Feuer und Blut. Tom Buk-Swienty

Feuer und Blut - Tom Buk-Swienty


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auch, dass der alte Dinesen nicht nur aus Stahl und Feuer war. Er konnte immer noch Empathie zeigen, und in dieser Situation tat dies seinem Ansehen keinen Abbruch. Der Sohn kam auf der Schule gut zurecht. In seinem Abschlusszeugnis 1861 erzielte er in einer Klasse von vierzehn Schülern die dritthöchste Durchschnittsnote. Seine Leistungen waren allerdings nicht in allen Fächern gleich gut. In Englisch und Geschichte musste er sich mit der mittleren Note »g« für gut begnügen. Dafür bekam er in allen anderen Fächern die zweithöchste Note, ausgenommen in Naturgeschichte und Naturlehre. Hier erhielt er die Höchstnote.

      Trotz seiner offensichtlichen Sensibilität hielt er zur Zufriedenheit des Vaters sicher Kurs auf die zu erwartende nächste Station: die Landkadetten-Akademie.

      10

      Einer der ersten Lehrer, denen der Offiziersanwärter Wilhelm Dinesen auf der Landkadetten-Akademie begegnete, war ein Leutnant, genannt »Kinderschreck«. Er war groß, mager, blond und hatte einen Bart. Ein hässlicher Mann mit schriller Stimme und dem irreführenden Nachnamen Freiesleben. Unter seinem Kommando gab es kein freies Leben für die jungen Kadetten, die in ihren schlichten, dünnen Leinenmonturen einer Schar grauer Mäuse glichen, wenn sie in dem kalten, hallenden Gymnastiksaal vor diesem Mann strammstehen mussten.

      Leutnant Freiesleben war keine Karikatur eines niederträchtigen Kasernenoffiziers, er war der niederträchtige Kasernenoffizier. Sein Lieblingsausdruck war: »Entweder ist man Zugführer, oder man ist ein Dreck.« Meist war man laut Freiesleben ein Dreck.

      Während die Kadetten unter Freiesleben alle möglichen Demütigungen erdulden mussten, schnüffelte Sekondeleutnant A.P. Christensen als Offizier vom Dienst in den Stuben herum. Er überprüfte, ob in den Kommodenschubladen der Kadetten auch wirklich alles akkurat geordnet und korrekt gestapelt war. Gnade Gott dem, der Sachen dort liegen hatte, wo sie laut Vorschriften nicht hingehörten. Der Missetäter musste sich dann in Leutnant Christensens Büro Flüche und Verwünschungen anhören und schlimmstenfalls eine Strafe in der Arrestzelle verbüßen.

      Nein, die Landkadetten-Akademie war nichts für Muttersöhnchen. »Die Ausbildung war hart«, weiß ein Militärhistoriker und Offizier zu berichten. »Eine dünne Montur, armseliges Essen, Leibesübungen verschiedener Art und harte Zucht gewöhnten die künftigen Offiziere an Gehorsam und Widerstandsfähigkeit. Alles wurde auf Befehl ausgeführt. Morgens um 4.45 Uhr (im Winter um 5.45 Uhr) wurden die Kadetten aus den Betten gescheucht. Um 5.15 Uhr rief die Glocke zum Morgengebet und zum Frühstück. Von 5.30 bis 7.45 Uhr sammelte sich das gesamte Korps zur Parade. 8.00 bis 13.00 Uhr Unterricht, 14.00 Uhr Mittagessen, 15.00 bis 18.00 Uhr Nachmittagsunterricht. 18.30 bis 20.00 Uhr Vorbereitung auf den Unterricht des nächsten Tages unter Aufsicht eines Lehrers. 20.30 Uhr Abendgebet und Abendessen, ab 21.30 Uhr Bettruhe. Nur sonntags war es den Kadetten gestattet, das Grundstück der Akademie zu verlassen. Kaffee, Tee und Weißbrot sah man nie. Zum Frühstück und Abendessen gab es Kommissbrot, eine Scheibe Holsteiner Käse, sogenanntes Schillingsbrot und kaltes Wasser. Zum Mittagessen gab es jeden Tag Rindfleisch.«

      Wilhelm Dinesen war gerade siebzehn, als er am 2. Februar 1863 in die Landkadetten-Akademie aufgenommen wurde. Zusammen mit vierundsiebzig weiteren Anwärtern sollte er im Laufe von nur acht Monaten zum Sekondeleutnant der Reserve ausgebildet werden. Dänemark brauchte schnellstens Offiziere.

      In diesen Monaten sollte der Anwärter die Fertigkeiten erlernen, die in Theorie und Praxis erforderlich waren, um eine Abteilung von fünfzig Mann ins Feld führen zu können. Kein Wunder also, dass der Kadett in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett gescheucht wurde. In Rekordzeit musste er Dienst im Feld, Festungsbau, Exerzieren, Exerzierreglement, Artillerie, Waffenkunde, Waffeneinsatz, Garnisons- und Quartierdienst, Militärgesetze, Ausfertigung schriftlicher Berichte und Kartografieren lernen. Der Anwärter sollte in kürzester Zeit lernen, »perfekt als Ausbilder und Führungsperson aufzutreten«.

