Feuer und Blut. Tom Buk-Swienty
dem Offiziersanwärter Dinesen diese Worte ins Gesicht geschrien wurden, befand sich Dänemark im Grunde schon auf dem Weg in einen neuen Krieg gegen die deutschen Nachbarn im Süden. Ein erneuter Krieg wegen der »schleswigschen Frage«, der für Dänemark alles ändern sollte. Auch für den in Kürze fertig ausgebildeten Sekondeleutnant Wilhelm Dinesen, den jüngsten Offizier im Heer.
Einen Monat nach Wilhelm Dinesens Ernennung zum Sekondeleutnant und seiner Versetzung zur Ersten Kompanie des 9. Bataillons befand er sich auf dem Platz vor Schloss Christiansborg. Laut einem Augenzeugen, der nicht weit entfernt von Dinesen stand, war der Platz »schwarz von Menschen, von denen die meisten ziemlich erregt waren«. Dieser Augenzeuge war ein junger vielversprechender Student der Kopenhagener Universität namens Georg Brandes. An diesem nasskalten 16. November bot sich Brandes und Dinesen folgendes Bild: Oben auf dem Balkon des Schlosses tritt ein hochgewachsener Mann vor und ruft: »König Frederik VII. ist tot. Lang lebe König Christian IX.« Der Mann, der diese Worte ausruft, ist Ministerpräsident C.C. Hall. Hinter ihm steht eine dünne, blasse, hochaufgeschossene Gestalt mit großem, schwarzem Backenbart – der neue König. Er tritt auf den Balkon hinaus, winkt linkisch der zusammengeströmten Menge zu und verneigt sich ein paarmal. Viele der Anwesenden lassen ein unzufriedenes Grunzen hören. Einige rufen: »Es lebe die Verfassung!« Die Rufe sind an den schlaksigen, gequält dreinschauenden König gerichtet. Der Druck auf Christian IX. ist enorm. Das Volk, die Minister und die Mehrheit der Reichstagsabgeordneten möchten, dass er die sogenannte November-Verfassung unterzeichnet. Nichts widerstrebt ihm mehr. Er ist ein Mann des Gesamtstaats. Die November-Verfassung ist das Werk der nationalliberalen Politiker. Mit ihr soll ganz Schleswig dem dänischen Königreich einverleibt und Holstein von diesem abgetrennt werden. Damit würde der nationalliberale Traum von einem Dänemark bis zur Eider in Erfüllung gehen. Die Verfassung ist eine Provokation gegenüber den Schleswig-Holsteinern und dem Deutschen Bund. Sie ist auch eine Auflehnung gegen den Wunsch der Großmächte, den dänischen Gesamtstaat zu bewahren. Die November-Verfassung wird zu einem Krieg führen. Darüber sind sich in Dänemark alle im Klaren. Aber Christian IX. will keinen Krieg und kein Dänemark bis zur Eider. Er will, dass die aus dem Königreich, Schleswig und Holstein bestehende dänischdeutsche Monarchie weiterhin Bestand hat. Aber er weiß, dass es zu Anarchie und Aufruhr kommen wird, wenn er sich dem Willen des Volkes nicht fügt.
Zwei Tage später unterschreibt er.
Betrachten wir einen Moment lang Wilhelm Dinesen, der zu dem gequält wirkenden König hinaufblickt. Hier ist nichts mehr von der erwähnten Sensibilität und Schwäche Wilhelm Dinesens zu spüren. Im Gegenteil. Wir sehen die aufflammende Begeisterung in seinen Augen und das starke Selbstbewusstsein als Sohn eines mächtigen Gutsbesitzers. Wir sehen ihn grinsen und spüren, dass er zu allen Schandtaten bereit und in Gesellschaft seiner Offizierskameraden ausgelassen ist. Dass dieser Eindruck nicht täuscht, belegen Augenzeugenberichte und Fotos, die wir aus dieser Zeit von ihm haben. Schauen wir genauer hin, werden wir auch erkennen, dass er noch immer ein etwas jungenhaftes Gesicht mit leicht geröteten, rundlichen und flaumbärtigen Wangen hat. Aber die Konturen eines fast Erwachsenen zeichnen sich bereits ab. Er trägt eine Uniform mit hellblauer Hose und dunkelblauer Jacke, die Haare sind zurückgekämmt. Und seine Augen, diese intensiv blauen Augen, aus denen das Feuer leuchtet, das sein Vater in ihm entfacht hat.
