. Ich verspürte keinerlei Verlangen mehr nach Putzplänen und Einkaufslisten, war nach vier Jahren Gemeinschaftsleben in den unterschiedlichsten Konstellationen vielmehr heilfroh, endlich wieder selbst darüber entscheiden zu können, wie ich meinen Hausrat verrotten ließ.
Eine Einstellung, die so schnell über Bord ging wie ein armamputierter Ausguck bei Windstärke zwölf, als Jan zwei Wochen später in der neuen Wohnstatt einen Umtrunk gab.
Es herrschte mächtig Gedränge, und so wurde mir die Dame des Hauses nur flüchtig vorgestellt. Aber das genügte, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Denn Julia war mir bereits aufgefallen, bei Konzerten oder Demos, und noch jedes Mal hatte mir ihr Anblick den Atem geraubt. Sie besaß das stolze Gesicht einer Cäsarentochter, mit hohen Wangenknochen und klaren, hellblauen Augen, die stets durch dich hindurchzublicken schienen; dazu lange blonde Haare, die meist zum Pferdeschwanz gebunden waren. Im krassen Gegensatz zu dieser Hanseatenschleifen-Optik stand ihre Garderobe, die ziemlich martialisch daherkam: Cargohosen, Kapuzenpullover, Windbreaker, Doc Martens – selbstredend alles in Schwarz. Ein Kontrast, der für mich das Maximum an Erotik darstellte. Hier wohnte sie also. Und wer mit ihr hier wohnte, besaß das Anrecht, mit ihr zu frühstücken, in ihre Gedankenwelt einzutauchen, ihre Vorlieben und Abneigungen zu erfahren, ihr bei den alltäglichsten Verrichtungen zuzusehen, kurz: ihr nahe zu sein.
Ich wandte mich an Jan, der sich gerade mit einer Salatschüssel an mir vorbeizwängte.
»Sag mal, dieses Zimmer, von dem du letztens gesprochen hast, ist das noch zu haben?«
»Soweit ich weiß, schon«, entgegnete er.
»Gut, ich nehm’s.«
Jan lachte.
»Ist das dein Ernst?«
»Ja«, sagte ich nur und versuchte wie jemand dreinzublicken, der dringend ein Obdach braucht.
»Willst du’s dir vorher nicht wenigstens anseh’n?«
»Nicht nötig«, erwiderte ich und schwafelte irgendwas von wegen Schimmelbefall, Totalsanierung und dringendem Umzugsbedarf.
Jan bedachte mich mit einem wissenden Grinsen.
Später – ich hatte schon einigermaßen getankt – stand