      In erster Linie sollte der Offiziersanwärter sich jedoch Selbstsicherheit aneignen, um den Respekt der Mannschaften zu gewinnen. Er durfte sich nicht von seinen Männern führen lassen. In einer disziplinierten Einheit entschied immer der Offizier, wann es vorwärtsoder zurückging. Oft taten sich die jungen Offiziersanwärter anfangs schwer, den einfachen Soldaten Befehle zu erteilen, die oft älter waren als sie selbst. Es bedurfte oft unzähliger rauer Trainingseinheiten, bis der Anwärter seine Männer selbstbewusst führen konnte.

      In der ersten Woche auf der Landkadetten-Akademie hatte Wilhelm Dinesen das Exerzieren ohne Gewehr zu erlernen. Die Kadetten lernten Aufstellung nehmen, Ausrichten, Schwenken und Marschieren mit einem Marschtempo von neunzig Schritt pro Minute. Und während Leutnant Freiesleben brüllte und schrie, lernten sie beim Marschieren zu wenden. Bevor die Woche um war, bekam jeder der Anwärter ein Gewehr in die Hand gedrückt. Unter dem üblichen Gebrüll exerzierten sie Gewehr am Fuß, Gewehr in die Hand und Gewehr über.

      Und so ging es die nächsten Wochen weiter. Die Anwärter wurden in der Handhabung des Vorderladergewehrs, im Waffenreinigen und in der Reinigung und Pflege der Ausrüstung ausgebildet und erfuhren einiges über die vielen Arten von Ledermaterial. Bei den Schießübungen kamen von Freiesleben die Kommandos: »Hahn in Ruh ... Gewehr über ... legt an ... absetzen ... anlegen ... Feueeer. Erneut laden ... Präsentiiiert das Gewehr!« Zur Schießausbildung gehörte auch das Erlernen verschiedener Ladehandgriffe. Außerdem sollten sich die Kadetten mit Folgendem vertraut machen: Marschieren mit Gewehr in geschlossener Formation, Rast während des Marsches, Schwenken, Formieren von Reihen und Marschieren in Reih und Glied, aus dem Marschieren in Reihe heraus Formieren zur Linie.

      Vorwääärts, Marsch! Reeechts – um!

      Dazu wurde den Anwärtern das ganze theoretische Wissen – Dienst im Feld, Dienstvorschriften und Gewehrkunde – in die Köpfe gehämmert. Was ist der Unterschied zwischen dem Vorderlader Modell 1848 und dem Sühler-Vorderlader? Woraus besteht das Zubehör des Gewehrs? Wie unterscheidet man es? Zurück zum Exerzierplatz: Manöver in der Funktion als Unteroffiziere auf den Flügeln, Schießen mit fünf Schuss Einzelfeuer, zehn Schuss als Salve in kleineren und größeren Abteilungen sowie Übungen in Gruppenfeuer.

      Am Dienstag, dem 28. April, marschierten die Anwärter durch das Stadttor Østerport vorbei an Ølunds Mølle, Schloss Frederiksberg und dem Aalekistehuset; weiter ging es nach Husum, Hyllegaard, Søborghus, Lygten und zurück zum Østerport, Rast bei Hyllegaard.

      Am Mittwoch, dem 29. April, ging es nach Emdrup, Buddinge, Nybro, Frederiksdal, Sorgenfri, Lyngby und Store Vibenhus, Rast bei Sorgenfri.

      Am Donnerstag, dem 30. April, marschierten sie über Lyngby, Ny Holte Kro, Søllerød, Nærum, Fileværket, vorbei an der Eremitage bis Klampenborg, Rast an der Eremitage.

      Ähnlich verging ein Tag nach dem anderen. Dazu gab es Übungen im Scharfschießen mit Spitzkugel-Patronen, Führung eines Feldpostens, Bestimmung von Entfernungen, Kommandieren eines Trupps, Vermessen von Gelände. Auf dem Plan des theoretischen Unterrichts standen Gefechtslehre, Befestigungsanlagen mit besonderem Schwerpunkt auf passiven Hilfsmitteln wie Sperren, Bau von Unterständen sowie die Rechtspflege in der Armee.

      »Im Theorie-Unterricht saßen etliche Schüler ganz still und mit geschlossenen Augen da. Viele, die vorher keine besondere körperliche Anstrengung gewohnt waren, waren müde von den Übungen am Vormittag. Andere schliefen aus mangelndem Interesse«, erinnert sich ein Anwärter, der wenige Monate nach Dinesen an der Akademie begonnen hatte.

      Aber nicht nur die vielen körperlich anstrengenden Übungen und die langweilige Theorie waren ermüdend. Alle Kadetten hatte man ganz oben unter dem Dach in einem tristen Schlafsaal zusammengepfercht, der weder geheizt noch isoliert war. Den größten Teil des Jahres war es hier enorm kalt. Dagegen konnte es im Sommer unerträglich heiß und stickig sein. Die Anwärter schliefen auf harten Matratzen und mussten sich mit dünnen Wolldecken begnügen, die nachts gewöhnlich verrutschten. Wenn sie dann morgens mehr oder weniger steif gefroren hochgescheucht wurden, gingen sie eilig auf die Stube, die ihre Abteilung zugeteilt bekommen hatte. Es waren spartanisch eingerichtete Räume: zwei lange Holztische, zwei Holzbänke, einige schlichte Kommoden mit unzähligen nummerierten Schubladen für die Anwärter und ein gemeinsamer Waschtisch.

      Etwas kaltes Wasser ins Gesicht, schnell eine Tasse


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