Er hat das Kribbeln und die Spannung in der Luft verspürt, und vermutlich hat ihm der König fast leidgetan. Auch in politischer Hinsicht ist der Sekondeleutnant seines Vaters Sohn. Er hält nichts von den Nationalliberalen. Jahrelang hat der Vater in der Presse gegen das mangelnde sicherheitspolitische Gespür der Nationalliberalen gewettert. Der Vater war strikt dagegen, dass man überhaupt in Erwägung zog, die dänischen Truppen im Süden an dem enormen Danewerk aufzustellen. Diese Verteidigungsstellung ist A.W. Dinesen zufolge viel zu groß für das kleine dänische Heer.
Wie alle dänischen Militärexperten weiß er, dass das Heer noch lange nicht auf den Krieg vorbereitet ist. A.W. Dinesen konnte es nicht fassen, dass die nationalliberale Regierung direkt auf einen Krieg zusteuerte und nicht mehr für den Aufbau der dänischen Verteidigung tat. Und als ob das nicht genug wäre, betritt der ausgefuchste preußische Ministerpräsident die Bühne der großen Politik – Otto von Bismarck. Ihm käme ein Krieg gerade recht. Er und sein König, Wilhelm I., werden von den Liberalen im Landtag unter Druck gesetzt. Ein Krieg würde im Volk königstreuen Patriotismus auslösen, so spekuliert Bismarck. Er erklärt, Preußen und Österreich würden im Namen des Deutschen Bundes gegen Dänemark Krieg führen, sollten die Dänen die November-Verfassung nicht zurückziehen.
Die Briten beschwören die Dänen, auf Bismarcks Forderung einzugehen. Dänemark kann also nicht mit britischer Hilfe rechnen. Wie es heißt, wird es auch keine diplomatische Hilfe seitens Russlands geben wie im vorigen Krieg. Auch die Schweden werden den Dänen nicht beistehen.
Also wird niemand Dänemark helfen. Dann mag kommen, was will. Das ist die Stimmung in Dänemark, besonders unter den Nationalliberalen in der Hauptstadt. Kurz bevor König Frederik VII. am 15. November 1863 auf Schloss Glücksburg an der Infektionskrankheit Wundrose stirbt, fuchtelt er im Fieberwahn wild mit den Armen wie ein Geistergeneral, der seine Schattentruppen über den Wall des Danewerks zu einem traumhaften Sieg über vierzig Millionen Deutsche führt. Sein letzter Traum wird für Dänemark zu einem Albtraum. Während sein mächtiger Körper per Schiff in den Christiansholms Kanal gebracht wird, fährt ein Dampfschiff nach dem anderen in Richtung Süden ab, gefüllt mit hastig ausgehobenen dänischen Truppen.
Truppen, die gegen die Heere zweier Großmächte antreten sollen. Haben die Nationalliberalen denn völlig den Verstand verloren, denken Befürworter des Gesamtstaats wie A.W. Dinesen. Er ist sich völlig darüber im Klaren, dass ein solcher Krieg, dem Dänemark sich plötzlich gegenübersieht, eigentlich nur in die Katastrophe führen kann.
Aber trotz ihres Abscheus vor den Nationalliberalen hat Vater und Sohn jetzt, da es darauf ankommt, der gleiche patriotische Geist erfasst. Und zumindest können sie froh sein, dass ihr neuer König genau wie sie ein Mann des Gesamtstaats ist. Der sechsundfünfzigjährige A.W. Dinesen zieht wie Wilhelms Bruder Laurentzius in den Krieg. Somit sind die drei Männer der Familie auf dem Weg zur Front. Währenddessen müssen sich Alvilde und die sechs Töchter in der Stunde der Gefahr wiederum damit abfinden, allein auf Katholm zurückzubleiben. Leutnant Laurentzius Dinesen soll als Ordonnanzoffizier zum Stab des 6. Infanterieregiments an die Front. A.W. Dinesen ist als freiwilliger Berater des Generalstabs auf dem Weg in die Stadt Schleswig. Er soll unter Dänemarks neuem Oberkommandierenden General dienen, dem zweiundsiebzigjährigen Christian Julius de Meza. Beide Männer sind Konservative und verachten die Nationalliberalen, aber sie sind auch vaterlandsliebende Soldaten. Sie dienen ihrer Regierung in erster Linie mit dem Ziel, dass sich das dänische Heer in dem bevorstehenden Krieg so gut wie möglich behaupten kann.
Während sich der Oberkommandierende General und A.W. Dinesen in Schleswig hinter dem Wall des Danewerks begegnen, ist Wilhelm Dinesen auf dem Weg nach Altona an die Elbe, der südlichsten Grenze der dänischen Monarchie.
Teil 2
Feuertaufe
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