Feuer und Blut. Tom Buk-Swienty

Feuer und Blut - Tom Buk-Swienty


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      Bedenkt man, wie ungern er seinerzeit Zeuge der Zerstörung der algerischen Stadt Constantine gewesen war, liegt folgende Vermutung nahe: Auch nach diesem letzten Krieg hatte er Schwierigkeiten, die glanzvolle Darstellung des Krieges, an der sich die gesamte dänische Bevölkerung zu berauschen schien und zu der er auch selbst beitrug, mit der grausamen Wirklichkeit des Schlachtfelds in Einklang zu bringen. Eine Wirklichkeit, über die niemand sprach, die jedoch vielen zu schaffen machte, die dabeigewesen waren. Vielleicht ist dies die Erklärung für A.W. Dinesens unkontrollierte Wutausbrüche?

      Doch es gab noch etwas ganz anderes. Trotz der vielen Triumphe und Ehrenbezeugungen, die man ihm erwiesen hatte, fühlte er sich übergangen. Viele enge Freunde wurden im Laufe des Krieges Oberst und General, er selbst aber war erst ganz am Schluss befördert worden, und auch nur um einen Rang, zum Major.

      Verbittert schrieb A.W. Dinesen in seinen letzten Lebensjahren rückblickend, dass er sich im dänischen Heer eine Reihe von Feinden gemacht hätte. »Meinen Feinden war es zu verdanken, dass ich während der Feldzüge nicht befördert wurde«, meinte er. Der schroff auftretende Artilleriehauptmann hatte sich in der Tat einige große, mächtige Feinde gemacht, wenn man seinem Bericht Glauben schenken darf: »Sie haben Feinde, Hauptmann Dinesen!« Das waren die Worte seines Freundes Oberst Krabbe, dem er sich anvertraut hatte. »Sie haben Feinde!«

      Was immer es auch war, das an dem sonst so lebenslustigen A.W. Dinesen nagte, besonders eine Person konnte ihn bis aufs Blut reizen: sein zweitältester Sohn Wilhelm. Es war frustrierend für den Patriarchen, dass er ihn nicht erreichen oder dazu bringen konnte, seinen Anordnungen zu gehorchen. Dieser Sohn, der stundenlang im Wald oder ans Meer verschwand und der in seiner ganz eigenen Welt lebte, war für den Gutsbesitzer ein Rätsel. Andererseits wendete er nicht viel Zeit auf, dieses Rätsel zu lösen. Stattdessen setzte er sich für den sofortigen Drill ein. Der Sohn sollte nach dem Bild des Vaters geformt und Offizier werden, und je schneller er seine Ausbildung begann, desto besser. So wurde Wilhelm Dinesen als Neunjähriger von Katholm Gods nach Kopenhagen geschickt. Hier sollte er Mariboes Realschule, eine militärische Vorschule, besuchen.

      9

      Es war eine recht anstrengende Reise für den neunjährigen Wilhelm Dinesen, als er von Katholm nach Kopenhagen aufbrach, um Mariboes Realschule zu besuchen. Er fuhr von Grenaa, von dort gab es inzwischen eine direkte Dampfschiff-Verbindung nach Kopenhagen. Während das Schiff Kurs auf das Kattegat nahm, sah er die vertraute Welt aus Feldern, Wäldern, Büschen, Marschland und Strand achteraus versinken. Grenaa, die kleine Provinzstadt, war eine überschaubare Welt, die er gut kannte. Die Stadt hatte einen hübschen kleinen Marktplatz und bestand aus bescheidenen schiefen Fachwerkhäusern. In den 1850er Jahren lebten hier rund 1000 Einwohner. Die beiden Hafenmolen waren nicht ansehnlich, und die einzigen Gebäude am Hafen waren ein zweistöckiger Speicher und ein knappes Dutzend strohgedeckter Hütten, in denen Fischer und Schiffsleute wohnten.

      Für einen neunjährigen Jungen muss die Reise in die Hauptstadt Dänemarks einfach überwältigend gewesen sein, auch wenn er sie schon mehrere Male zuvor unternommen hatte. Schon bei der Einfahrt in den Hafen wirkte Kopenhagen imposant und unübersichtlich. Um in den inneren Hafen und weiter bis zur Kvæsthusbroen zu gelangen, wo das Schiff anlegte, musste man zunächst das stark befestigte Fort Trekroner passieren. Es genoss einen legendären Ruf seit dem hitzigen Gefecht mit etlichen Kriegsschiffen Lord Nelsons in der Schlacht auf der Reede im Jahr 1801. Hatte man dieses Fort passiert und danach eine weitere bewaffnete Festungsanlage der Stadt, das Kastell, bot sich vom Deck des Schiffs freie Aussicht auf die vielen Türme und Turmspitzen von Kopenhagen.

      Man konnte die Silhouette des Runden Turms erkennen; etwas weiter entfernt die Turmspitze von Schloss Rosenborg; an Steuerbord die Börse mit ihrer berühmten, aus den Schwänzen von vier Drachen gebildeten Turmspitze. Im Osten bei Christianshavn ragte der elegante Turm der Erlöser-Kirche in den Himmel, und in westlicher Richtung drängte sich über die Dächer der Stadt der kantige Turm der Kirche Unserer Lieben Frau.

      Täglich legten an der Anlegestelle Kvæsthusbroen an die fünfzig Dampfschiffe an. In Nyhavn lag an der linken Seite ein Gewirr von kleinen Schiffen, zur rechten Hand gab es Wirtshäuser und Hotels. Was einem in Kopenhagen aber zuallererst auffiel, zumindest wenn man aus der Provinz kam, war das Gewimmel von Menschen.

      Die Hauptstadt war die bei Weitem größte Stadt des Landes. Sie hatte mehr als zehnmal so viele Einwohner wie Odense, damals die zweitgrößte Stadt des Königreichs. Nach europäischem Maßstab war Kopenhagen mit seinen 130 000 Einwohnern keine richtige Metropole. London zählte 1850 bereits mehr als zwei Millionen und Paris knapp zwei Millionen Einwohner. Aber die Bevölkerungsdichte Kopenhagens war extrem hoch, ungeachtet welchen Maßstab man anlegte. Die Stadt war hinter Festungswällen eingezwängt, die aus dem 17. Jahrhundert, der Zeit Christians IV., stammten. Seit damals hatte sich die Bevölkerung der Stadt versechsfacht, ohne dass mehr Wohnraum entstanden war.

      Als Wilhelm Dinesen in die Hauptstadt kam, um hier zu wohnen, war Kopenhagen als Festungsstadt noch immer den Restriktionen der Militärbehörden unterworfen. Um von der Landseite her in die Stadt zu kommen, musste man enge, streng bewachte Tore passieren, die nachts geschlossen wurden. An Markttagen bildeten sich vor den Toren endlose Schlangen vollbeladener Bauernkarren aus dem Umland. Es konnte Stunden dauern, bis die Wagen hineingelassen worden waren, denn zuvor mussten die Bauern erst eine Art Wegegeld entrichten. Zehntausende von Bürgern strömten täglich zu Fuß durch die gefährlich engen Tore. Es kam regelmäßig vor, dass bedauernswerte Passanten unter die Räder eines Fuhrwerks gerieten, das sich zur gleichen Zeit durch die enge Torpassage zwängte.

      Um freie Schussbahn von den Wällen zu gewährleisten, erlaubten die Militärbehörden außerhalb der Stadt lediglich den Bau niedriger und schlichter Gebäude. Und dies auch nur unter der Bedingung, dass solche Häuser sofort und ohne Schadenersatz abgerissen werden konnten, sollten feindliche Truppen auftauchen. Noch in den 1850er Jahren galt dies nicht als völlig unwahrscheinlich. Derartige Bedingungen förderten nicht gerade die Baulust in der unmittelbaren Umgebung der Stadt.

      Am meisten wurde deshalb innerhalb der Wallanlagen gebaut, wo die Stadt mit ihrem Netz von engen Straßen allmählich aus den Nähten zu platzen drohte. Man baute höher und dichter, und in den Hinterhöfen wurden immer mehr schmale Häuser gebaut. Kopenhagens Stadtbild wirkte vielerorts dunkel und finster. Auch die weit verbreitete Armut fiel sofort ins Auge, wenn man wie Dinesen auf dem Seeweg anreiste. Am Toldboden (Zollamt) entlang nahe der Kvæsthusbroen reihten sich etliche schäbige Katen – neun flache Fachwerkbauten, in denen ungefähr einhundertzwanzig Familien hausten.

      In der Hauptstadt herrschte so großer Wohnungsmangel, dass alles bewohnt war, von tristen Dachkammern bis zu den feuchtesten, schmutzigsten Kellerräumen. Bestürzt ließen die Behörden verlautbaren, dass die vermieteten Zimmer bisweilen dermaßen mit Mietern vollgestopft waren, dass diese in sitzender Stellung schlafen mussten.

      Hinzu kam, dass nicht nur Menschen in den Häusern von Kopenhagen wohnten. Auch Viehhaltung war innerhalb der Stadt noch üblich. Es war kein ungewöhnliches Bild, wenn eine Kuh durch die Haustür und das Treppenhaus bis hinauf in den ersten Stock geführt wurde. Außer Kühen gab es Tausende von Pferden, und durch die Straßen streunten zahlreiche Hunde. Dazu kamen rund 1000 Schweine, die in den Hinterhöfen gehalten wurden, auch wenn dies verboten war. Wie in den meisten Städten zu dieser Zeit waren Ratten auch in Kopenhagen eine wahre Plage. Die Tiere tummelten sich in den offenen schmutzigen Rinnsteinen der Straßen und Gassen.

      Nach einer furchtbaren Choleraepidemie im Jahre 1853, die 5000 Menschenleben forderte, begannen die Militärbehörden sich dem wachsenden Druck zu beugen. 1857 wurden die verhassten Tore abgerissen, und die Stadt konnte sich jetzt über die Wälle hinaus ausbreiten.

      Dieser Ausdehnungsprozess begann zu der Zeit, als Wilhelm Dinesen in Kopenhagen ankam. Die Stadt, die er in seiner Kindheit und frühen Jugend kennenlernte, war noch hinter den Wällen zusammengepfercht. Das Menschengewimmel und nicht zuletzt der Gestank des Abfalls und der Fäkalien müssen einen befremdlichen und abstoßenden Eindruck auf ihn gemacht haben. Er war die frische Luft des Meeres, der Marsch und der Wälder gewohnt. Weil der junge Dinesen sich allerdings nur in Kreisen der Oberschicht bewegte, hatte er die schäbigsten Viertel der Stadt


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